Von der „wahnhaften Umbildung der Wirklichkeit“

Dankesrede anlässlich der Verleihung des Theoder-Lessing-Preises am 14. Juni 2022 in Hannover

Von Matthias Küntzel

Hannover, 14. Juni 2022

HINWEIS: Im Anschluss an meine Dankesrede finden Sie die Laudatio, die Prof. Jeffrey Herf anlässlich der Preisverleihung hielt.

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freundinnen und Freunde,

ich bedanke mich bei Ruth Schwanke, Kay Schweigmann-Greve und der DIG Hannover für diesen Preis. Ich bedanke mich bei Anetta Kahane und Jeffrey Herf für die guten Worte über meine Arbeit und bei Regina Chernychko für die wunderbare musikalische Umrahmung. Ich bedanke mich bei meiner super-strengen Lektorin und geliebten Frau für das Leben, dass wir zusammen führen können, ich bedanke mich bei meinen Verwandten und langjährigen Kolleginnen und Kollegen, die heute nach Hannover reisten. Und ich bedanke mich bei wirklich jeder und jedem für die Ehre, die Sie mir mit Ihrer Teilnahme heute Abend erweisen.

Theodor Lessing!

Eins haben er und ich immerhin gemeinsam: In der Schule blieben wir beide sitzen.

Unabhängig davon haben mich zwei seiner Eigenarten besonders fasziniert. Da ist erstens die Art und Weise, wie er Sprache benutzt. Wenn er zum Beispiel von der “eingekäfigten Natur” seines Vaters spricht, der “lieber im Dorfe der erste Mann als in der Weltstadt der zweite sein wollte”, dann entsteht vor meinen Augen ein Bild, dass das psychologische Elend dieses Menschen gleich mit porträtiert. Oder wenn er über einen seiner Lehrer schreibt: “Er kroch … vor Erfolg, Hochgeburt und Reichtum” – dann erfahre ich mehr, als die Worte für sich genommen aussagen. Ich möchte Ihnen, Sie merken es, Lust machen, Theodor Lessing zu lesen.

Zweitens dann seine Haltung: Er war kämpferischer Philosoph und Psychologe, politischer Schriftsteller und Feuilletonist, Vorkämpfer für die Frauenrechte und den Zionismus, Privatdozent und Satiriker, Jude und Sozialist. Er hasste Elitedenken und Opportunismus bei den gebildeten Ständen: Er schrieb – wie immer leicht übertreibend:

“Spieler, Abenteurer, Landstreicher, Tramps, Entgleiste, Irrsinnige, alle waren mir verwandt, aber nicht die Professoren und nicht die Literaten.”

Er fühlte sich mit einfachen Menschen tatsächlich verbunden: So hielt er im Wartesaal des Dresdener Hauptbahnhofs Vorträge über Philosophie und gründete die Hannoveraner Volkshochschule, in der er als Pädagoge tätig war.

Sein unbedingter Hang zur Wahrheit und seine unbändige Wut über das, was er mit dem I. Weltkrieg erlebte, machten ihn zum Hassobjekt deutschnationaler Kreise.

Bereits 1925 wird er an seiner eigenen Universität von Tausenden Studenten und vielen Professoren gejagt, weil er angeblich Hindenburg beleidigt habe. 1926 geht es soweit, dass 700 mit Stöcken bewaffnete Korpsstudenten das Treppenhaus und Hauptportal der TU besetzten und unter “Juden raus! Lessing raus!”- Rufen den Professor und dessen Frau bedrohen. Er wird angerempelt und getreten – aus dem lokalen Eklat wird ein nationaler Skandal mit einer Anfrage im Preußischen Landtag, wie man Lessing von der Uni entfernen kann.

Er lässt sich jedoch nicht einschüchtern. Er riskiert lieber das gesellschaftliche Abseits, als das, was er als Wahrheit empfindet, zurück zu nehmen. “Tausend Male dröhnte das ,Jude, Jude’ als Schimpf um meine Ohren”, schreibt er in seiner Autobiographie, “und bedrohten, ja schlugen hassende Fäuste.”

