"Heimliches Einverständnis"?

Islamischer Antisemitismus und deutsche Politik

Von Matthias Küntzel

Jungle World, 3. Januar 2008

Nein!« antwortet das dreijährige Mädchen auf die Frage des saudischen Satellitenkanals Iqraa, ob sie Juden möge. »Warum nicht?« Weil Juden »Affen und Schweine« seien. Wer dies sage, fragt die Moderatorin. »Unser Gott.« »Und wo sagt er das?« »Im Koran.« Am Ende fasst die Moderatorin zusammen: »Niemand kann sich von Allah ein gläubigeres Mädchen als dieses wünschen. Möge Allah sie und ihre Eltern segnen.«

Der Sender Iqraa wird auch in Berlin empfangen, wo auch schon mal Kinder und Jugendliche aus islamischen Familien eine »feste antisemitische Haltung« einnehmen, wie eine Studie der Alice-Salomon-Fachhochschule zeigt. Zunehmend hat sich in bestimmten Milieus der Antisemitismus als Bestandteil muslimischer Identität etabliert. Hier ist »Jude« ein Schimpfwort, hier bewundert man Rap-Musiker, die Angriffe auf Juden propagieren, hier gilt es als Kompliment, als »Nazi« bezeichnet zu werden.

Im Bezirk Steglitz-Zehlendorf forderte ein muslimischer Schüler: »Juden müssen alle vergast werden.« In Friedrichshain-Kreuzberg sperrte eine Schülergang einen Mitschüler ins Chemielabor mit den Worten: »Jetzt drehen wir den Gashahn auf.« Im Deutschen Historischen Museum sammelte sich während einer Exkursion eine Gruppe muslimischer Jugendlicher vor der Nachbildung einer Gaskammer des Konzentrationslagers Auschwitz, um zu applaudieren.

Zunehmend wird Jagd auf jüdische Mitschüler gemacht. Wenn auch die antisemitischen Attacken deutscher Nazis überwiegen, stieg doch die Zahl der registrierten antisemitischen Straftaten mit muslimischem Hintergrund im Jahr 2006 auf 88 an – eine Steigerung um mehr als hundert Prozent. Mehr und mehr sehen sich Juden dazu gezwungen, auf die Jüdische Oberschule in Berlin zu wechseln und Zeichen ihres Judentums, wie die Kippa oder den Davidstern, in der Öffentlichkeit zu verbergen.

Die antisemitische Aufhetzung muslimischer Jugendlicher, die sich in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Großbritannien noch radikaler als in Deutschland vollzieht, stellt nur die sichtbare Spitze eines Eisbergs dar. Das darunter liegende Massiv entzieht sich unserem Blick: Der Antisemitismus in der islamischen Welt.

Nehmen wir als Beispiel die Fernsehstation al-Manar, das wichtigste Propagandainstrument der vom Iran gesteuerten Terror-Miliz Hizbollah. Ihr im Libanon stationierter Fernsehsender, der in Deutschland über einen saudischen und einen ägyptischen Satelliten, »Arabsat« und »Nilesat«, empfangen werden kann, hat sich längst als der Haussender der Islamisten in Deutschland etabliert. Die Direktiven für sein Programm stammen direkt aus dem Büro des Generalsekretärs der Hizbollah, Sayyid Hasan Nasrallah, und das Geld, um ihn zu betreiben, stammt aus dem Iran.

Der Sender hat »Die Protokolle der Weisen von Zion«, das berüchtigtste antisemitische Manifest der Weltgeschichte, in Form einer Spielfilmserie popularisiert und in Millionen Haushalte ausgestrahlt. Er hat am 11. September 2001 die frei erfundene Behauptung von den 4 000 Juden, die angeblich an diesem Tag das World Trade Center nicht betreten hätten, in die Welt gesetzt. Gleichzeitig propagiert der Fernsehkanal mit perfekt inszenierten Musik-Clips den Märtyrertod. Für die Kleinsten wird ein eigenes Kinderprogramm mit Zeichentrickfilmen und Spielen gesendet, die dazu ermuntern, Selbstmordattentäter zu werden.

