Die Deutschen und der Iran: Eine verhängnisvolle Freundschaft?

Martin Jehle und Haim Noll im Gespräch mit dem Politikwissenschaftler Matthias Küntzel

Von Matthias Küntzel

COMPASS, 21. Januar 2009

Jehle: Herr Dr. Küntzel, Sie sind Wissenschaftler. Ihr Buch ist wissenschaftlich erarbeitet. Aber geschrieben ist es subjektiv, wie eine Streitschrift. Allein der Titel ist schon eine Wertung.

Küntzel: Gut, ich spreche von einer “verhängnisvollen Freundschaft”. Das ist nach all den Recherchen mein Befund. Ich habe mich bemüht, ein Buch zu schreiben, das auf emotionalisierende Schlagworte verzichtet und gleichwohl gut lesbar ist.

Jehle: Was soll Ihr Buch erreichen, wen soll es erreichen? Sollen es die Beamten im Auswärtigen Amt lesen, sollen es Bundestagsabgeordnete lesen, soll es im vorpolitischen Raum wirken und von dort in die Politik?

Küntzel: Dies Buch soll aufklären und eine Diskussion initiieren. Es stellt eine gut fundierte Analyse und Positionsbestimmung in den Raum, die sich von der vorherrschenden Betrachtungsweise unterscheidet. Da die Minderheitsposition von heute die Mehrheitsposition von morgen sein kann, beanspruche ich, dass man sich mit meinem Standpunkt ernsthaft auseinandersetzt. Ich plädiere für einen Paradigmenwechsel der deutschen Iranpolitik. Deshalb richtet sich das Buch selbstverständlich auch an die Verantwortlichen im Bundestag und im Auswärtigen Amt.

Jehle: Warum schadet es den nationalen Interessen Deutschlands, wenn unsere Wirtschafts- und sonstigen Beziehungen zum Iran so bleiben, wie sie sind?

Küntzel: Ich glaube nicht, dass im Umgang mit Ideologien, die das Scharia-Recht global durchsetzen wollen, die Kategorie „nationales Interesse“ angemessen ist. Allerdings stehen Deutschland und Österreich als die Nachfolgestaaten des „Großdeutschen Reichs“ in einer besonderen Verantwortung.

Heute dominiert innerhalb der deutschen Elite die Vorstellung, dass man sich mit dem iranischen Regime gut stellen soll. „Wer in der Lage ist, den Iran auf seine Seite zu ziehen, hätte nicht nur energielogistisch ,ausgesorgt’, sondern könnte auch den USA gegenüber in anderer Weise auftreten“, las man 2007 im „Mittler-Brief“, einem renommierten Informationsbrief zur deutschen Sicherheitspolitik. Hier wird die Werte-Orientierung durch eine sogenannte Interessen-Orientierung ersetzt.

Eberhard Sandschneider, ein führender Mitarbeiter der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik, formulierte diesen Gedanken im Juni 2009, auf dem Höhepunkt der Zerschlagung der iranischen Demokratiebewegung so: „Man darf nie Moral mit strategischen oder wirtschaftlichen Interessen vermischen.“
Das ist angesichts der Tatsache, dass deutsche Industrielle einst auch mit Zyklon B Geld verdienten, ein bemerkenswerter Satz. Ich weiß nicht, wie Herr Sandschneider sein aopdiktisches Statement mit der Beteuerung, Deutschland habe aus der Geschichte gelernt, vereinbaren will.

Noll: Sie sagen, Außenpolitik solle sich auf Dauer nicht von ethischen Nomen lösen. Warum nicht?

Küntzel: Weil die deutsche Geschichte zeigt, wohin es führt, wenn sich Außenpolitik von ethischen Normen entfernt. Das Auswärtige Amt kann den Anspruch, man habe aus der Geschichte gelernt, einlösen oder ad absurdum führen. Im Sonderfall Iran scheint man sich vorerst für das Letztere entschieden zu haben.