Wie die meisten von Ihnen wissen, war es im August 1933 soweit: Lessing wurde 61-jährig von sudetendeutschen Nazis auf tschechischem Boden erschossen.

Es ist richtig und ich danke dafür, dass die Stadt Hannover und besonders die DIG Hannover die Erinnerung an Theodor Lessing und damit zugleich die Erinnerung an die todbringende Konsequenz des Antisemitismus, wachhält.

Das “9/11” meiner Jugend

Von dieser todbringenden Konsequenz des Antisemitismus hatte ich keine Ahnung, als ich 1972 das “9/11” meiner Jugend erlebte: Im Sommer 1972, keine 40 Jahre nach dem Mord an Theodor Lessing, griffen anlässlich der Olympiade in München palästinensische Terroristen das israelische Olympiateam an: Sie nahmen 11 israelische Spitzensportler als Geiseln und töteten sie.

Ich war gerade 17, war furchtbar schockiert und suchte nach Erklärungen. Terror ist schlimm, aber er muss – so dachte ich damals – eine soziale Ursache haben. Und diese Ursache – so dachten damals viele – konnte eigentlich nur die Politik Israels sein. Also schloss und passte ich mich der 1968er-Bewegung an und wurde Mitglied einer antizionistischen Organisation.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich wusste damals noch nicht, dass der Antisemitismus unsere Alltagslogik von Ursache und Wirkung außer Kraft setzt. Und das ist auch schwer zu begreifen. Denn wir leben in einer Welt, von der wir reflexhaft glauben, dass es für alles, was geschieht, einen plausiblen Grund geben müsse. Doch beim Antisemitismus ist es anders. Wir müssen uns immer wieder klarmachen, dass es für die Ermordung der sechs Millionen Juden nicht die geringste soziale oder sonst wie plausible Ursache gab.

Die Nazis glaubten ihrem eigenen Wahn, wonach Juden wie Theodor Lessing für alles Leid und Elend der Welt verantwortlich seien, weshalb nur ihre vollständige Ermordung die Welt von Leid und Elend erretten könne. Hier waren schierer Hass und die bösartigste aller Ideologien am Werk, die quasi aus sich selbst heraus Menschen zu Mördern machte.

1972 aber verharrten wir in Blauäugigkeit. Wir unterstellten selbst noch den Terroristen, dass sie eigentlich etwas Gutes wollten und aus einer Art Notwehr handelten. Sigmund Freud sprach von einer “wahnhaften Umbildung der Wirklichkeit”. Und ich gebe zu: Es ist erheblich bequemer, sich in derartige Illusionen zu flüchten, als das Böse in den Blick zu nehmen.

Dies erklärt vielleicht auch unsere jahrelange Naivität im Umgang mit Wladimir Putin. Man wollte dessen antiliberale Eurasien-Ideologie nicht wahrhaben und kam ihm nach dem aggressiven Krim-Überfall sogar noch entgegen, um ihn zu beschwichtigen. Man praktizierte Appeasement. “Ein Appeaser”, erklärte Winston Churchill, “ist einer, der das Krokodil füttert, in der Hoffnung, dass es ihn zuletzt frisst.”

Es waren jüdische amerikanische Intellektuelle wie Moishe Postone, Andrej Markovits, Daniel Goldhagen und Jeffrey Herf, die mir halfen, die Scheuklappen vor meinen Augen zu entfernen und die Besonderheit des Antisemitismus zu erkennen.

Geschichte des Holocaust als Schul-Pflichtfach

Ich erlebte also am eigenen Leibe, wie wichtig die Befassung mit dem Holocaust für das eigene Urteilsvermögen ist: Es geht um das Gedenken an die Ermordeten, es geht aber auch und besonders um unseren Blick auf die Gesellschaft und die Welt; um einen Blick, der vor dem Bösen nicht die Augen verschließt, sondern es als Tatsache wahrnimmt und im besten Fall bekämpft.