Al-Manar ist nicht der einzige Sender, der Antisemitismus im Nazi-Stil verbreitet. Staatlich kontrollierte Sender im Iran und in Ägypten haben ähnliche Spielfilmreihen produziert und an zahlreiche islamische Fernsehsender weiterverkauft. Darüber hinaus werden Bücher wie Hitlers »Mein Kampf« in der gesamten arabischen Welt angeboten und verkauft. Antisemitische Karikaturen, Dissertationen, Programme und Leitkommentare ergänzen das Bild. Die Machart dieser Agitation geht über das gewöhnliche antisemitische Vorurteil, das Juden diskriminieren will, hinaus. Wir haben es mit einem extremen Antisemitismus zu tun, der Juden dehumanisiert und dämonisiert, um sie zu töten.

In der deutschen Diskussion wird die religiöse Dimension dieses Antisemitismus in der Regel unterschätzt. In den Phantasien und Bildern, die er hervorruft, tauchen alle Versatzstücke des europäischen Antisemitismus von der Ritualmordlegende bis zur Weltverschwörungstheorie wieder auf – doch werden sie jetzt in einen neuen Kontext gestellt. Israel soll nicht in erster Linie aus politischen oder rassistischen, sondern aus religiösen Gründen, »im Auftrage Gottes« also, ausgelöscht werden. Die Hamas begründet ihren Hass auf Juden nicht allein mit den »Protokollen der Weisen von Zion«, sondern zugleich mit der altislamischen Prophezeiung, wonach die Auferstehung der Muslime mit der Tötung der Juden zusammenfallen werde. Das wichtigste Pamphlet des islamischen Antisemitismus, Sayyid Qutbs »Unser Kampf gegen die Juden«, verwendet zwar rassistische Schablonen, die Qutb aus Europa übernahm. Doch ist sein Text in erster Linie ein religiöses Traktat, das die in Vergessenheit geratenen »koranischen Direktiven und göttlichen Anweisungen« zum Umgang mit Juden mit neuem Leben erfüllen will, um die Menschheit vom Zustand der Unwissenheit und von allen »Lastern« zu befreien.

Es ist diese Ankoppelung an eine globale religiöse Mission, an Paradiesglaube und Märtyrerideologie, die den islamischen Antisemitismus so gefährlich macht. Der Judenhass der Nazis wird mit dem spezifischen Furor des Religionskriegs vereint. Er brachte den 11. September hervor und erzeugt das Verlangen des Iran nach Waffenuran. Er ist, so der Antisemitismusforscher Robert Wistrich, »gleichzeitig suicidal und genocidal«. An dieser Wand des Fanatismus prallen alle Aufklärungsversuche, Kompromissangebote, politische Finessen ab.

Wenn Juden in Deutschland ihr Judentum aus Angst vor muslimischer Gewalt nicht länger in Freiheit demonstrieren können, wenn sie sich genötigt sehen, öffentliche Schulen in Berlin zu meiden, dann sind die politisch Verantwortlichen in Deutschland mit den Ausläufern der globalen islamistischen Bewegung konfrontiert. Wie haben sie auf diese Herausforderung reagiert?

Mobile Aktionsteams versus Al Manar

Innenpolitisch hat der Antisemitismus unter Muslimen, soweit er sich in Deutschland artikuliert, die Öffentlichkeit beschäftigt und die Politik zu ersten Reaktionen veranlasst. So ließ der frühere Innenminister Otto Schily 2003 die antisemitische Organisation Hizb ut-Tahrir verbieten und 2004 das antisemitische Verlagshaus Yeni Akit schließen. Darüber hinaus fördert das Innenministerium in Verbindung mit der Bundeszentrale für politische Bildung seit 2007 ein Projekt gegen den Antisemitismus unter muslimischen Jugendlichen, das mit »Mobilen Aktions- und Beratungsteams« sowie Leitfäden und Material für den Unterricht Abhilfe schaffen will.

Dieser Aktivismus aber wird durch Frank-Walter Steinmeiers Außenministerium systematisch konterkariert. Die Bundesregierung lässt den Export antisemitischer Filme, Predigten oder Schriften aus Saudi-Arabien, Ägypten, der Türkei und dem Iran nach Europa und Berlin stillschweigend zu. Das ist, als würde das Innenministerium Anti-Heroin-Kampagnen an öffentlichen Schulen inszenieren, während gleichzeitig das Außenministerium die Einfuhr von Heroin nach Deutschland legalisiert.

