Gedenkfeiern 1994: Erinnerungen an die Zukunft

Von Matthias Küntzel

bahamas, Oktober 1994

Die Zukunft gewinnt, “wer die Erinnerung füllt, die Begriffe prägt und die Vergangenheit deutet.” Dieses Diktum Michael Stürmers geriet im zurückliegenden Sommer zum Regierungprogramm. Schlag auf Schlag wurde Geschichte gedeutet und Geschichte gemacht:
6. Juni: Zentrale Gedenkfeier aus Anlaß des 50. Jahrestages der Landung der Alliierten in der Normandie.
11./12. Juli: Clinton-Besuch und Bonn und Berlin.
12. Juli: Ermächtung der Bundeswehr zu weltweiten Kriegseinsätzen durch das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe.
14. Juli: Die erste Parade deutscher Kampfpanzer im Rahmen des französischen Nationalfeiertags auf den Champs-Elysees.
1. August: Gedenkfeier aus Anlaß des 50. Jahrestag des Warschauer Aufstandes in Polen.
31. August: Verabschiedung der letzten russischen Soldaten aus Deutschland im Beisein Jelzins.
8. September: Verabschiedung der westlichen Allierten aus Berlin in Anwesenheit von US-Außenminister Chistopher, Premierminister Major und Staatspräsident Mitterand mit abschließendem Großem Zapfenstreich vor dem Brandenburger Tor.

Die Gesamtschau dieser Ereignisse ergibt ein paradox anmutendes Bild: Während das Ausland die Nazi-Zeit mit kostümierten Gedenkfeiern in das Museum verbannte, wurde diese in der Bundesrepublik auf ihre Gegenwartstauglichkeit neu überprüft. Während Clinton und Mitterand, Jelzin und Walesa unablässig einen Trennstrich zwischen Deutschem Reich und Bundesrepublik zu ziehen suchten, wurde in der Berliner Republik eben jener Unterschied verwischt. Während Deutschland von außen “Normalität” attestiert bekam, wurde im Innern “Normalität” wieder deutsch definiert. Am Ende dieses Sommers, fünf Jahre nach dem Mauerfall, war die erste Etappe der Wiederherstellung Deutschlands abgeschlossen.

Beginnen wir mit dem “großen Tag für Deutschland und den Frieden in Europa” (BILD), an dem der letzte russische Soldat dieses Land verließ. Das Bundeskanzleramt hatte ursprünglich einen gemeinsamen Auftritt von Jelzin und Kohl in der “Kulturstadt” Weimar sowie im nahegelegenen Konzentrationslager Buchenwald vorgesehen. In der Phantasie der Kohl-Gehilfen war gerade letzteres der “große Knüller”, wie später der Spiegel enthüllte: “Wir haben da (in Buchenwald, Anm. MM) was Schlimmes gemacht. Ihr habt da was Schlimmes gemacht. Jetzt reichen wir uns die Hände zur Versöhnung und schauen gemeinsam in die Zukunft”, so ein Kohl-Berater.
Auf “Fifty-Fifty” hatte auch des Kanzlers Rede in Berlin orientiert, wohin die Verabschiedungszeremonie nach russischen Protesten verlegt worden war. Kohl hatte darin “Rassenwahn und Klassenhaß” für die “unselige” Entwicklung dieses Jahrhunderts und den “Pakt der Diktatoren Hitler und Stalin” für den Beginn des Zweiten Weltkriegs verantwortlich macht. Die vielen Millionen sowjetischen Toten des Zweiten Weltkrieges dürfe man ebensowenig vergessen, wie das, “was später den Deutschen in der Revanche angetan wurde”, forderte der Kanzler in seiner Ansprache vor Soldaten der russischen Armee. Mit seiner Logik der Aufrechung hatte der Kanzler sogar noch diplomatisches Gespür bewiesen. Die deutsche Geschichtsrevision ist längst einen Schritt weiter in ihren Versuchen, zwischen dem nationalsozialistischen – und dem kommunistischen “Totalitarismus” zugunsten des Erstgenannten zu differenzieren. Zwar habe Hitler den Menschen in Rußland “Schlimmes” angetan, schreibt etwa Friedrich Karl Fromme in der FAZ. Die (in Anführungszeichen) Befreiung durch die Rote Armee habe dann aber doch die Frage aufgeworfen, ob nicht “die neue Herrschaft das für den Augenblick Schlimmere sei.” Diese Sichtweise freilich liegt nahe, wenn “auch Deutsche”, wie Theo Sommer fordert, ihr “Recht auf Erinnerung geltend machen: an die Zeit der Gnadenlosigkeit, der Drangsal, der roten Gewalt nach der braunen.” Und da der russische Drang zur Expansion, wie der ehemalige Wehrmachtsoffizier Helmut Schmidt 1987 phantasierte, “nie wirklich erloschen” sei, setzte man also die Russen selbst noch bei ihrer Verabschiedung an den Katzentisch: Jede Gleichstellung der Russischen Republik mit den Westallierten verbot sich selbst.
Und dennoch: Der Kotau von Boris Jelzin war dem Kanzler gewiß. “Hitler hatte uns dieses Krieg aufgezwungen. Das deutsche Volk war daran nicht schuld”, versicherte auf dem Berliner Gendarmenmarkt der russische Präsident, der (anders als Clinton) jedwede Anspielung auf neudeutschen Rassismus unterließ. “Wir vertrauen auf das vereinte, erneuerte Deutschland,” erklärte Jelzin. “Wir wissen, daß demokratische Werte hier fest verwurzelt sind, die ihrer Substanz nach Gewalt, Aggressivität und Schmälerung der Rechte anderer Völker ausschließen.” Der dies sagte war sich bewußt, daß von dem Kanzler eine reziproke Aussage in Bezug auf Rußland nicht zu erwarten ist. Verbeugt wird sich heute nur in die eine Richtung.