Wer den Horror des tatsächlich stattgefundenen Holocaust nicht wahrnehmen will, wird auch die Spezifik des Antisemitismus nicht erkennen können. Wer die Spezifik des Antisemitismus nicht erkennt, wird schwerlich eine Sensibilität für die Notwendigkeit Israels als Selbstschutzinstanz der Juden entwickeln.

Deshalb trete ich dafür ein, dass in unseren Schulen und Hochschulen die “Holocaust-Awareness” einen höheren Stellenwert erhält. Rumänien hat es uns vorgemacht: Hier wurde vor einem halben Jahr ein Schulfach mit dem Titel “Die Geschichte des Holocaust und des jüdischen Volkes” für sämtliche Sekundarschulen als Pflichtunterricht eingeführt. Beide Kammern des rumänischen Parlaments fassten mit großen Mehrheiten diesen Beschluss. (György Polgar, Schoa als Pflichtfach, Jüdische Allgemeine, 26. Januar 2022)

Wir sollten darum kämpfen, dass dieses Beispiel hierzulande Schule macht, dass ein Schulfach mit solcher Bezeichnung – “Die Geschichte des Holocaust und des jüdischen Volkes” – für unsere 8. und 9. Klassen flächendeckend eingeführt wird.

Djihad und Judenhass

Knapp 30 Jahre nach dem Olympiaattentat fand 2001 der Angriff auf das World Trade Center statt. Diesmal wurden nicht 11 Unschuldige ermordet, sondern fast 3.000.

Doch auch 2001 beging ein großer Teil der Bevölkerung und besonders des linken Spektrums den Fehler, den ich 1972 gemacht hatte. Sie interessierten sich nicht für die Ideologie, die diesem Anschlag zugrunde lag, sondern folgten dem simplen Schema von Ursache und Wirkung; waren also überzeugt, dass der al-Qaida-Anschlag die Antwort auf eine spezifische Politik Washingtons war.

Es war nicht einfach nur Ignoranz, es war aktive Ignoranz: Man wollte einfach nicht sehen, dass sich die Zerstörungswut der Islamisten generell gegen Juden und die Existenz der liberalen Demokratien richtet.

Auch deshalb wurde mein Buch “Jihad und Judenhass”, das sich mit den Nazi-Wurzeln von 9/11 beschäftigt, von unseren Mainstream-Medien abgelehnt. Zum Beispiel schrieb die “Frankfurter Rundschau”, ich würde einer “fixen Idee” aufsitzen, würde “vereinfachen”, “verzerren” und “dämonisieren”. (Alexander Flores, Propaganda in Palästina, in: FR, 6.4.2004)

So war es in Deutschland lediglich eine bestimmte Fraktion der deutsche Linken – jene, die sich vorübergehend unter dem missratenen Etikett “antideutsch” sammelte – die mein Buch begrüßte, während später erst dessen englische Übersetzung auch in großen Zeitungen, wie der New York Times, Anerkennung fand und eine wirklich relevante internationale Debatte über die Ursprünge des Antisemitismus im Nahen Osten auslöste.

Und heute? Sind inzwischen die Scheuklappen abgelegt, sind Ignoranz und Arglosigkeit überwunden?

Gewiss hat es während der letzten 20 Jahre auch Fortschritte gegeben. Vor 20 Jahren unterstellte man mir antimuslimischen Rassismus, weil ich über den Zusammenhang von Islamismus und Antisemitismus schrieb. Heute hat das Bundesamt für Verfassungsschutz meinen Standpunkt stillschweigend übernommen und eine Broschüre unter dem Titel “Antisemitismus im Islamismus” veröffentlicht. Immerhin! Allerdings geht es hier allein um den islamistischen Antisemitismus in Deutschland.

Die Juden haben Schuld?

Ganz anders sieht es aus, wenn wir an den Judenhass in den Ländern rings um Israel denken. Oder wenn wir zum Beispiel an das Regime in Teheran denken, das letzte Woche erneut damit drohte, Tel Aviv und Haifa dem Erdboden gleichzumachen. Warum schreckt dies hierzulande kaum jemanden auf?