Anstatt die Urheber und Transporteure der Hasspropaganda mit Sanktionen zu bestrafen, anstatt die Freigabe von Entwicklungshilfe vom Verzicht auf antisemitische Propaganda in staatlichen Medien abhängig zu machen, anstatt diese Verwüstung des menschlichen Geistes bei jeder Gelegenheit politisch zu kritisieren – anstatt, kurz gesagt, die einfachsten Schlussfolgerungen aus dem Holocaust zu ziehen –, geschieht nichts. Während »Mobile Beratungsteams« erfolglos dem Antisemitismus unter jugendlichen Muslimen hinterherjagen, setzt die Hizbollah mithilfe von al-Manar die Rekrutierung neuer Antisemiten und Selbstmord-Terroristen in den einschlägigen Berliner Wohnstuben ungestört und rund um die Uhr fort.

Die Bundesregierung könnte, wenn sie wollte, etwas tun. So hatten beispielsweise die USA im März 2002 Saudi-Arabien und andere arabische Länder in einer per Rundfunk übertragenen Erklärung aufgefordert, »die antijüdische Hetze in Zeitungen sowie Rundfunk- und Fernsehsendern zu untersagen«. Später wurde nicht nur die Hizbollah, sondern auch al-Manar auf die Terrorliste gesetzt. Im Jahr 2004 wurde das Außenministerium der USA gesetzlich zur weltweiten Überprüfung aller antisemitischen Tendenzen und der dagegen unternommenen Regierungsmaßnahmen verpflichtet.

Selbst das in seiner Außenpolitik betont araberfreundliche Frankreich wurde tätig. So setzte die Staatsanwaltschaft in Paris ein Verfahren gegen den Herausgeber der ägyptischen Tageszeitung Al-Ahram wegen Anstachelung zum Antisemitismus in Gang. Die französische Regierung hat für ein Verbot der Ausstrahlung von al-Manar gesorgt und den Sender zumindest vom europäischen Satellitennetz ausgeschlossen. Spanien und die Niederlande schlossen sich diesen Maßnahmen an.

Die Bundesregierung hingegen, die sich in ihrem Stolz über die ach so perfekte Bewältigung der deutschen Vergangenheit von keinem anderen Land übertreffen lässt, rührt dieses Thema nicht an. Als Außenminister Frank-Walter Steinmeier im Januar 2006 in Kairo die größte Buchmesse der arabischen Welt eröffnete, kam der islamische Antisemitismus in seiner Ansprache nicht vor. Als Bundeskanzler Gerhard Schröder vor der Gipfelkonferenz arabischer Medien in Dubai 2003 eine Rede hielt, blieb der Judenhass jener Medien unerwähnt.

Selbst als in Berlin im April 2004 eine große OSZE-Konferenz gegen den Antisemitismus stattfand, blieb der islamische Antisemitismus ausgespart. Zwar hatte hier der französische Delegierte Pierre Lellouche vorgeschlagen, derartige Konferenzen zukünftig auch in Kairo oder Amman zu veranstalten. Doch sein Nachfolgeredner, Joschka Fischer, fegte diesen klugen Gedanken gleich wieder vom Tisch: Der Antisemitismus, meinte der damalige Außenminister, sei ein Problem Europas, »kein Problem anderer Länder und anderer Kulturen«. Auch im Abschlussdokument dieser Konferenz kam der islamische Antisemitismus nicht vor.

Im Fall des iranischen Präsidenten Ahmadinejad hat die Bundesregierung dessen antisemitische Hetzreden als »unakzeptabel« kritisiert und es hierbei belassen. Dabei gab es Handlungsmöglichkeiten zuhauf. Als das Mullah-Regime 1989 dazu aufrief, den Schriftsteller Salman Rushdie wegen Gotteslästerung zu ermorden, zogen europäische Staaten aus Protest vier Wochen lang alle Botschafter aus Teheran zurück. Auch 1997 verließen alle EU-Botschafter die Stadt, um gegen die vom Regime veranlasste Ermordung oppositioneller Kurden im Berliner Restaurant »Mykonos« zu protestieren. Und jetzt, wo die Vernichtung Israels nicht nur freimütig angekündigt, sondern konkret mithilfe von Urananreicherung und Plutoniumproduktion vorbereitet wird? Diesmal hat kein einziger Botschafter der EU, und sei es nur für einen Tag, Teheran verlassen. Keine einzige iranische Industriemesse wurde mit einer Absage auch nur eines einzigen deutschen Ausstellers konfrontiert. Stattdessen hat die Bundesregierung in den Jahren 2006 und 2007 deutsche Neuinvestoren im Iran mit staatlichen Bürgschaften belohnt und so das Mullahregime und indirekt auch al-Manar gestärkt.