Das sehen im Prinzip die USA nicht anders. Da der Sieger die Geschichte schreibt, wird dem Verlierer des Kalten Kriegs auch der Sieg über Hitler nachträglich aberkannt. Washington hatte eine russische Beteiligung an den D-Day-Spektakeln in der Normandie stets abgelehnt. Doch auch die Clinton-Administration wurde von Bonn mit einer Geschichtsrevision konfrontiert, deren Grundmelodie – Abwertung der Bedeutung der Alliierten bei der Zerschlagung des NS-Regimes – mit der gegen Rußland gewendeten Argumentation identisch war.
In größter Eile hatten Bundespresseamt und Bundeswehr in der Regierungshauptstadt der USA die Präsentation einer Sonderausstellung unter dem Titel “Gegen Hitler: Deutscher Widerstand gegen den Nationalsozialismus 1933-1945” durchgesetzt. “Wir hatten Weisung, zu sagen, dies sei ein amerikanisches Projekt. Aber es war von Anfang ein ein Bonner Projekt … Man brauchte eine Antwort auf den D-Day. Man war so betroffen, daß man aus all diesen Gedenkfeiern herausgehalten wurde” – erklärte ein hoher deutscher Beamter gegenüber der Washington Post (WP), die eine überaus kritische Reportage über dieses Ausstellung veröffentliche.(1)
Nicht nur die Geschichte des deutschen Widerstands wurde hier (nach den Vorgaben der Familie Stauffenberg) verfälscht, sondern zugleich die Geschichte des Dritten Reiches und seiner Überwindung. Es gehe darum, “die deutsche Geschichte nachträglich mit einer ungebrochenen Traditionslinie, die zur heutigen Demokratie führt, auszustatten”. kritisiert die Washington Post. “Die Ausstellung schließt mit dem Vermächtnis der Widerstandsbewegung und dessen Transformation in die Bundesrepublik Deutschland”, erklärt hierzu das Bundespresse- und Informationsamt. Daß bei der Befreiung vom NS-Staat alliierte Armeen eine Rolle spielten, wird mit keinem Wort erwähnt. Stattdessen “kritisieren die Ausstellung und die deutschen Eröffnungsreden subtil das anglo-amerikanische Versäumnis, dem deutschen Widerstand nicht unter die Arme gegriffen zu haben. Immer wieder werden Besucher daran erinnert, daß Churchill und Roosevelt Annäherungsversuche von deutschen Widerstandkämpfern in den frühen 40er Jahren verschmähten.” (Washington Post) Die Message ist klar: Nicht die Westalliierten (und erst Recht nicht Sowjets oder Partisanenverbände), sondern die Patrioten des 20. Juli mitsamt ihren Vorläufern haben den Wandel vom Deutschem Reich zur deutschen Republik bewirkt. Die Streitkräfte der Westmächte demgegenüber hatten, anstatt auf Stauffenberg zu setzen, deutsche Großstädte bombardiert. Nicht hierfür können wir ihnen heute noch dankbar sein, sondern ausschließlich für ihre Rolle im Kalten Krieg und für ihren Einsatz zugunsten der “Freiheit Berlins”.
Inhaltlich war das Grundmuster der Kohl-Rede vom 20. Juli 1994 mit dem Konzept der Washington-Ausstellung identisch; nach dem Kriterium der Nationalismus-Tauglichkeit wurde der Widerstand gegen Hitler selektiert. Kein Wort von der Befreiung durch ausländische Armeen. Konzentration aller Würdigung auf Stauffenberg und seine Freunde, die dem Kanzler zufolge nicht erst nach Stalingrad zu konspirieren begannen, nein: “Die Wahrheit ist, daß der 20. Juli 1944 Höhepunkt und Endpunkt einer Entwicklung war, die seit Hitlers Machtergreifung Anfang 1933 Männer und Frauen aus unterschiedlichsten politischen Richtungen im Kampf gegen die Herrschaft des Verbrechens zusammengeführt hatte.” (Helmut Kohl) Dieser Widerstand habe “menschliche Größe” unter Beweis gestellt, weil er “nicht auf Weisung (ge)handelt” habe, wie all jene verbohrten Antifaschisten, die mit der kommunistischen oder sozialistischen Internationale verbunden gewesen sind, sondern aufgrund “freier Entscheidung” entstanden sei. “Vorbildcharakter” und damit Gegenwartsbedeutung erhalte dieser Widerstand aber “erst durch seine politisch-moralische Zielsetzung”, die im Falle Stauffenberg und Co. freilich auf eine faschistische Option ohne Hitler und Auschwitz hinausgelaufen ist, wie an anderer Stelle ausgibig dokumentiert worden ist.(2) Das Problem der Kanzlerberater, bei Stauffenberg etwas anderes als eben diese Orientierung zu finden, stellte Kohl mit seiner Rede unter Beweis.
“Von Stauffenberg”, erklärte Kohl, ist der Satz überliefert ,Wir wollen eine neue Ordnung, die alle Deutschen zu Trägern des Staates macht und ihnen Recht und Gerechtigkeit verbürgt…’ So wie er dachten in diesem entscheidenden Punkt all jene Regimegegner, deren Andenken wir heute ehren.” Die zweite Hälfte jener Stauffenberg-Sentenz hatte der Kanzler seinen Zuhörern wohlweislich unterschlagen: “Wir wollen eine neue Ordnung, die alle Deutsche zu Trägern des Staates macht und ihnen Recht und Gerechtigkeit verbürgt, verachten aber die Gleicheitslüge und beugen uns vor den naturgegebenen Rängen.”(3) In der Tat: Ein explizit antiwestlich orientierter Vertreter des deutschen Sonderweges wurde der Nation in diesem Sommer als der vorbildliche Deutsche präsentiert.
Und dennoch: In immer neuen Varianten hatte Bill Clinton in Bonn und Berlin den Nutzen einer deutschen Dominanz für den Rest von Europa und die Welt betont. “Nichts wird uns aufhalten. Alles ist möglich” hatte er gar in deutscher Sprache unter dem Jubel der Berliner ausgerufen. Mit geradezu aufdringlicher Penetranz wiederholte er seine Empfehlung, die deutsche Vormacht in Europa künftig auch auf Knobelbechern wahrzunehmen. “Alles was getan werden kann, um Deutschland in die Lage zu versetzen, seine Führungsverantwortung tatkräftig wahrzunehmen” müsse man begrüßen. Entsprechend begeistert reagierte er auf den Karlsruher “Out-of-aera”-Beschluß, welcher den Wechsel von den Streitkräften der alten Bundesrepublik zur Bundeswehrmacht der neudeutschen Großmacht symbolisiert.