Weil Berlin, so meine Vermutung, im großen Maßstab eben den Fehler wiederholt, der mir 1972 anlässlich des Olympia-Attentats unterlief: Man will die ideologischen Wurzeln, die das Verhalten der Hisbollah, der Hamas und der Machthaber in Teheran begründen, nicht ernsthaft zur Kenntnis nehmen. Man folgt stattdessen erneut und reflexhaft der eingefleischten Logik von Ursache und Wirkung, indem man Israels Politik für den islamistischen Israel- und Judenhass verantwortlich macht.

Diese Form der Verharmlosung wird durch Untersuchungen von Jeffrey Herf und anderen Kolleginnen und Kollegen ad absurdum geführt, Untersuchungen, von denen man in Deutschland bislang jedoch wenig wissen will. Wie kann es sein, dass Herfs Studie über “Nazi Propagada for the Arab World” – vor 13 Jahren veröffentlicht! – auf Französisch, Spanisch, Italienisch, ja selbst auf Japanisch gelesen werden kann, aber nicht auf Deutsch? Wie kann es sein, dass uns die zuständigen deutschen Forschungszentren – das Zentrum für Antisemitismusforschung und das Zentrum Moderner Orient, beide aus öffentlichen Geldern finanziert – bis heute die kalte Schulter zeigen und zum Beispiel Prof. Herf, der sich seit 20 Jahren mit dem Antisemitismus in Deutschland und dem Nahen Osten befasst, nicht ein einziges Mal eingeladen haben?

Ist es vielleicht möglich, dass man an einer fest verwurzelten Annahme – der Idee nämlich, dass allein Israel, also Juden, für den Antisemitismus in der Region verantwortlich seien, um jeden Preis festhalten will? Diese Annahme besagt, dass der Antisemitismus in der arabisch-islamischen Welt nicht wirklich ernst zu nehmen sei. Sie könnte einer der maßgeblichen Gründe sein, warum sich die deutsche und europäische Nahostpolitik bis heute weigert, den Judenhass der iranischen Führer und deren Hamas- und Hisbollah-Vasallen angemessen zu bekämpfen.

Niemand ist so blind wie derjenige, der nicht sehen will. Man will die ideologischen Wurzeln des Antisemitismus im Nahen Osten, die sich von denen der Nazis nur wenig unterscheiden, nicht sehen. Man übt sich in aktiver Ignoranz und baut an einem weiteren Kartenhaus der Illusionen und Selbsttäuschungen.

Ich meine, dass wir das nicht einfach hinnehmen dürfen. Denn auf längere Sicht könnten die Gefahren, die von schiitischen und anderen islamistischen Fanatikern ausgehen, noch weitaus horrender sein, als der entsetzliche Krieg gegen die ukrainische Zivilbevölkerung, den Russlands derzeit führt. Deshalb: Ja zu mehr Holocaust-Awareness; nein zur aktiven Ignoranz, wenn es um den arabischen und schiitischen Antisemitismus geht – das sind die beiden Anliegen, die ich Ihnen mit auf den Weg geben will.

Und ich verrate Ihnen zu guter Letzt noch eine zweite Gemeinsamkeit von Theodor Lessing und mir: Theodor Lessing folgte ebenso wie der heutige Laureat der Devise: “Lieber möge die ganze Welt mir widersprechen, als dass ich selbst nicht mit mir zusammenstimmte.” Ich danke Ihnen.

JEFFREY HERF, DISTINGUISHED PROFESSOR, UNIVERSITY OF MARYLAND, USA

Laudatio für Matthias Küntzel anlässlich der Verleihung des Theodor-Lessing-Preises der Deutschen-Israelischen Gesellschaft am 14. Juni 2022 in Hannover, Deutschland

Lieber Doktor Küntzel, lieber Matthias, liebe Gäste,

es ist mir ein grosse Freude, heute über meinen Freund und Kollegen Matthias Küntzel zu sprechen.