Diese Politik sendet den Antisemiten in der islamischen Welt ein unmissverständliches Signal. Léon Poliakov, der legendäre Erforscher der Geschichte des Antisemitismus, brachte diesen Mechanismus auf den Punkt: »Wer den Antisemitismus in seiner primitiven und elementaren Form nicht anprangert«, schrieb er in einem berühmten Diktum von 1969, »und zwar gerade deshalb nicht, weil er primitiv und elementar ist, der muss sich die Frage gefallen lassen, ob er nicht dadurch den Antisemiten in aller Welt ein Zeichen heimlichen Einverständnisses gibt.« Warum prangert die deutsche Außenpolitik den islamischen Antisemitismus »in seiner primitiven und elementaren Form« nicht an?

Die naheliegende Antwort lautet: Weil es den deutschen Exportinteressen dient. Es nützt ihnen auf der einen Seite, wenn die Übergriffe auf Juden in Berlin unterbunden werden, könnten doch derartige Vorfälle, die an Vergangenes erinnern, die internationalen Geschäftsbeziehungen trüben. Es befördert ebenso das Geschäft, wenn man im Umgang mit den islamischen Handelspartnern gerade umgekehrt verfährt und sich die guten Gewinnchancen von den genozidalen Absichten und den antisemitischen Äußerungen eines Ahmadinejad nicht verderben lässt. Beispiel Iran: Auch jetzt »bleibt Iran für deutsche Unternehmen ein wichtiger Markt im Nahen und Mittleren Osten«, wirbt im Juni 2007 die Homepage des Auswärtigen Amts. »2006 exportierte Deutschland Waren im Wert von über 4,11 Milliarden Euro nach Iran (- 7 % gegenüber 2005). Wichtigste Exportgüter waren – wie schon in den Vorjahren – Maschinen, Anlagen und Kfz-Teile und Komponenten, Eisen- und Metallerzeugnisse und chemische Erzeugnisse.«

Diese naheliegende Antwort reicht jedoch nicht aus, weil sich die Gesellschaft in Deutschland – speziell im Lager der Linken – mit großindustriellen Interessen nicht identifiziert und die Spielräume der deutschen Exportwirtschaft nicht vom Siemens-Vorstand, sondern von der Bundesregierung definiert werden. Das eigentliche Rätsel liegt in dem massenhaften Einverständnis, auf das die deutsche Außenpolitik mit ihrer Akzeptanz des Antisemitismus in der islamischen Welt stößt.

»Stellt euch vor, ein neuer Genozid an Juden wird offen angekündigt und keiner reagiert« – was vor ein paar Jahren kaum jemand für möglich gehalten hätte, ist heute Realität. Während auf den großen Kundgebungen gegen Atomenergie und Atomkriege vor 25 Jahren Hunderttausende protestierten, verhält es sich jetzt, da ein nuklearer Krieg gegen Israel vor aller Welt angekündigt und vorbereitet wird, völlig anders. Wer heute ein Flugblatt gegen Ahmadinejad und zur Solidarität mit Israel verteilt, muss sich auf Unmut, Hassausbrüche, gar Gewalttätigkeiten einstellen und »sein Gesicht hart wie einen Kieselstein machen, um den Widerständen standhalten zu können«, wie es in einem Papier der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit heißt. Dies ist angesichts der Tatsache, dass es auch schon vor 70 Jahren eines besonderen Mutes bedurfte, um mit Juden solidarisch zu sein, bemerkenswert.

Bekanntlich hat Ahmadinejad den Countdown für Israels Vernichtung schon angezählt, gleichwohl geht das Gros der Journalisten, Politiker, Zivilgesellschafter – von der politischen Linken ganz zu schweigen – darüber hinweg. Der Widerspruch zwischen dem »Nie wieder« und dem »business as usual« scheint ihnen nicht einmal ins Bewusstsein zu gelangen, ist nicht einmal Gegenstand der Diskussion.