“Was sonst immer im Leben der Nation trennend sein mag, soll durch das Heer zu einender Wirkung gebracht werden”, schrieb Adolf Hitler in “Mein Kampf”. Dem antimilitaristischen Zitat eines Kurt Tucholsky (“Soldaten sind Mörder”), das zur Staatsaffäre wird, weil bei der Unglimpfung des deutschen Soldaten die Meinungsfreiheit ihre Grenze inzwischen erreicht, stehen gegenüber: Uniformierte Fackelträger am Brandenburger Tor, Bundeswehrparaden in Berlin und Paris und der Große Zapfenstreich im Fackelschein vordem Brandenburger Tor. Das neue Auftreten deutscher Streitmächte hat wie nichts anderes die Ereignisse dieses Sommers bestimmt. Aus Anlaß des Gedenkens an den 20. Juli waren ein Wachbataillon und ein Soldatenzug der Bundeswehr, die Nationalhymne intonierend, in den Innenhof des Bendlerblockes einmarschiert; anläßlich der Ehrung der im Zweiten Weltkrieg gefallenen sowjetischen Soldaten gestalteten russische und deutsche Soldaten unter Führung von Generalinspekteur Naumann die Militärzeremonie; die Verabschiedung der Westalliierten wurde im Rahmen des (vornehmlich vom deutschen Soldaten gestalteten) Großen Zapfenstreichs mit Fernseh-Direktübertragung durchgeführt und der bis heute wichtigtes Auslandseinsatz der Bundeswehr vollzog sich auf Einladung des französischen Staatspräsidenten auf der Paris Prachtstraße, den Champs-Elysees.
Es gibt neben der Bundeswehr keine andere Institution, die derart unverhohlen die Traditionen des Kaiserreichs und des Nationalsozialismus zu ihren eigenen macht. Daß die politische Leitung des Bundesverteidigungsministerium 1993 ausgerechnet den Bendlerblock in Berlin – ehemals Sitz des Reichsmarineamts, des Reichswehrministeriums sowie des Oberkommando des Heeres – als Standort gewählt hatte, war Programm. “Es gehe bei der Indienststellung des Gebäudes nicht um einen Umzug, sondern um die Weiterentwicklung der Geschichte”, hatte Bürgermeister Diepgen erklärt. “Es sei bedeutsam, daß die Bundeswehr in dieses Haus einziehe und damit ein Bekenntnis zur ganzen deutschen Geschichte, insbesondere zum Widerstand gegen Hitler” ablege.” Widerstand meint den militärischen Widerstand des 20. Juli, meint Stauffenberg, der für die künftige Bundeswehr etwa das werden soll, was Leo Schlageter für die Freikorps-Bewegung gewesen ist: Traditionsstifter und Aktionspatron.
Das Stauffenberg’sche Vermächtnis, erklärte Klaus Naumann, der Generalinspekteur der Bundeswehr in der Zeitschrift “Information für die Truppe”, sei heute “noch nicht eingelöst … denn die Welt, wie unser wieder unruhig gewordenes Europa, ist noch nicht frei von Unrecht, Unterdrückung, Diktatur und Völkermord.” Statt “Egoismus und Hedonismus” bedarf es neuer Tapferkeit: “Für alle, die das Vermächtnis des 20. Juli anerkennen, darf das Gedenken sich nicht mit Passivität und gelähmten Zusehen verbinden, nein, es muß zur Bereitschaft führen, durch Handeln Verantwortung zu unternehmen.” Weil in Zukunft der gehorsam zum Heldentod bereite Soldat wieder gebraucht wird, darf auch der nationalsozialistische Opfermut des Wehrmachtssoldaten nicht länger denunziert werden. Zum Vermächtnis des 20. Juli, so Naumann, gehöre auch dies: “Die Handlungsweise von Soldaten, die sich gegen Befehle wandten (!), oder die desertierten, kann man nicht pauschal als Widerstand bezeichnen und sie damit mit dem Handeln der Männer des 20. Juli gleichstellen. Man kann aber auch nicht im Gedenken an den Widerstand den Opfermut und die Tapferkeit der Soldaten hintanstellen, die, mißbraucht von einem verbrecherischen Regime, ihre Waffen ehrenvoll führten.”