Bill Clinton ging in den Neunzigerjahren einen anderen Weg. Damals zwang er die amerikanische Wirtschaft, ihre Handelsbeziehungen mit Iran abzubrechen. Natürlich protestierten die amerikanischen Konzernführer und erklärten: Wenn wir da rausgehen, gehen andere rein. Clinton jedoch blieb hart. Mit einem Land, das Terror exportiere und Atomwaffen anstrebe, dürfe man keine Geschäfte treiben. Um für den vernünftigen Teil der Weltgemeinschaft Vorbild sein zu können, nahmen die USA die wirtschaftliche Nachteile in Kauf.

Noll: Würden Sie sagen, dass eine Außenpolitik, die sich ganz hinwegsetzt über ethische Normen, auf Dauer zu einem Misserfolg verurteilt ist?

Küntzel: Es kommt darauf an, wie man Erfolg und Misserfolg definiert. Mit despotischen Regimes kann man besser Geschäfte machen, als mit Demokratien.

Bei der Gruppe um Ahmadinejad haben wir es allerdings mit einer völlig aus dem Ruder gelaufenen antisemitisch-apokalyptischen Clique zu tun. Sie unterdrückt nicht nur ihre eigene Bevölkerung. Für sie ist der Terror nach innen die Voraussetzung für den Terror nach außen. Sie wollen die Destruktionskraft der Bombe mit dem Furor des Religionskriegs verbinden – eine Kombination, wie es sie seit Beginn der Kernspaltung noch nicht gab. Deshalb ist es ja so erstaunlich, dass die deutsch-iranischen Beziehungen unter Ahmadinejad weitergehen, wie bisher. Nach meiner Einschätzung hat dies mit dem Beharren auf eine eingefleischte Traditionslinie zu tun.

Typisch scheint mir eine Aussage von Karl-Paul Drechsler, dem Chef der Iran-Abteilung von Siemens – gleichzeitig Vorstandsvorsitzender der Deutsch-Iranischen Industrie-und Handelskammer in Teheran – zu sein. Drexler erklärte im April 2009: “Die Geschichte der Beziehungen zwischen Deutschland und Iran auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet ist die solide Basis für eine weiterhin vertrauensvolle Zusammenarbeit und zugleich Verpflichtung, die sich über Generationen hinweg als stabiler Faktor bewährt hat und sich mit unser aller Unterstützung auch weiterhin bewähren wird.”

Drexler vergisst zu erwähnen, dass der Höhepunkt jener Beziehungsgeschichte in der Nazizeit lag. Mich erinnert seine Aussage an den Treuebegriff aus der Nibelungensage: Die „Geschichte“ des deutsch-iranischen Bündnisses ist „Verpflichtung“ für dessen Zukunft. Was die Generation der Naziväter begann, muss „mit unser aller Unterstützung“ weitergehen, komme da, was wolle. Die Treue der Nibelungen galt bekanntlich Mördern und führte in den Untergang. Im deutschen Idealismus wurde allerdings auch dies noch als „Erfolg“ glorifiziert.

Jehle: Aber Außenpolitik ist immer an gewisse Traditionslinien gebunden, ist historisch gewachsen und lässt sich nicht von heute auf morgen in eine neue Richtung verändern. Entspricht das, was dieser Siemens-Mitarbeiter sagt, nicht einer gewissen Souveränität und Eigenständigkeit Deutschlands, die vielleicht nach 1990 wieder zugenommen hat, einer stärkeren Souveränität deutscher Außenpolitik? In Ihrem Buch ist viel vom “Westen” die Rede, von Ländern wie Großbritannien, Frankreich, den USA, die ja in der ganzen Region des Nahen Osten starke Spuren hinterlassen haben. Ist es nicht gut, wenn Deutschland da mehr eine Mittellage einnimmt? Wenn wir immer Teil einer westlichen Staatengruppe sein wollen, dann nutzen wir ja gar nicht die historisch gewachsene Beliebtheit, die wir dort haben.

Küntzel: Man kann es natürlich in Ordnung finden, an die Arier- und Hitler-Begeisterung der Iraner anzuknüpfen. Ich sehe das anders.