Mit der Verleihung des Theodor-Lessing-Preises 2022 an Matthias Küntzel ehrt die Deutsch-Israelische Gesellschaft einen Gelehrten und einen Intellektuellen, der sowohl an die Gelehrsamkeit als auch an das politische Engagement des Namensgebers erinnert, aber auch an jene, die sich mit der Aufarbeitung der Nazivergangenheit beschäftigt haben.

Die Quantität und Qualität der Arbeit von Matthias ist beeindruckend. Neben anderen Büchern umfasst sie fünf Einzelautorenmonographien: Jihad und Judenhass: Über die neuen antijüdischen Krieg (2002); Islamischer Antisemitismus und deutsche Politik: “Heimliches Einverständnis” (2007); Die Deutschen und der Iran: Geschichte und Gegenwart einer verhängnisvollen Freundschaft (2009); Deutschland, Iran und die Bombe. Eine Entgegnung – auch auf Günter Grass (2012); und Nazis und der Nahe Osten: Wie der islamische Antisemitismus entstand (2019). Ich werde mich auf Jihad und Judenhass und Nazis und der Nahe Osten konzentrieren.

Küntzels kennzeichnender und wichtiger Beitrag dazu ist die Erweiterung dieser Perspektive auf die Auseinandersetzung mit den Nachwirkungen des Nationalsozialismus im Nahen Osten. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 und dem Prozess gegen die Zelle in Hamburg, aus der die Terroristen kamen, spitzte sich Küntzels Umdenken zu.

Jihad und Judenhass war das wichtigste Werk, das in Europa oder in den Vereinigten Staaten veröffentlicht wurde, um die Aufmerksamkeit einer kleinen, aber engagierten intellektuellen Öffentlichkeit auf die Verbindungen zwischen der Nazi-Vergangenheit und der islamistischen Gegenwart zu lenken.

Der Titel war eine doppelte Provokation. Erstens widersprach er durch den Terminus “Judenhass” Meinungen, die behaupten, der Terror sei “nur” auf die Spitze getriebener Antizionismus oder gar Antiimperialismus gewesen. Der Begriff deutet außerdem an, dass der Hass die treibende Kraft, die unabhängige Variable war, nicht die mehr oder weniger verständliche Antwort auf die angeblichen Sünden Israels.

Zweitens, ebenso beleidigend gegenüber der akademischen guten Gesellschaft, bezog er sich auf “den neuen antijüdischen Krieg”, nicht den neuen Krieg gegen Israel oder den Zionismus, sondern einen Krieg gegen die Juden.

Angesichts des 11. September 2001 und der Terroranschläge auf israelische Zivilisten schrieb er:

“Der ‘aufgeklärte’ Geist will von dieser Begeisterung” der “stolze(n) und begeisterte(n) Männer, die geradezu erpicht darauf sind, sich in die Luft zu sprengen und möglichst viele Juden mit in den Tod zu reißen… nichts sehen und nichts wissen, sondern besteht darauf, daß Hoffnungslosigkeit und Verzweifelung die Mörder motivieren. Die Frage, warum nirgendwo sonst Menschen aus ihrer verzweifelten Lage die Konsequenz ziehen, sich in vollbesetzten Bussen oder Restaurants in die Luft zu sprengen, kommt ihm nicht in Sinn: Alle Hinweise und Fragen, die dem unbedingten Verlangen nach Selbstberuhigung widersprechen, werden unterdrückt.”

Der Unterschied zwischen Küntzel und vielen anderen Beobachtern bestand nicht darin, dass er gut versteckte Texte entdeckte, von denen die anderen nichts wussten. Vielmehr war er bereit, öffentlich zu sagen und zu schreiben, was alle wussten, aber ungern anerkennen wollten, nämlich dass die islamisch inspirierten Terroristen bei vielen Gelegenheiten stolz erklärten, dass sie tatsächlich das Judentum, die Juden und infolgedessen den jüdischen Staat Israel hassen.

