Iran: Fünf Atombomben für 100 Millionen Dollar

Dieser Artikel listet erstmals in deutscher Sprache all die Beweise für ein heimliches – 2003 keineswegs beendetes – Atomwaffenprogramm Teherans auf; Beweise, die auf Dokumenten des „Nukleararchivs“ in Teheran basieren

Ghadr-110

Von Matthias Küntzel

Mena-Watch.com, Wien, 15. und 17. Mai 2020

TEIL I: TEHERANS GEHEIME BOMBENFORSCHUNG PROVOZIERT DEN WIDERSTAND DER IAEO

Im März 2020 konzentrierte sich alle Aufmerksamkeit auf das Corona-Virus. Auch deshalb blieb der Iran-Alarm, den die IAEA auslöste, unbemerkt. Die in Wien ansässige Internationale Atomenergie-Organisation ist eine Behörde der Vereinten Nationen, deren Kontrolleure durch Vor-Ort-Inspektionen überprüfen, ob sich die Unterzeichnerstaaten des Atomwaffensperrvertrags (NPT = Non-Proliferation Treaty) an dessen Bestimmungen halten.

Nur wenn sich die IAEO von der Nicht-Existenz undeklarierter Atomprojekte überzeugen kann, gilt ein Staat als „sauber“. In der Regel stellt die Agentur in langatmigen Routineberichten dieses Gütesiegel aus.

Doch dann die Überraschung! In ihrem Bericht NPT Safeguards Agreement with the Islamic Republic kam die Wiener Agentur Anfang März zu dem Schluss, dass sie im Falle Irans „die Nicht-Existenz undeklarierter Nuklearmaterialien und –aktivitäten“ nicht bestätigen kann.[1]

In der Tat hatte Teheran den Inspekteuren den Zugang zu zwei verdächtigen Anlagen und die Diskussion über nicht-deklarierte Substanzen verweigert. Deshalb äußerte die UN-Behörde den Verdacht, es könne neben den öffentlichen iranischen Atomaktivitäten ein geheimes Atomprogramm geben.

Riesiges Fragezeichen

Dieser Verdacht trifft den Atomdeal (JCPOA = Joint Comprehensive Plan Of Action), den die Bundesregierung vehement unterstützt, in seinem Kern. Denn dieser Deal zielt darauf ab, die breakout-time, also den Zeitraum, den der Iran für die Gewinnung von Waffenuran für den Bau einer Bombe benötigt, auf mindestens ein Jahr zu strecken. All die dafür angestellten Berechnungen basieren jedoch auf der Hoffnung, dass es keine verdeckten Aktivitäten gibt. Hinter dieser Annahme hat der IAEO-Bericht nun ein riesiges Fragezeichen gesetzt.

Rafael Mariano Grossi, der das Amt des IAEO-Generaldirektors im Dezember 2019 übernahm, besteht darauf, dass die Kontrolleure Zugang zu allen verdächtigen Anlagen erhalten, und erklärte gegenüber Agence France-Presse:

„Die Tatsache, dass wir [nicht-deklarierte Uran-]Spuren gefunden haben, ist sehr bedeutsam“, erklärte er gegenüber. „Das bedeutet, dass es die Möglichkeit nuklearer Aktivitäten und Materialien gibt, die nicht unter internationaler Aufsicht stehen und von denen wir weder ihren Ursprung noch ihre Absicht kennen. Das macht mir Sorgen.“[2]

Sollte der Iran nicht nachgeben, „werden wir auf eine Krise zusteuern.“[3] Die IAEO wäre in diesem Fall verpflichtet, die iranische NPT-Verletzung dem UN-Sicherheitsrat zu melden. Zu einem solchen Schritt war es zuletzt 2006 gekommen; UN-gestützte Iran-Sanktionen waren die Folge.

Die neue Haltung der IAEO hat nicht nur mit dem Wechsel an ihrer Spitze zu tun. Noch wichtiger waren die Entdeckungen aus dem Teheraner Nukleararchiv, die das Doppelspiel der Mullahs entlarvten.

Zur Erinnerung: Ende Januar 2018 gelang es dem israelischen Geheimdienst in einer spektakulären Nacht-und Nebelaktion 55.000 Seiten Text und 55.000 Dateien auf 183 CDs aus einem Nukleararchiv zu entwenden und nach Israel zu überführen. Zwei Jahre zuvor hatte die iranische Führung dieses Archiv in einer unauffälligen Halle inmitten Teherans untergebracht. Zwar konnte der Mossad nur 20 Prozent des Gesamtarchivs sicherstellen, doch war das, was dort fand, hochbrisant.