Jehle: Nun macht aber auch Frankreich seine eigene Arabien-Politik. Es ist nicht so, dass die westlichen Staaten immer an einem Strang ziehen. Deutschland geht bei den meisten Entscheidungen des westlichen Bündnisses mit, bei einigen nicht. Wir haben beim Iran unsere eigene Nische, die Franzosen bei ihrer Arabien-Politik und die USA meinetwegen in Südamerika. Das ist nichts, was man grundsätzlich ablehnen muss. Ich lese mal eine Stelle Ihres Buches vor, auf Seite 298: “In diese Mittellage hat ich die deutsche Außenpolitik im Rahmen der “5+1 Gespräche” offenkundig manövriert. Weder fest ins Lager des Westens, noch fest ins Lager Russland und China eingebunden, schwankt sie je nach Bedarf hin und her. Ein Standort der Mitte wird angesichts der iranischen Herausforderung aber nicht zu halten sein. Berlin muss entscheiden, wie es sich zu positionieren gedenkt. An der Seite des Westens gegen den Islamismus oder an der Seite des Islamismus gegen Israel und die USA.” Das klingt ein bisschen pauschal. Großbritannien macht es doch seit Jahrhunderten so, immer eigenständig, auch jetzt mit EU und Nato.

Küntzel: Ich beziehe mich auf die iranische Herausforderung. Da gibt es keinen „Mitte“. Entweder man akzeptiert die nukleare Option des Iran oder man will sie verhindern.

Natürlich dürfen Staaten aus Bündnissen ausbrechen und einen eigenständigen Kurs fahren. Warum aber stellt die Bundesregierung diese Eigenständigkeit ausgerechnet dadurch unter Beweis, dass das Land der früheren Holocaust-Täter mit dem Land der heutigen Holocaust-Leugner besonders eng und vielseitig kooperiert? Warum ist Deutschland der wichtigste westliche Partner eines Landes, das als einziges in der Welt den Antisemitismus und die Auslöschung Israels propagiert? Diese Fragen werden derzeit in Deutschland nicht einmal gestellt, geschweige denn diskutiert. Mein Buch will dies ändern.

Jehle: Also, Wertepolitik, werteorientierte Außenpolitik versus Realpolitik. Falls das ein Widerspruch ist, muss die Balance gefunden werden. Sie haben gerade die USA als Beispiel für wertegebundene Außenpolitik – bezogen auf den Iran – genannt. Sind Sie sicher, dass kein amerikanischen Unternehmen im Iran engagiert ist?

Küntzel: Natürlich nicht. Erstens wurden seinerzeit bestimmte Produkte – wie zum Beispiel Arzneimittel und Lebensmittel – nicht ins Embargo aufgenommen, um der Bevölkerung nicht zu schaden. Zweitens gibt es immer Firmen, die mit Umgehungsstrategien ihre Produkte auch in Iran zu verkaufen suchen. Kommt dies ans Tageslicht, wird gegen diese Firmen ermittelt, da es hierfür gesetzliche Grundlagen gibt. Während sich die Sanktionspolitik der USA an bestimmten Grundwerten orientiert, scheint sich die deutsche Iranpolitik an den von Eberhard Sandschneider erwähnten „strategischen oder wirtschaftlichen Interessen“ zu orientieren.

Allerdings hat mir noch keiner der Verantwortlichen erklären können, was er an dem drohenden nuklearen Schlagabtauschs, der auch Mallorca in eine radioaktive Wüste verwandeln würde, „strategisch oder wirtschaftlich“ so interessant findet.

Insofern scheint mir Ihre Gegenüberstellung – werteorientierte Außenpolitik versus Realpolitik – nicht schlüssig zu sein.
Real ist Iran seit dem demokratischen Aufstand von Juni 2009 in zwei sich feindselig gegenüberstehende Lager geteilt. Die Bundesregierung und die deutsche Industrie stehen vor der Entscheidung, wem sie die Hand reichen wollen: Der Minderheit, die sich durch blutige Unterdrückung an der Macht hält, oder der Mehrheit, die für Freiheit eintritt und diese irgendwann auch erkämpft haben wird.