Djihad und Judenhass ging

“zweitens davon aus, dass eine sich als revolutionär verstehende Massenbewegung durchaus faschistischen Charakters sein kann, während zahlreiche Forscher der ‘Faszination’ des Islamismus insofern erliegen, als sie von seiner Massenhaftigkeit auf sein Progressivität und seine historische Berechtigung glauben schließen zu dürfen. Das Beispiel des Nationalsozialismus zeigt jedoch, daß auch eine auf den ersten Blick antikapitalistische Revolutionsbewegung gleichwohl antisemitisch und faschistisch orientiert sein kann.”

Einen Monat nach den Anschlägen vom 11. September schrieb ich “Was ist alt und was ist neu am Terror des islamischen Fundamentalismus” (What is old and what is new in the terrorism of Islamic fundamentalism?). Es wurde in der ehrwürdigen – aber nicht mehr existierenden – amerikanischen Vierteljahresschrift Partisan Review veröffentlicht. Als ich also Küntzels Reflexionen über Islamismus, Faschismus und Massenbewegungen las, hatte ich das Gefühl, einen intellektuellen und wissenschaftlichen Kollegen, mehr noch, einen Seelenverwandten gefunden zu haben.

Küntzel schrieb, dass:

“der Aufschwung des Faschismus und der Aufstieg des Islamismus in dieselbe Zeit fielen. Dies war kein Zufall … so unterschiedlich die faschistische und islamistische Antwort auch ausfielen, stimmten beide Bewegungen in einem Punkt überein: Hier wie dort wurden volksgemeinschaftlich Identität und umma-Gefühl durch Kriegs- und Pogrommobilisierung gegen die Juden formiert.”

In seiner Erörterung des Falls Haj Amin el-Husseini, seiner Verbindungen zur Moslembruderschaft und der Rolle beider bei der Auslösung des Krieges von 1947-1948 gegen die Juden in Palästina, begann Küntzel, die kausalen Zusammenhänge zwischen Nazismus und Islamismus, dem Krieg von 1948 und dem Wiederaufleben des islamistischen Antisemitismus mit der Khomeni-Diktatur im Iran 1979 und der Hamas-Charta 1988 herauszuarbeiten.

Doch in der intellektuellen und politischen Atmosphäre der Monate und Jahre nach den Anschlägen vom 11. September blieb Küntzel in der Minderheit. Anstatt den Verbindungen zwischen den intellektuellen Entwicklungen der 1940er Jahre und den Selbstmordattentaten auf Israel Aufmerksamkeit zu schenken, entstand eine globale Linke, die die kausalen Pfeile umkehrte und die den gegen die Israelis gerichteten Religionskrieg vielmehr als Folge des Vorgehens Israels selbst bezeichnete.

Küntzel entgegnete, indem er zunächst darauf hinwies, dass Israel ein Einwanderungsland sei, das sich überhaupt nicht an rassischen Kriterien orientiere, und dass die Ablehnung des zionistischen Projekts durch die Palästina-Organisationen eine Identitätspolitik gegenüber dem “palästinensischen Volk” beschwöre, die an Themen von Nationalismus und völkischer Ideologie in der neueren deutschen Geschichte erinnerte.

Der Vorwurf des Rassismus und der Ablehnung des Andersseins gegenüber Israel verkehrte, seiner Meinung nach, die tatsächlichen Realitäten in ihr Gegenteil! Der Rassismus von Husseini, Al-Banna, der Moslembrüder, der Hamas und der Hisbollah sowie deren antisemitische Leidenschaft, den jüdischen Staat zu zerstören wurden ignoriert und in Umkehr des Täter-Opfer-Verhältnisses die Aggression den Juden zugeschrieben.

Auch verwies Küntzel auf die engen Zusammenhänge zwischen den Anfängen des Kalten Krieges und der Amnestie und Milde gegenüber Ex-Nazis, die durch Beteiligung an der Politik des Westens zur Eindämmung des Kommunismus eine neue Aufgabe fanden. Diese Verbindungen waren ein vertrautes Thema des westdeutschen intellektuellen und politischen Lebens. Und zu Recht!