Hier haben wir das Resultat dieses Sommers komprimiert: Wiedervereinigung mit der Vergangenheit als Antriebskraft für die Zukunft. Wolfgang Schäuble, neuer Kanzler in spe, droht offen und in drei Sprachen, daß Deutschland “die Stabilisierung des östlichen Europa (auch) in der traditionellen Weise zu bewerkstelligen” in der Lage sei und unterstreicht diese Aussage mithilfe seines Generalstabsschefs, der mit dem Hohelied auf den “Opfermut”, die “Tapferkeit” und den “ehrenvollen” Waffengang der deutschen Wehrmacht schon mal die Zukunft besingt. Es ist nicht Äußerlichkeit, sondern inhaltliche Aussage, daß den in Paris aufgefahrenen Panzern das “Eiserne Kreuz” – ein Erkennungssymbol des deutschen Militarismus, mit welchem schon die kaiserliche Armee und die Wehrmacht sich geschmückt hatten – aufgepinselt worden ist.
Und dennoch: Beifall für die 24 Schützenpanzer der Bundeswehr, deren Großaufnahmen am 15. Juli die Titelseiten der französischen Medien schmückten. “Als zum letzten Mal deutsche Soldaten über die Champs-Elysees gezogen sind, waren das die Gefangenen nach dem Fall von Paris, sie wurden bespuckt und beschimpft”, hatte sich zuvor Kohl noch einmal rückblickend empört. Diesmal konnte er zufrieden sein: Marginalisiert waren jene, die wie der Schriftsteller Jean-Edern Hallier, das “morbide Verlangen” der Deutschen, über den Champs-Elysses defilieren zu wollen, angegriffen hatte; extrem klein war die von der KPF organisierte Demonstration “NON aux chars allemande le 14 juillet”. Gefeiert wurden stattdessen nicht nur der Kanzler und dessen Truppe, sondern auch jene Söhne angeblicher Widerstandskämpfer, die im Troß des Kanzlers den Aufmarsch verfolgten, darunter der Stuttgarter Bürgermeister Manfred Rommel, Sohn des Feldmarschalls Erwin Rommel, der noch drei Tage vor seinem Selbstmord an Hitler schrieb: “Mich beherrschte stets nur ein Gedanke – zu kämpfen und zu siegen für Ihr neues Deutschland. Heil, mein Führer!”. Daß Feldmarschall Rommel der FAZ als “Widerstandskämpfer” erschien, war neu, wenn auch im Trend der Zeit. Daß jener Haudegegen des Nationalsozialismus jetzt aber selbst in französischen Massenblättern wie France Soir als “grand resistant allemand au nazisme” gewürdigt worden ist, tat schon weh.
Die 1989ff artikulierten Hoffnungen macher linker AktivistInnen auf mächtige “Nie-wieder-Deutschland”Verbündete in London, Paris oder Tel Aviv nichts ist heute davon geblieben. Francois Mitterand hatte wohl oder übel Recht: Den Kritikern des Aufmarsches in Paris beschied er, “Stimme der Vergangenheit” zu sein, die Zustimmung aber sei “Stimme die Zukunft”. Mitterand steht mit dieser Position nicht allein. Roman Herzog hätte in Warschau ruhig all das sagen können, was er denkt: Als deutschfreundliche “Stimme der Zukunft” hätte sich Polens Staatspräsident Walensa in jedem Fall profiliert. Auch Israels Ministerpräsident Jizchak Rabin soll sich Pressemeldungen zufolge anerkennend zur neuen Rolle Deutschlands und der Bundeswehr geäußert haben.