Mit wirtschaftlichen Interessen ist dieses Phänomen nicht hinreichend zu begründen. Ich stelle deshalb einen anderen Erklärungsansatz zur Diskussion: In Deutschland wird über den islamischen Antisemitismus mit seiner genozidalen Tendenz deshalb nicht diskutiert, weil man eine Sichtweise, die hauptsächlich Juden für die Spannungen in der Weltpolitik verantwortlich macht, teilt – wobei sich der Hass von den Juden als Volk längst auf die Juden als Staat – auf Israel – verschoben hat.

Statistisch ist dies mit bedrückender Eindeutigkeit belegt. So hatten im Jahr 2003 59 Prozent der Europäer in einer Umfrage der Europäischen Kommission erklärt, dass Israel »die größte Bedrohung für den Frieden in der Welt« sei – vor Iran, Syrien, Nordkorea oder den USA. In Deutschland und Österreich war der Anteil derer, die den Staat Israel als die größte Gefährdung für den Frieden betrachteten, mit 65 und 69 Prozent besonders hoch.

Veränderte sich dieses Image, nachdem Israel den Gaza-Streifen im Sommer 2005 hatte räumen lassen? Keineswegs. Im November 2006 ließ die BBC 28 000 Menschen in 27 Ländern fragen, welches Land die Weltpolitik am negativsten beeinflusse. Auch auf dieser Liste landete Israel mit 56 Prozent der Stimmen vor dem Iran, den USA und Nordkorea auf dem ersten Platz. In Deutschland war der Anteil derer, die Israel ankreuzten, mit 77 Prozent erneut besonders hoch.

Selbst wenn man in Rechnung stellt, dass diese Abstimmung durch den Libanonkrieg beeinflusst war, bleibt die Behauptung, dass ein Land von der Größe Hessens den »negativsten Einfluss« auf die Weltpolitik haben solle, vollständig irrational. Seit Oktober 2005 sind die Völkermordankündigungen des iranischen Präsidenten der Weltöffentlichkeit bekannt. Dennoch erklärt man ausgerechnet das Land, dessen Eliminierung Iran und Syrien, die Hizbollah und die Hamas kontinuierlich propagieren, zum Sündenbock Nr.1.

Ich schlage vor, diese Umfrageergebnisse, gerade weil sie so verrückt sind, ernst zu nehmen. Israel wird von einer Mehrheit der Deutschen nicht aufgrund einer nachprüfbaren Faktenlage, sondern nach dem unsichtbaren Drehbuch der »Protokolle der Weisen von Zion« zu einer Gefahr für den Weltfrieden und zum globalen Bösewicht stilisiert. Niemand leugnet, dass im Nahen Osten ein realer Konflikt existiert und auch Israels Regierung Fehler macht. Was aber hat dies mit der Überzeugung zu tun, Israel bedrohe den Weltfrieden? Diese Zuordnung ist von der Wirklichkeit fast ebenso weit entfernt wie das Gerücht, demzufolge Juden das Blut von Christenkindern tränken, oder die Behauptung, dass Juden sich gelegentlich in »Affen und Schweine« verwandelten. Wir haben es mit einem äußerst boshaften, antisemitisch aufgeladenen Massenbewusstsein zu tun – einem Massenbewusstsein, das die Medien, die Zivilgesellschaft und die Politik nicht weniger aufschrecken sollte als die Bildungsmisere an deutschen Schulen. Wo aber ist die dem »Pisa-Report« vergleichbare Studie, die diesen Wahnzustand skandalisiert und die die Wurzeln dieses Massenbewusstseins untersucht und zügig auf Veränderungen drängt?

»Den Wahn erkennt natürlich niemals, wer ihn selbst noch teilt«, schreibt Sigmund Freud. Mit anderen Worten: Wer Israel dämonisiert, wie dies 77 Prozent der Deutschen jener BBC-Umfrage zufolge tun, ist dem Antisemitismus gegenüber blind.

Warum werden die Überfälle auf jüdische Schüler in Berlin als antisemitisch verurteilt? Weil man diese Juden für unschuldig hält. Israel hingegen gilt a priori als schuldig, weshalb man den Antisemitismus derer, die den jüdischen Staat mit Raketen oder Selbstmordbombern attackieren, leugnet oder ignoriert.