Doch Küntzel, wie Wiesenthal und wie die Zionisten und ihre Unterstützer in den Vereinigten Staaten von 1945 bis 1948, untersuchte wie die Prioritäten des Kalten Krieges es dem Nazikollaborateur und Vater der palästinensischen Nationalbewegung Haj Amin el-Husseini ermöglichten, einem Prozess wegen Kriegsverbrechen zu entgehen, mit dem andere NS-Propagandisten konfrontiert waren.

Im Juni 2007 habe ich einige dieser Punkte im Vorwort zur englischen Ausgabe von Jihad und Judenhass benannt. Ich schrieb damals:

“Jihad und Judenhass sollte Historiker des Nationalsozialismus dazu anregen, ihren vergleichenden, räumlichen und zeitlichen Horizont in Bezug auf die Nachwirkungen des Nationalsozialismus zu erweitern, und Studenten des Islam und des Nahen Ostens ermutigen, sich weiter mit diesem Kapitel europäischen Einflusses zu befassen warum sich der radikale Islam wann und wo entwickelt hat.”

Als ich diese Zeilen schrieb, sendete ich eine Botschaft an mich selbst. In den darauffolgenden Sommermonaten 2007 fand ich bei meiner Arbeit im United States National Archives in College Park “Axis Broadcasts in Arabic”, die wörtliche englische Übersetzung der arabischsprachigen Sendungen Nazi-Deutschlands in den Nahen Osten. Sie befanden sich in den Akten der US-Botschaft in Kairo, wo Botschafter Alexander Kirk ein Team zusammengestellt hatte, das die Sendungen auf Band aufzeichnete und dann übersetzte.

Diese Dokumente bildeten den Kern meines 2009 erschienenen Buches Nazi Propaganda for the Arab World (Nazi-Propaganda für die arabische Welt). Also bin ich Matthias’ Jihad und Judenhass zu Dank verpflichtet, daß er mich in die richtige Richtung gewiesen hat.

Jetzt konnte ich den Gefallen erwidern, indem ich die gefundenen Dokumente an Matthias schickte. Es war mir eine große Freude, dass er sich auf meine Recherchen und Interpretationen stützte, als er 2019 Nazis und der Nahe Osten: Wie der Islamische Antisemitismus entstand veröffentlichte. Unsere Zusammenarbeit ging nun in beide Richtungen. So wie er den Weg zu der Nazi-Propaganda für die arabische Welt aufgezeigt hatte, so bot meine Arbeit nun einen Teil der Grundlage für seine wichtigen Argumente und Interpretationen.

Ich möchte mich auf zwei Beiträge dieses wichtigen Werkes konzentrieren, erstens auf Küntzels These zu den Ursachen des arabischen Krieges von 1948 und zweitens auf seine Klärung und Definition des Begriffs “islamischer Antisemitismus”. Beide Hypothesen bauen auf Jihad und Judenhass auf, ziehen aber weitere Ideen heran, die er bereits in dieser früheren Arbeit zu entwickeln begann.

Küntzel formulierte die erste These folgendermaßen:

“Der Langzeiteffekt der jahrelangen antisemitischen Nazipropaganda war einer der maßgeblichen Faktoren, die im Mai 1948 den Krieg arabischer Staaten gegen Israel auslösten.”

Als er die wichtigsten Entscheidungsträger und ihre Ideen untersuchte, fand er eine ideologische

“Verbindung zwischen dem Nazi-Krieg gegen die Juden und dem arabischen Krieg gegen Israel, so dass der letztere als eine Art Nachbeben der großen Erschütterung von 1939 bis 1945 interpretiert werden kann. In beiden hatte Fälle der islamische Antisemitismus, besonders die projektive Unterstellung, dass das Judentum den Islam auslöschen wolle, eine zentrale Rolle in der Region gespielt.”