Warum der internationale Schlußstrich unter die Geschichte, während sie aus Sicht deutscher Führung soeben wieder beginnt?
Weil, um Karl Marx zu paraphrasieren, die herrschende Geschichtsdeutung nicht anderes ist, als die Geschichtsdeutung der Herrschenden. Der Epochenwechsel von 1989 kannte Sieger und Verlierer. Sein größter Gewinner aber war Deutschland.
Geschichte wird tote Geschichte, wenn sie dem Sieger schadet: Die britisch-amerikanische D-Day-Maskerade in der Normandie war gelebtes Museum: Stilecht, originalgetreu, historisiert. Sie war das letzte Zugeständnis an die Veteranen der Anti-Hitler-Koalition, eine Art von Kompensation für eine neue Realpolitik, die von ihren Erfahrungen sich distanziert.
Geschichte wird lebendig, wenn sie dem Sieger nützt. Die von Volker Rühe schon bei seinem Einzug in den Bendlerblock angekündigte Auflösung der Berliner “Gedenkstätte deutscher Widerstand” (die in ihrer derzeitig noch durchaus sehenswerten Version den Widerstand in all seinen Facetten dokumentiert) zugunsten einer neuen Gedenkstätte zum “national-militärischen Widerstand” korrespondiert mit einer Publizistik, die die halb- oder vollnazistischen Positionen des 20. Juli hinsichtlich der deutschen Führung über Europa als “Antwort auf die Fragen dieser bewegten Zeiten” feiert und propagiert.
Das neue Geschichtsbild verstärkt zugleich den Trend: Die Erinnerung der Angehörigen der Anti-Hitler-Koalition war in den letzten 50 Jahren ein Faktor, der dazu beigetragen hatte, deutsche Expansions- und Revachebestrebungen in Schach zu halten. Heute wird der Faden, der Erinnerung und Gegenwart verbindet, zerschnitten. Wenn das Gegengewicht der Erinnerung fällt, erhält die abenteuerliche Tendenz des deutschen Imperialismus neuen Aufwind. Deutsche Demaskierungen, wie das unverschämte Schäuble-Papier zur Europapolitik, werden hieran nichts ändern. Die von den ehemaligen Siegermächten 1989/1990 getroffene Entscheidung, zum bösen Spiel eine möglichst gute Miene zu machen, bleibt als außenpolitisches Muster dominant. Aus welcher Interessenlage heraus sollten die Konkurrenten und zugleich Verbündeten Deutschlands heute auch anders handeln, als sie es mit dem Münchener Abkommen von 1938 oder der Verzögerung ihrer Landung in der Normandie 1943/44 getan hatten?