Das Resultat dieser Sichtweise ist eine Spirale der Ignoranz: Wer Israel zum Bösen stempelt, nimmt den Antisemitismus der Islamisten nicht wirklich wahr. Wer den Antisemitismus der Hizbollah und der Hamas aber nicht wahrnimmt, verkennt das Motiv ihrer Angriffe auf Israel und wird dazu neigen, selbst noch Selbstmordattentate zu »Verzweiflungstaten« zu verklären. Wer Israel aber für den Selbstmordterror und die Angriffe mit Kassam-Raketen verantwortlich macht, wird mit jeder Eskalation dieses Terrors den jüdischen Staat um so mehr verurteilen und somit immer tiefer in das Denkgebäude des Antisemitismus hineingezogen werden, was die Chance, den Antisemitismus als das eskalierende Moment zu identifizieren, weiter reduziert und so weiter und so fort. Der entscheidende Grund für diese fortgesetzte Ignoranz ist ein Zerrbild von Israel, das sich in den Massenmedien längst verselbständigt hat. Warum?

Ewiger Jude in neuer Gestalt

Der Staat Israel ist kein Hort der Tugend und muss sich wie andere Länder der Kritik stellen; auch was seine Strategie gegen die islamistische Vernichtungsdrohung anbelangt. Die Berichterstattung in den europäischen Medien behandelt Israel aber gerade nicht wie andere Länder, sondern als einen besonders kritisch zu beäugenden Sonderfall.

Ich möchte dies am Beispiel eines alltäglichen Artikels aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung illustrieren. Der Beitrag trägt die Überschrift »Israelische Luftangriffe« und beginnt mit dem Satz: »Die israelische Luftwaffe hat am Dienstag den Gazastreifen mit Raketen angegriffen.« Erst weiter unten taucht der Anlass auf: »Zuvor hatten militante Islamisten mehrere Kassam-Raketen auf israelisches Staatsgebiet abgefeuert.« Nehmen wir an, die Stadt irgendeines beliebigen anderen Landes würde aus dem benachbarten Ausland mit Raketen attackiert. Würde dann nicht dieser Angriff Gegenstand der Schlagzeile sein? Raketenangriffe auf Israel werden demgegenüber als eine Nebensache präsentiert, als seien potenziell tödliche Angriffe auf Juden normal, als sei es Bestandteil eines Common Sense, dass die Existenz gerade dieses Landes in Frage steht. Auch die Sprache ist interessant: Normalerweise ist Verteidigung etwas anderes als Angriff. Hier aber haben Islamisten »abgefeuert« und Israelis »angegriffen«.

Dieses Beispiel ist kein Einzelfall. Bei keinem anderen Land der Welt ist die Berichterstattung so verzerrt wie im Falle Israels – so als werde das in Europa früher vorherrschende Bild vom individuellen Juden heute auf den jüdischen Staat transferiert. Wie hatte man im Europa der vergangenen Jahrhunderte Angriffe auf Juden kommentiert? Dass sie bedroht und attackiert wurden, galt als normal. Es war zu alltäglich, um der Rede wert zu sein. Erst wenn ein Jude einmal zurückschlug, stieß dies auf Empörung und erregte große Aufmerksamkeit – so wie heute jede israelische Erwiderung auf den Terror Schlagzeilen macht.

Offensichtlich haben sich bestimmte Denkmuster des traditionellen europäischen Antisemitismus am Leben erhalten, Denkmuster, die nachwirken und die mediale Wahrnehmung des Nahostkonflikts unbewusst strukturieren: Angriffen auf Israel wird ganz selbstverständlich ein gewisses Verständnis entgegengebracht, während Israels Verteidigungsmaßnahmen a priori unter dem Verdacht der Maßlosigkeit stehen. Von dieser sonderbaren Logik machen auch die deutschen Eliten Gebrauch, so zum Beispiel Volker Perthes, der Direktor der einflussreichen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), die die Bundesregierung und den Bundestag in außenpolitischen Fragen berät.

So hatte Perthes im Juli 2006 in einem Rundfunkinterview kurz nach Beginn des Libanonkriegs zwischen den Kriegsakten der Hizbollah und denen Israels sorgfältig differenziert: Was im südlichen Libanon passiere – die Konterangriffe Israels –, sei »natürlich Krieg«, so Perthes, während, »was im Norden Israels geschieht, … möglicherweise mehr eine Art von Kleinkrieg ist, an den sich Bürger gewöhnt haben«. Raketen auf Israel werden hier als gewöhnlich bewertet, Raketen aus Israel aber als Krieg. Dass Perthes in diesem Interview den Antisemitismus der Hizbollah ausblendet und diese Organisation stattdessen gleich drei Mal nacheinander als »nationale Befreiungsorganisation« würdigt, ergänzt das parteiische Bild: Immerhin hatte die vom Iran gesteuerte Organisation wenige Tage zuvor israelische Soldaten als Geiseln genommen und den Libanonkrieg provoziert.