Vom „AMAD“-Plan…

Die Archivunterlagen beweisen, dass das Regime in den späten 1990er Jahren den Entschluss fasste, bis Ende März 2003 die Infrastruktur für den Bau von Atomwaffen bereitzustellen.

Mit der Leitung dieses Programms wurde 1998 der „Oberste Rat für fortgeschrittene Technologien“ beauftragt, dem nicht nur der damalige iranische Präsident Mohammed Khatami angehörte, sondern auch Hassan Rohani als Sekretär des Obersten Nationalen Sicherheitsrats, Verteidigungsminister Ali Shamkhani sowie der Chef der iranischen Atomenergiekommission, Gholemreza Aghazadeh.

Drei von ihnen gehören auch heute noch zur Top-Elite des Regimes: Aghazadeh ist derzeit Mitglied im Beraterstab des Revolutionsführers, Rohani ist Irans Präsident und Shamkhani der gegenwärtige Sekretär des Obersten Nationalen Sicherheitsrats.

Um die Jahrhundertwende billigte dieser „Oberste Rat für fortgeschrittene Technologien“ einen Kostenplan in Höhe von 100 Millionen Dollar (206 Milliarde Rial), der in Position 11 die „Herstellung von fünf Sprengkörpern, ihre Tests und die dazugehörigen Messungen“ vorsah.[4]

Die Dokumente aus Teheran belegen, dass das Atomwaffenprogramm in all seinen Teilschritten – Urananreicherung, Uranmetall-Produktion, Zündungsversuche, Auswahl des Atomtestgeländes – erheblich weiter fortgeschritten war, als von westlichen Geheimdiensten vermutet; ich gehe weiter unten auf Einzelheiten ein.

… zum SPND-Programm

Zudem belegen die Dokumente, dass das AMAD-Programm Ende 2003 nicht, wie bislang angenommen, beendet, sondern in neuer Gestalt fortgesetzt wurde. „Die Arbeit wird in zwei Teile gesplittet“, heißt es in der einschlägigen Anweisung des iranischen Verteidigungsministeriums, und zwar in einen „verdeckten (geheime Strukturen und Ziele)“ und einen „offenen Teil (reguläre Struktur).“[5]

Hintergrund dieser Entscheidung war die Tatsache, dass 2003 die bis dahin geheim gehaltenen Atomanlagen in Arak und Natanz aufgeflogen waren und Diktator Saddam Hussein nach dem Irak-Einmarsch der USA gestürzt worden war. Da wollte man auf Nummer sicher gehen: Das Atomwaffenprogramm sollte äußerlich wie beendet erscheinen. Tatsächlich änderte man aber lediglich seine Struktur und teilte es in einen öffentlichen und einen geheimen Bereich.

So kam es, dass sich führende iranische Atomwaffenforscher zwischen dem 30. August und dem 7. September 2003 tagtäglich trafen, um zu besprechen, wie die Welt optimal getäuscht werden kann. Hier Auszüge aus den Sitzungsprotokollen:

Dr. Fereidoun Abbasi-Davani: Wir sollten zwischen ,offenen‘ und ,verdeckten‘ Aktivitäten unterscheiden.

Dr. Majid: Offene Aktivitäten sind solche, für die man erklären könne, dass sie Teil eines anderen Programms seien und nicht Bestandteil des [Atomwaffen-]Projekts, sodass man für sie eine Entschuldigung haben würde.

Dr. Masoud: Neutronen-Forschung kann nicht als ,offen‘ betrachtet werden und muss verdeckt sein. Wir können solche Aktivitäten nicht als defensiv rechtfertigen. Neutronen-Aktivitäten sind heikel; wir haben für sie keine Erklärung.[6]

Der AMAD-Plan wurde noch im selben Jahr durch ein neues Atomwaffenprogramm mit der Bezeichnung SPND ersetzt. SPND ist die persische Abkürzung für „Organisation für Verteidigungsinnovation und –forschung“. Diese Organisation war oder ist seitdem für die militärische Atomentwicklung verantwortlich.

Nach israelischen Schätzungen wechselten 70 Prozent der AMAD-Mitarbeiter in das SPND-Programm, darunter auch der Leiter des Atomwaffenprogramms, Mohsen Fakrizadeh. Das Post-AMAD-Programm umfasste u.a. die Vorbereitung auf einen Nukleartest und die Anpassung der Atombombe an die Shahab-3-Trägerrakete.