Max Müntzel

Quellen: FAZ, 7.6.94; Karl D. Bredthauer, Weimarisierung?, in: Blätter 9/94; Spiegel vom 11.7.94; Spiegel 21/1994; Das Parlament, 5.8.94; FAZ, 21.7.94; FAZ, 31.8.94; Zeit, 2.9.94; Spiegel 20/94; FR, 1.9.94; BILD, 1.9.94; FAZ, 3.9.93; FR, 13.6.94; SOZ, 16.6.94; France Soir, 15.7.94; FAZ, 6.4.94.

1) Die “Blätter für deutsche und internationale Politik” haben den Aufsatz der Washington Post (Marc Fisher, The Rewriting on the Wall?”, WP vom 24.7.94) übersetzt und in ihrer Septemberausgabe veröffentlicht.
2) Siehe etwa die Stellungnahme des “Antinationalen Plenum Hamburg” aus Anlaß der Besetzung der Berliner Gedenkstätte (nachgedruckt in: Interim Nr. ) sowie konkret 7/94.
3) Dieser Hinweis stammt von Karl D. Bredthauer in: Blätter 9/94. Als Quelle des Zitats wird dort H. Steffahn, Stauffenberg, Reinbek 1994, S.114 genannt.

(aus: bahamas 15, 10/1994)