Die Selbstverständlichkeit, mit der man die Angriffe auf Israel zur Kenntnis nimmt, und die schrille Aufmerksamkeit, die man diesem Land widmet, wenn es sich – so wie es jede andere Nation an seiner Stelle tun würde – wehrt, ist aber nicht allein den traditionellen Denkmustern geschuldet, sondern könnte paradoxerweise auch mit dem schlechten Gewissen der Europäer in einem Zusammenhang stehen. Unterschwellig weiß man: Seit den Kreuzzügen gingen die größten Verbrechen an Juden von Europa aus. Da mag die Schlagzeile »Israelische Luftangriffe« wie Seelenbalsam wirken – als der entlastende Beweis dafür, dass auch die andere Seite Verbrechen begeht. Gibt es somit in Europa ein sozialpsychologisch motiviertes »heimliches Einverständnis«, Israel am liebsten auf der Anklagebank zu sehen? Wenn diese These zuträfe, würde dies erklären, warum sich die Nahost-Berichterstattung in den USA grundlegend von der europäischen unterscheidet und warum hierzulande schon das Bemühen um eine faire Berichterstattung an enge Grenzen stößt.

Mehr als die Lobbyarbeit der Exportindustrie sind es vielleicht diese Mechanismen – das sozialpsychologische Bedürfnis, »jüdische Verbrechen« aufrechnen zu können, der historisch gewachsene Blick auf den jüdischen Staat und die antisemitische Dämonisierung Israels –, die das Schweigen der Deutschen über den Antisemitismus der Hizbollah und der Hamas, Syriens, Saudi-Arabiens und des Iran erklären.

Größter Profiteuer dieses »heimlichen Einverständnisses« ist heute der Iran. Mehr und mehr wird das Ziel, das Ahmadinejad verfolgt, A World without Israel, zum Thema unserer Zeit. Immer lauter werden die Stimmen, die dafür plädieren, eine Atommacht Iran zu akzeptieren, weil diese angeblich »nur« Israel bedroht. Ein Iran mit Atomwaffen, erklärt beispielsweise Udo Steinbach, der Direktor des Hamburger Orient-Instituts, sei »nicht ipso facto eine Bedrohung … sondern das Land bekäme international einen neuen Status. …Europa wäre sicher das letzte Ziel, das dem Iran einfallen würde«, beruhigt uns der Islamwissenschaftler, wäre doch die Bombe eher »für seine Nachbarn« ein Problem, »für eine säkulare Türkei und natürlich für Israel«.

Wer aus dem Zirkelschluss der Ignoranz herausgetreten ist, wer sich von den kommunizierenden Röhren des Antisemitismus emanzipiert hat, erkennt sofort, dass dies nicht stimmt: Die Feindschaft des Iran gegenüber Israel ist alles andere als »natürlich«: Hat der Iran irgendeinen territorialen Streit mit Israel? Hat er ein palästinensisches »Flüchtlingsproblem«? Kann nicht gerade der Iran auf eine über tausendjährige Geschichte des Zusammenlebens mit Juden zurückblicken?

Genauso wenig, wie es für muslimische Jugendliche in Berlin ein vernünftiges Motiv gibt, jüdische Mitschüler anzugreifen, genauso wenig gibt es für den Iran ein vernünftiges Motiv, Israel zu bedrohen. Der eigentliche Antrieb ist in beiden Fällen antisemitischer Natur – ein Antisemitismus, von dem der Hamburger Orientwissenschaftler ebenso wie das Auswärtige Amt nichts wissen will, ein Antisemitismus, der Berliner Juden einschüchtert und quält, während er Israel und die Welt bedroht.

Dieser Text fasst zentrale Aussagen des Vorworts und des Nachworts aus dem soeben erschienen Buch

Matthias Küntzel: Islamischer Antisemitismus und deutsche Politik – ›Heimliches Einverständnis‹? Lit-Verlag, Münster 2007, 19,90 Euro

zusammen. Die Quellenbelege sind dort nachzulesen.