Aktuelle Relevanz

Schon die Existenz des Archivs beweist, dass sich Iran weiter als Atommacht auf Abruf versteht. Es bewahrt sein früher erworbenes Know-How sorgfältig auf, um sich den Weg zur Bombe offen zu halten. Doch damit nicht genug.

Erstens wurden oder werden hier zentrale Bestimmungen des Atomwaffensperrvertrags eklatant verletzt. Das Regime nutzte oder nutzt den Vertrauensvorschuss, der mit der Mitgliedschaft in diesem Vertrag verbunden ist, um dessen Bestimmungen heimlich und kontinuierlich zu brechen; sei es manifest durch akute Arbeiten an der Bombe, sei es latent, indem die für die Waffenforschung benötigten Instrumente in Einsatzbereitschaft gehalten und Ergebnisse dieser Forschung sorgfältig archiviert werden.

Zweitens rücken die Funde aus dem Nukleararchiv das iranische Raketenprogramm in ein neues Licht. Sie bestätigen schwarz auf weiß, was bereits zu vermuten war: Dass die Raketenentwicklung mit der Atomwaffenentwicklung untrennbar verbunden ist.

Drittens wirft das Nukleararchiv gleich mehrere Schatten auf den Atomdeal mit Iran. In dessen Präambel beteuert das Regime, dass es „unter keinen Umständen jemals nach Atomwaffen streben oder sie entwickeln oder erwerben wird.“ Die neuen Belege sprechen diesem Gelöbnis Hohn. Zudem verstößt Teheran gegen Artikel 14 des JCPOA. Darin verspricht der Iran gegenüber der Atombehörde IAEO „alle vergangenen und gegenwärtigen Problembereiche seines Atomprogramms anzusprechen“, was aber niemals geschah.

Gleichzeitig beschädigen die Archiv-Funde den Atomdeal in seiner Substanz. Denn es gibt keinen Grund für die Annahme, geschweige denn für die Gewissheit, dass das Regime seine verdeckten Arbeiten eingestellt hat. So wurde bis heute keines der für die Atomwaffenentwicklung geschaffenen Instrumente nachvollziehbar – also z.B. in Anwesenheit von IAEO-Inspektoren – zerstört.

Geheimes Nukleardepot

Es war Israels Premier Benjamin Netanjahu, der im September 2018 auch die Existenz eines geheimen Nukleardepots im Teheraner Stadtteil Turquz Abad öffentlich machte. Der Hinweis darauf war in den Unterlagen des Nukleararchivs enthalten. Satellitenbilder beweisen, dass das Regime unverzüglich damit begann, die Lagerstätte in Turquz Abad aufzulösen und Beweismaterialien zu vernichten.[7]

Als IAEO-Inspektoren im Februar 2019 den Standort erstmals aufsuchen, waren sämtliche Container verschwunden. Dennoch stießen sie dort auf Uranpartikel, die mit keiner er bekannten Atomanlagen Irans kompatibel waren: Dies war ein weiterer Beweis, dass geheime Atomeinrichtungen existieren.

Von nun begann die IAEO auch alle übrigen Informationen aus dem Nukleararchiv ernst zu nehmen.[8] Im März 2020 schlug die Agentur ihren von der Welt fast vollständig ignorierten Alarm.

TEIL II: WAS DAS TEHERANER „NUKLEARARCHIV“ VERRÄT

Im deutschen Sprachraum blieben die Inhalte der im Nukleararchiv gefundenen Dokumente unbekannt. Zwar erhielt auch die Bundesregierung eine Kopie aller Unterlagen; erhellende Äußerungen hierüber oder interessierte Nachfragen aus der Politik gab es aber nicht.

Die Ignoranz ist geblieben

Dieses Nicht-Wissen-Wollen hat Tradition: So erschien die Frankfurter Allgemeine Zeitung, nachdem Israels Premier den Archivfund im April 2018 präsentiert hatte, mit der Schlagzeile „Bundesregierung zweifelt an Netanjahus Behauptungen“. Norbert Röttgen, der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses im Bundestag, hielt dem israelischen Premier gar vor, ein „Verwirrungs- und Täuschungsmanöver“ veranstaltet zu haben.[9] Inzwischen sind alle Zweifel an der Echtheit der Dokumente ausgeräumt – die Ignoranz aber ist geblieben.

Somit verdanken wir unser Wissen über die Bedeutung des Nukleararchivs verdanken wir vor allem dem von David Albright gegründeten Institute for Science and International Security (ISIS) mit Sitz in Washington DC.

