Früchte des Wahns

Die Israelfeindschaft der arabisch-islamischen Welt gilt vielen als triftig. Was aber hat der Judenhass wirklich mit der Politik Israels zu tun?

Von Matthias Küntzel

Taz, Februar 2004

Menschen töten, nur weil sie Juden sind: Dies war das Ziel der islamistischen Anschläge in Mombasa, Casablanca und Istanbul. Menschen dämonisieren, nur weil sie Juden sind: Darauf zielte die Rede des scheidenden malaysischen Ministerpräsidenten Mahathir Mohamad, der im Oktober 2003 als erster Regierungschef seit 1945 den Antisemitismus vor den Teilneh-mern einer Islam-Gipfelkonferenz propagierte und anschließend Standing Ovations erhielt.

Ausmaß und Wesen dieses Judenhasses werden in Deutschland kaum richtig erfasst. Wäh-rend der Antisemitismus eines MdB Hohmann berechtigte Empörung provoziert, wird der-selbe Antisemitismus verharmlost oder ignoriert, wenn er sich islamisch artikuliert. Dann zeigen viele beschwichtigend auf Scharon: Hat nicht dessen Politik den islamischen Antise-mitismus erst provoziert? Wird dieser Spuk nach Lösung des Nahostkonflikts nicht schnell wieder verschwunden sein?

Gewiss besteht zwischen der Entwicklung des Nahostkonflikts und der Mobilisierung von Antisemiten ein Zusammenhang. Dennoch ist die Separierung zwischen einem “wahnhaften” Antisemitismus bei Hohmann und einem “triftigen” Antisemitismus in der arabisch-islamischen Welt, da dieser sich immerhin auf reale Probleme beziehe, absurd. Erstens basie-ren islamischer und europäischer Antisemitismus gleichermaßen auf dem Phantasma der Weltverschwörung, das die Juden als Menschheitsfeinde dämonisiert. In beiden Fällen wird rassistisch argumentiert: Man dichtet “den Juden”, um sie zu enthumanisieren, unveränderli-che negative Eigenschaften an. Weltverschwörungstherorie und antijüdischer Rassismus ha-ben mit dem traditionellen Judenbild im Islam nichts gemein. Es ist die Ideologie der Nazis, die hier lebendig wird: Wir blicken der Fratze der eigenen Geschichte ins Gesicht.

Zweitens beweisen die Erkenntnisse der Sozialwissenschaft, dass Antisemitismus mit jüdi-schem Verhalten nichts zu tun hat. Auch eine noch so kritikwürdige Politik der israelischen Regierung mag zwar den Zorn auf diese Regierung steigern, niemals aber verschafft sie der antisemitischen Gewissheit, Washington werde in Wirklichkeit von Jerusalem aus regiert, Plausibilität. Wer aber erst mal dieser dämonisierenden Wahnvorstellung anheim gefallen ist, wird sein antijüdisches Feindbild in allem, was eine israelische Regierung tut oder lässt, bes-tätigt finden.

Drittens ist auch historisch der arabisch-islamische Antisemitismus keine unmittelbare Folge des Nahostkonflikts. Schon 1894 – die zionistische Bewegung war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht existent – erschien die erste arabische Übersetzung der antisemitischen Schrift “Der Talmud-Jude” von Eugen Dühring, die das Konzept einer “Bedrohung durch Juden” popula-risierte und die als der Anfangspunkt des arabischen Antisemitismus gelten kann. 1920 folgte die erste arabische Übersetzung der “Protokolle der Weisen von Zion”.

Als ein Jahr später, am 14. März 1921, der damalige britische Kolonialminister Winston Churchill Jerusalem besuchte, wurde er vom Palestinian Arab Congress mit einem antisemi-tischen Dokument konfrontiert, wie es der Nazi-Ideologe Alfred Rosenberg nicht besser hätte abfassen können: “Juden haben zu den aktivsten Befürwortern der Zerstörung in vielen Län-dern gehört”, betont jenes Memorandum der Palästinenser, welches dem konkreten Verhalten zionistischer Siedler keine Silbe widmet. “Es ist wohl bekannt, dass die Desintegration von Russland vollständig oder zu einem großen Teil von den Juden bewerkstelligt worden ist. In einem großen Maße sind sie auch für die Niederlage von Deutschland und Österreich ver-antwortlich zu machen. Der Jude ist ein Jude überall in der Welt. Er unterstützt Kriege, wann immer das Eigeninteresse es nahe legt, und benutzt so die Armeen der Nationen, die tun sol-len, was ihm beliebt.”

Im Geiste dieser rabiat antisemitischen Position wurden im Frühjahr 1920 und 1921 die alten jüdischen Viertel von Jerusalem und Jaffa unter Führung des späteren Mufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, demoliert und 48 Juden getötet. 1929 fand ein weiteres Massaker in den jüdischen Vierteln von Hebron und Safed statt. Auch hier wurden nicht Zionisten, sondern unbewaffnete Angehörige des alten Jischuw attackiert und 133 von ihnen erschlagen. Der Mufti führte als Rechtfertigung die “Protokolle der Weisen von Zion” an. Antisemitische Manifeste und Pogrome waren also schon zwanzig Jahre vor der Gründung Israels Realität. Mehr noch: Dieser Judenhass hat den Nahostkonflikt bis heute geprägt.