In Nazi Propaganda for the Arab World (Nazi-Propaganda für die arabische Welt) beschrieb ich die nationalsozialistische arabische Propaganda als das Ergebnis einer kulturellen Verschmelzung von Nationalsozialismus und Islamismus in Berlin. Dies war ein Prozess, der Beiträge beider Strömungen aufnahm. In Nazis und der Nahe Osten untersucht Küntzel diese kulturelle Verschmelzung, die ein spezifisches Phänomen hervorgebracht hat, das er als “islamischen Antisemitismus” bezeichnet und definiert.

Sein sorgfältige Lektüre eines Schlüsseltextes, des Essays von Haj Amin al-Husseinis “Islam and the Jews” von 1937, zeigt, dass Husseini, der Gründer der Synthese, den europäischen Antisemitismus und seine Verschwörungstheorien mit einer radikalisierten Lesart der islamischen Kerntexte verband. Küntzel schrieb:

“Die Bezeichnung ,islamischer Antisemitismus’ kennzeichnet eine spezifische Ausprägung des Antisemitismus, deren Verbreitung das islamistische Lager weit übersteigt und die das religiöse Potenzial der Judenfeindschaft im Islam mobilisiert.”

Küntzels Argument ist, dass die charakteristischen Merkmale des “islamischen Antisemitismus” und seine besonderen Projektionen und Verschwörungstheorien, die sich auf die Juden konzentrierten, und die angebliche Bedrohung des Islam durch die Juden, von denen Husseini und Qutb sprachen, Massenanklang fanden, weil sie sich auf berühmte und bekannte Texte im Koran und in den islamischen Kommentaren darüber und über das Leben Mohammeds stützten.

Er appelliert, die Auswirkungen spezifisch religiöser Leidenschaften auf die Politik ernst zu nehmen. Küntzels Beschreibung des islamischen Antisemitismus setzt eine moderne, säkulare Sensibilität voraus, die das Potenzial der Religion anerkennt, fanatisch zu werden und Gewalt und Mord zu fördern. Sein Arbeit beunruhigt nicht nur diejenigen, die Religionskritik nicht mögen, sondern auch jene, die die Realität verzerren, um die Hamas oder die Islamische Republik Iran als fortschrittlichen oder sogar linken Faktor zu bezeichnen. Das Besondere an diesen Diskussionen ist, dass es so vielen Beobachtern, die sich selbst als liberal oder sogar links verstehen, so schwer fällt, den Beitrag anzuerkennen, den eine reaktionäre Interpretation des Islams zur modernen Politik geleistet hat.

Mythen, die jahrelang gepflegt wurden, werden jedoch nicht zusammenbrechen, nur weil mein lieber Freund und Kollege, und eine Sammlung von Historiker/innen wichtige Bücher dagegen veröffentlicht hat. Dennoch, nach Jihad und Judenhass und nach Nazis und der Nahe Osten, ist die Flucht vor dem “unerschrockenen Blick” gerade für eine junge Generation, die noch nicht mit diesen Unwahrheiten und Illusionen sozialisiert ist, schwieriger geworden.

Die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit bedeutet nicht nur, dass wir die Wahrheit über die Vergangenheit sagen, sondern dass wir uns auch auf einen moralischen Imperativ beziehen, alles zu tun, um dafür zu sorgen, dass ein Holocaust nie wieder vorkommt. Wir haben uns heute hier versammelt, um unseren Freund und Kollegen zu ehren, der sich so sehr für dieses Prinzip eingesetzt hat: Eingesetzt, in Bezug auf unsere Kenntnis dessen, was geschehen ist und der sich auf dieser Grundlage einsetzt für das gegenwärtige und zukünftige Wohlergehen Israels.

Die Deutsch-Israelische Gesellschaft hat sich bewusst entschieden, deine großartigen Verdienste der letzten Jahre mit dem diesjährigen Theodor-Lessing-Preis zu würdigen. Es ist mir eine Ehre, das Privileg und die Freude zu haben, Dir und Rosi zu dieser wohlverdienten Ehre zu gratulieren.

Bild: Theodor Lessing in einer Aufnahme von Will Burgdorf · Autor: Will Burgdorf · Lizenz: Public Domain