Es hat während der letzten zwei Jahre die Farsi-Textsammlungen des Archivs, sowie Tabellen, Zeichnungen und Fotodokumente in Feinarbeit auf ihre Echtheit überprüft, neu übersetzt und analysiert. Hierfür gründete ISIS eine „Technologie-Gruppe“ unter Einschluss amerikanische Atomwaffenexperten, konsultierte Fachleute in Israel und kooperierte mit Olli Heinonen, dem früheren stellvertretenden Generaldirektor der IAEO und Chef der IAEO-Safeguards-Abteilung.

Meine nachfolgende Darstellung basiert hauptsächlich auf 21 Berichten, die ISIS über seine Archiv-Analysen veröffentlichte; trotz ihrer offenkundigen Relevanz wurde keiner dieser Berichte ins Deutsche übersetzt.

Nukleare Weichenstellung

Zwei grundsätzliche Entscheidungen waren schon zu Beginn des AMAD-Plans gefallen: Das Regime hatte sich auf hochangereichertes Uran als Spaltmaterial verständigt – ohne den Plutoniumpfad für alle Zeiten auszuschließen. Zweitens sollte die Zündung der Bombe mithilfe der Implosionsmethode erfolgen. Bei dieser 1945 in Nagasaki angewandten Methode ist der Kernsprengstoff als Hohlkugel angeordnet, die zu einer Vollkugel mit kritischer Masse wird, sobald die rundum angeordneten Zünder Schockwellen auslösen, wobei die Gleichzeitigkeit der Zündungen gewährleistet sein muss.

Die iranischen Atomwaffenspezialisten mussten somit erstens das Waffenuran produzieren. Sie mussten zweitens Uranmetall herstellen und es in eine für den Sprengkopf erforderliche Form bringen. Sie mussten drittens das komplizierte Zündverfahren für die Implosionsbombe beherrschen und viertens einen geeigneten Standort für Atomwaffentests finden. Wir weit sind sie gekommen?

Produktion von Waffenuran

Die Vorbereitungen auf die Herstellung von Waffenuran erhielten die Tarnbezeichnung „Al Ghadir“. Als Standort für die Hochanreicherung war die Tunnelanlage Fordow etwa 30 km nordöstlich von Qum vorgesehen. Man hatte sie tief unter ein Gebirge gegraben, um sie vor Luftangriffen zu schützen.

Archiv-Unterlagen belegen, dass dieser geheime Tunnel, dessen Bau 2002 begann, einzig für den Zweck geschaffen wurde, hier das hochangereicherte und somit waffenfähige Uran zu produzieren. Es wurde ein Durchsatz von 30 kg Waffenuran pro Jahr angestrebt; dies hätte für ein bis zwei Atomwaffen pro Jahr gereicht.

Über die Verwendung von Fordow nach Beendigung des AMAD-Plans ist wenig bekannt. 2009 flog die bis dahin geheime Anlage auf. Als IAEA-Inspektoren sie im selben Jahr besuchten, stellten sie fest, dass Fordow nach wie vor für die Hochanreicherung ausgelegt war. Unter dem Druck der internationalen Öffentlichkeit wurden diese Anlagen auf die waffentechnisch wenig attraktive Niedriganreicherung umgestellt.

Bis heute verharrt dieser Tunnel jedoch in einem „Stand-By“-Modus: Binnen kurzer Frist könnten alle für die Herstellung von Waffenuran benötigen Anlagen erneut in Gang gesetzt werden. 2016 wurden hier russische S-300 Raketen stationiert, um potenzielle Angreifer abzuschrecken.

Umwandlung zu Uranmetall

Eine Pilotanlage zur Herstellung metallischer Urankomponenten wurde ab 2002 in der Nähe Teherans unter der Bezeichnung „Shahid Mahallati Uranium Metals Workshops“ errichtet und ein Vakuum–Induktionsofen zur Schmelzung des Uranmetalls installiert.