Gewiss beschworen zionistische Einwanderung und jüdischer Landerwerb Konflikte aller Art herauf. Dennoch stieß der Antisemitismus des Mufti auch bei palästinensischen Muslimen auf Kritik. So nahm 1924 die einflussreiche Großfamilie der Naschaschibis die jüdische Re-ligion gegen antisemitische Verleumdungen in Schutz. Zahlreiche Dorfscheichs unterzeich-neten Petitionen, in denen sie sich vom Mufti-Kurs distanzierten und die zionistische Ein-wanderung befürworteten.

Amin al-Husseini, der 1921 von den britischen Mandatsträgern in sein Mufti-Amt eingesetzt und über Jahrzehnte von London hofiert worden war, setzte sich jedoch durch. Von der Mo-schee aus erhob er den unerbittlichen Kampf gegen die Juden zur obersten Pflicht aller Gläu-bigen. Wer sich seinen antijüdischen Vorgaben nicht beugte, wurde in den Freitagsgebeten namentlich denunziert und bedroht. Als den Palästinensern 1937 erstmals ein eigener Staat neben einem jüdischen angeboten wurde, stimmten nicht nur die Zionisten, sondern die ge-mäßigten Palästinenser vom Clan der Naschaschibis zu. Dieser Staat scheiterte allein am Veto Amin al-Husseinis.

1947 wurde anlässlich des UN-Teilungsplans für Palästina die zweite große Chance einer Einigung vereitelt. Mit größter Vehemenz sorgte der Mufti im arabischen Lager für die Ab-lehnung des UN-Beschlusses, um den Krieg gegen den neu gegründeten jüdischen Staat vor-zubereiten. Der skandalöse Umstand, dass der in Europa als Nazi-Kriegsverbrecher gesuchte al-Husseini erneut als Sprecher aller Palästinenser reüssieren konnte, erhielt so historisches Gewicht. Später engagierte sich der Exmufti als Pate und Finanzier der 1959 gegründeten Fatah und setzte 1968 Jassir Arafat inoffiziell als seinen Nachfolger ein. “Amin al-Husseini hatte den Eindruck, dass Arafat der richtige Führer für die palästinensische Nation war”, be-richtete später Muheidin al-Husseini, sein Schwiegersohn.

Auch wer der israelischen Politik Fehler und Menschenrechtsverletzungen ankreidet, kommt somit um die Erkenntnis nicht herum, dass die zionistische Bewegung und der Staat Israel von Anfang an einer Bewegung gegenüberstanden, die sich nicht von Rationalitätskalkülen, sondern von einer antisemitisch motivierten Vernichtungswut gegen Juden leiten ließ. Die Zuspitzung des Nahostkonflikts hat nicht den Antisemitismus bewirkt, sondern der Antisemi-tismus jene Zuspitzung. Wenn es aber nicht der Konflikt um den Besitz von Land gewesen ist, der den antisemitischen Funken in Palästina zum arabisch-islamischen Steppenbrand ent-fachte – was war es dann?

Stets setzten antisemitische Ideologen die Juden mit den bedrohlichen Aspekten der moder-nen kapitalistischen Welt in eins. Dafür bog man in Europa die Wirklichkeit zurecht. Nicht so in Palästina: Hier verkörperten die einwandernden Zionisten tatsächlich Kapitalismus und Modernität. Die progressiven russischen Juden, die nach dem Scheitern der Revolution von 1905 in das Land strömten, sahen sich mit vormodernen Zuständen konfrontiert: unmittelbare Herrschaft des Patriarchats und Unterjochung der muslimischen Frau, striktes Loyalitätsge-bot gegenüber dem eigenen Familienclan, gnadenlose Herrschaft der Religion. Sie praktizier-ten demgegenüber einen anderen Lebensstil, gekennzeichnet durch Säkularität, individuelles Streben nach Glück, Meinungsfreiheit und Gleichstellung der Frau, und dachten gar nicht daran, den diskriminierenden Status anzuerkennen, den der traditionelle Islam für Christen und für Juden vorgesehen hat.

Dieser Impuls der Moderne stieß in der islamischen Welt nicht nur auf Ablehnung. “Die Zio-nisten sind für dieses Land [Palästina] notwendig”, schrieb 1913 beispielsweise der Heraus-geber der ägyptischen Zeitung al-Ahram. “Das Geld, das sie bringen werden, ihre Intelligenz und der Fleiß, der sie charakterisiert, werden ohne Zweifel dazu beitragen, das Land wieder zu beleben.”