Hier führte man bis 2003 Experimente mit Ersatzstoffen, die sich wie Uran verhalten, durch. Die Anlage war zwar von Anfang an als Übergangslösung gedacht; im Notfall hätte man hier jedoch den ersten Atomkern aus Waffenuran fertigen können. Im April 2011 wurde das Gebäude abgerissen.[10]

Die eigentliche Produktionseinrichtung, die auf die Herstellung von jährlich 50 kg Uranmetall und damit für zwei bis drei Atombomben pro Jahr ausgelegt war, sollte in einem großen unterirdischen Tunnelkomplex bei Parchin, 35 km südöstlich von Teheran entstehen. Der Bau dieser als „Shahid Boroujerdi Project“ bezeichneten Anlage begann 2003. Fotos aus dem Archiv belegen die gigantische Dimension des Tunnels.[11]

Hier sollte das Uranhexafluorid zu Uranmetall umgewandelt, gegossen und zu Komponenten verarbeitet werden, wie man sie im Sprengkopf braucht. Die IAEA wurde nicht informiert. Im Gegenteil: Das Regime erklärte im September 2015 gegenüber der Wiener Agentur, niemals metallurgische Arbeiten für Atomwaffenzwecke durchgeführt zu haben.

Die Enthüllungen aus dem Archiv, die erstmals die Existenz und Planung beider Anlagen belegen, widerlegen diese Behauptung. Sie zeigen, dass das iranische Atomwaffenprogramm erheblich weiter entwickelt war, als angenommen.

Zündmechanismus der Bombe

Die Archiv-Unterlagen berichten von iranische Arbeiten an einer weiteren Atomwaffen-Schlüsseltechnologie: dem Schockwellen-Generator. Es geht hierbei um die Auslösung der Bombe nach der Implosionsmethode.

Damit die rund um die Hohlkugel angeordneten Zündungen exakt in demselben Bruchteil einer Sekunde losgehen, müssen zahlreiche Versuche durchgeführt und mit Hochgeschwindigkeitskameras aufgezeichnet werden. Diese Versuche fanden in der Nähe des Dorfes Sanjarian im Großraum Teheran statt.

In dieser Anlage gab es zwei Kammern, die „Upper Nour-Abad“ und die „Lower Nour-Aband“, die im Rahmen des AMAD-Plans für Testsprengungen genutzt wurden. Zwischen September 2002 und April 2003 wurden hier 136 Testläufe durchgeführt.[12]

Bei diesen Versuchen wurden die iranischen Machthaber von Vycheslav V. Danilenko, einem russischen Atomwaffenspezialisten unterstützt. Die Forschungen konzentrierten sich auf ein Waffendesign, das mit der iranischen Shahab-3-Rakete kompatibel ist.[13] Auch diese Anlage wurde erst aufgrund des Archiv-Diebstahls bekannt. Ob die Arbeiten in Sanjarian beendet wurden oder bis heute fortgeführt werden, ist unbekannt.

Parchin, der zweite Forschungsstandort, 30 km südöstlich von Teheran gelegen, war der IAEA zumindest teilweise bekannt. Hier wurde in einer Halle („Taleghan 1“) eine große zylindrische Stahlzelle installiert, in der man hochexplosive Kompressionstests durchführte, um Neutronenzünder für Atomsprengköpfe zu entwickeln.

Die Unterlagen des Archivs belegen, dass es zusätzlich eine zweite, bis dahin unbekannte Halle („Taleghan 2“) gab. Hier wurde ein kleinerer zylindrischer Stahltank verwendet, um kalte Kompressionstests durchzuführen, die von einer Blitzlicht-Röntgen-Kamera aufgezeichnet wurden. Mithilfe dieser Kamera, die alle 20-25 Nanosekunden ein Bild schoss, versuchte man den Implosionsvorgang zu optimieren.[14]

Atomwaffentest

Wie ein im Archiv gefundenes Dokument zeigt, kamen am 22. Oktober 2000 führende iranische Atomwaffenforscher zusammen, um über die „Auswahl eines Testgeländes für das operative System“ zu beraten. Mit „operativem System“ war der Atomsprengkopf gemeint. Die Suche nach einem Atomtestgelände erhielt den Code-Namen „Projekt Midan“.

Im August 2002 wurde ein „Bericht über die Geländeauswahl“ vorgelegt, in dem fünf Standorte für Atomwaffentests empfohlen und nach bestimmten Kriterien (Siedlungsdichte, Entfernung zu Städten, Wetterbedingungen etc. ) verglichen wurden, wobei sich drei dieser Standorte in der großen Salzwüste Lut („Dasht-e Lut“) befanden.[15]

In einem weiteren Bericht wurde diskutiert, mit welchem Verfahren sich die Detonationsstärke am besten messen lässt, ob mit einer seismischen, einer radiochemischen oder einer hydrodynamischen Methode.

In der Nähe der Großstadt Semnan wurden schließlich im Frühjahr 2003 drei unterirdische nicht-nukleare Tests mit einer Detonationsstärke zwischen 0,5 und 4,62 Tonnen TNT durchgeführt, um einen Atomwaffentest vorzubereiten.[16] Das „Projekt Midan“ wurde Ende 2003 gestoppt – bis auf weiteres.

Es geht hier nicht um Schnee von gestern. Wäre das Atomwaffenprojekt 2003 tatsächlich beendet worden, hätten die iranischen Stellen wenig zu befürchten und nichts zu verbergen. Deren strikte Weigerung hingegen, verdächtige Anlagen für IAEA-Inspektoren zu öffnen, lässt nur den Schluss zu, dass heimliche Arbeiten an der Atomwaffe weitergehen.

Mit bösen Überraschungen ist zu rechnen.

Die Originalveröffentlichung auf Mena-Watch finden Sie hier und hier.

[1] https://isis-online.org/uploads/iaea-reports/documents/IAEA_Iran_NPT_March_2020_report.pdf
[2] Iran refusing to give answers on 3 undeclared nuclear sites, UN watchdog says, in: Times of Israel, 3. März 2020.
[3] John Irish, U.N.‘s nuclear chief to Iran: Cooperate or face new crisis, in: World News (Reuters), 3. März 2020.
[4] David Albright, Olli Heinonen, and Andrea Stricker, The Plan: Iran’s Nuclear Archive Shows it Originally Planned to Build Five Nuclear Weapons by mid-2003, Institute For Science And International Security (ISIS), and Foundation for Defense of Democracies (FDD), November 20, 2018, S. 5f.
[5] David Albright, Olli Heinonen, and Andrea Stricker, Breaking Up and Reorienting Iran’s Nuclear Weapons Program, in: ISIS-Report, October 29, 2018, S. 7.
[6] Ebd., S. 5.
[7] David Albright, Olli Heinonen, Frank Pabian, and Andrea Stricker, Revealed: Emptying of the Iranian „Atomic Warehouse“ at Turquz Abad, ISIS-Report, November 29, 2018.
[8] David M. Halbfinger and Richard Pérez-Pena, Pompeo and Netanyahu Push to Scrap Iran Nuclear Pact, in: New York Times, November 7, 2019.
[9] Bundesregierung zweifelt an Netanjahus Behauptungen, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 02.05.2018 sowie Deutschlandfunk, Interview mit Norbert Röttgen, 02.05.2018.
[10] David Albright, Sarah Burkhard, and Frank Pabian, Shahid Mahallati: „Temporary“ Plant for Manufacturing Nuclear Weapon Cores, ISIS-Report, April 8, 2020.
[11] David Albright, Olli Heinonen, Frank Pabian, and Andrea Stricker, A Key Missing Piece of the Amad Puzzle: The Shahid Boroujerdi Project for Production of Uranium Metal & Nuclear Weapons Components, ISIS and FDD, January 11, 2019.
[12] David Albright and Sarah Burkhard, Intensive Weapons Component Testing Campaign during the Amad Plan, ISIS Report, March 5, 2020.
[13] David Albright and Olli Heinonen, Shock Wave Generator for Iran’s Nuclear Weapons Program: More than a Feasibility Study, ISIS and FDD, May 7, 2019.
[14] David Albright, Sarah Burkhard, Olli Heinonen, and Frank Pabian, New Information about the Parchin Site: What the Atomic Archive Reveals About Iran’s Past Nuclear Weapons Related High Explosive Work at the Parchin High Explosive Test Site, ISIS-Report, October 23, 2018; Raphael Ofek, What the Smuggled Archive Tells Us About Iran’s Nuclear Weapons Project, The Begin-Sadat Center for Strategic Studies (BESA), July 22, 2019.
[15] David Albright, Sarah Burkhard, Olli Heinonen, Frank Pabian, and Andrea Stricker, Project Midan: Developing and Building an Underground Nuclear Test Site in Iran, ISIS and FDD, April 2, 2019; David Albright, Sarah Burkhard, and Frank Pabian, Project Midan: New Information from the Archive, ISIS Report, March 5, 2020.
[16] David Albright and Sarah Burkhard, Intensive Nuclear Weapons Component Testing Campaign during the Amad Plan, ISIS Report, March 5, 2020.

Bild: Die ballistische Mittelstreckenrakte Ghadr-110 beim Start (2016). Raketen dieses Typs können mit Nuklearsprengköpfen ausgestattet werden. Quelle: tasnimnews.com · Urheber: Mahmood Hosseini · Lizenz: CC BY 4.0