1924 trat in der Türkei das modernistische Leitbild Kemal Atatürks an die Stelle des Kalifats. In Palästina aber ließ der Mufti dieser Strömung im Islam keinen Raum. “Das Kino, das The-ater und einige schamlose Zeitungen kommen wie Nattern in unsere Häuser und Höfe, wo sie die Moral töten und die Grundlagen der Gemeinschaft zerstören”, rief er 1935 auf einer Kon-ferenz islamischer Religionslehrer aus. “Die jüdischen Mädchen, die in kurzen Hosen herum-laufen, demoralisieren unsere Jugend durch ihre bloße Anwesenheit.” Jerusalem war für den Mufti der Kristallisationskern der “Wiedergeburt des Islam” und Palästina das Zentrum, von dem aus der Widerstand gegen die Juden und die Moderne ihren Anfang nehmen sollte.

Es ist bemerkenswert, wie 1943 Giselher Wirsing, ein führender Nazi-Journalist und Bewun-derer des Mufti, die Konfliktparteien beurteilte. “In Palästina”, so Wirsing, “verkörpert sich kapitalistische Denk- und Lebensform (mit ihrer marxistischen Entsprechung) allein im Ju-dentum.” Eine vollständig andere Rolle spiele demgegenüber der Islam, “wo die Ideen des Westens die Substanz der überkommenen Lebensform noch nicht zu erschüttern vermochten. In Palästina ist durch die Tatsache, dass der Mufti gleichzeitig nationalarabischer Führer wurde, der Einbruch liberalistischer Ideen überhaupt kaum erfolgt.” Den Naschaschibis wies Wirsing eine Mittlerfunktion zu: “Wie es scheint, wäre [für den Einbruch liberalistischer I-deen; Anmerkung M. K.] allenfalls die Familie der Naschaschibi geeigneter gewesen, wes-halb sie auch von England besondere Förderung erfuhr.”

Wirsing hatte Palästina im Auftrag der SS in den Jahren des “Arabischen Aufstands” (1936 bis 1939) zweimal bereist. Dieser “Aufstand” richtete sich seit 1937 hauptsächlich gegen die modernisierungsfreundliche Fraktion der Palästinenser und markierte für die Entwicklung Palästinas den Wendepunkt. Der Mufti erhielt von Nazi-Deutschland Rückendeckung und besiegte die reformwillige Fraktion. Gleichzeitig verwandelte er Teile Palästinas in islamisti-sche Zonen, in denen die Rechtsprechung der Scharia galt. Diese Entwicklung kontaminierte fortan die gesamte arabische Welt. Grenzüberschreitend wurde der Hass auf Juden angesta-chelt, um die subversiven Elemente der Moderne, die der Zionismus in die Region brachte, zu bekämpfen und von den eigenen Gesellschaften fernzuhalten.

Dieser Zusammenhang zwischen Antisemitismus und Antimoderne macht die Beliebtheit der “Protokolle der Weisen von Zion” in der arabischen Welt plausibel. Der Text ist als Hetz-schrift gegen den Liberalismus konzipiert: Um den Kampf gegen individuelle Freiheiten vo-ranzutreiben, werden diese als zentrales Werkzeug einer globalen jüdischen Konspiration denunziert. Was vor hundert Jahren von zaristischen Agenten verbreitet wurde, um den Za-rismus zu retten, wiederholen seit fünfzig Jahren die Nachfolger Ibn Sauds, um den arabi-schen Feudalismus oder, wie im Falle Ägyptens, den herrschenden Machtapparat zu retten.

Niemand darf der naiven Hoffnung Nahrung geben, dass es lediglich einiger politischer Kon-zessionen Israels bedürfe, um die neuen Judenhasser zu stoppen. Israel und der islamische Antisemitismus haben durchaus miteinander zu tun, jedoch ganz anders als kolportiert. Eben-so wie der Antisemitismus der Nazis ist auch der Antisemitismus der Islamisten das Schlüs-selelement einer regressiven Revolution. Der Nahostkonflikt ist für antisemitische Attacken in Paris oder Istanbul nicht Ursache, sondern Gelegenheit, das Feindbild Scharon für Isla-misten nur Agitationsfläche und Verkleidung. Man muss diesen Deckmantel nur ein wenig anheben, schon lugen die “Protokolle der Weisen von Zion” darunter hervor, die die Charta der Hamas so stolz als ihren Leitfaden präsentiert. In Wirklichkeit geht es um die Abschaf-fung von Aufklärung, Vernunft und individueller Freiheit zugunsten einer repressiven Scha-ria-Diktatur.

MATTHIAS KÜNTZEL, 47, Politikwissenschaftler und Publizist, lebt in Hamburg. Sein Text ist die gekürzte Fassung seines Vortrags “Islamischer Antisemitismus”, den er im De-zember 2003 auf der vom Bundesfamilienministerium und der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland organisierten Konferenz “Ewiger Antisemitismus?” in Frankfurt am Main hielt.

aus: Taz-Magazin vom 21./22. Februar 2004