Schon jetzt boykottiert jene Mehrheit die Handys von Nokia-Siemens, weil dieses Unternehmen das Regime unterstützt. Ich finde es nicht besonders realpolitisch, sondern eher halsbrecherisch, wenn Deutschland den Apokalyptikern um Ahmadinejad Flankenschutz gewährt.

Jehle: Sehen Sie mit der neuen Regierungskoalition, besonders wegen des gestiegenen Gewichts der CDU, die Chance, dass sich der ethische Anteil an deutscher Außenpolitik erhöhen könnten?

Küntzel: Politik ist veränderbar, insofern gibt es immer ein Chance. Allerdings muss ich daran erinnern, dass es seinerzeit Helmut Kohl war, der die deutsch-iranische Zusammenarbeit auf dem Geheimdienstsektor entwickelte. Mein Buch ruft all die Skandale aus der christdemokratischen Regierungszeit in Erinnerung: Den Mykonos-Skandal, die Rushdie-Affäre sowie die Antwort des damaligen iranischen Präsidenten Hashemi Rafsandjanis auf einen Brief Helmut Kohls, die in dem Satz gipfelte: „Beide Völker sind arischer Rasse!“

Einerseits ist der Paradigmenwechsel der deutschen Iranpolitik nach dem Demokratieaufstand von Juni 2009 überfällig. Andrerseits wurde bislang gerade die deutsche Iranpolitik weder vom Bundestag noch von der Öffentlichkeit auf den Prüfstand gestellt.

Innerhalb der CDU scheint es zwei außenpolitische Lager zu geben, die sich auch in Punkto Iran voneinander unterscheiden. Man könnte sie als den Ruprecht-Polenz-Flügel und den Eckart-von-Klaeden-Flügel bezeichnen. Der CDU-Abgeordnete Ruprecht Polenz war zwischen 2005 und 2009 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag. Bei Iran sind zwischen ihm und dem Kurs des früheren Außenministers Frank-Walter Steinmeier keine Unterschiede auszumachen. Beide bedienen in Zusammenarbeit mit Volker Perthes, dem unter rot-grün eingesetzten Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, das Feindbild USA. Beide suchen das „Feindbild Iran“ – unter dem Beifall der Linkspartei und der Grünen – als Propagandagemälde abzutun, ohne sich um den Wortlaut der Reden Ahmadinejads groß zu kümmern.

Demgegenüber gibt es eine Gruppe jüngerer CDU-Abgeordneter, die innerhalb der CDU/CSU-Fraktion eine pro-atlantische Strömung forcieren und das Gefahrenpotential Irans realistischer beurteilen. Zu ihnen gehören Eckart von Klaeden, Phillip Missfelder und Karl-Theodor zu Guttenberg. Welcher der beiden Flügel sich durchsetzen wird, ist offen. Natürlich werden gerade jetzt, kurz nach der Bundestagswahl die Weichen gestellt. Nun wäre es übrigens auch an der Zeit, die Position des Direktors der Stiftung Wissenschaft und Politik zu überdenken.

Noll: Die außenpolitischen Ambitionen des Iran sind eindeutig erkennbar in der mittelöstlichen Region. Sie sind auf eine Hegemonialpolitik ausgerichtet, auch gegenüber den anderen islamischen Staaten. Gibt es von diesen Staaten keine Signale an die Bundesrepublik? Die Bundesrepublik hat ja auch Beziehungen zu den arabischen Staaten, zu Saudi-Arabien, beispielsweise. Gibt es bisher keine Proteste aus dieser Gruppe von Staaten, die sich vom Iran bedroht fühlen? Der Konflikt zwischen dem Iran und Israel ist nicht der einzige in diesem Zusammenhang, er ist nicht mal tiefer als der zwischen Iran und den sunnitischen Ländern der Region, Saudi-Arabien, Ägypten, Jordanien. Es sind im Grunde zwei Konflikte, die sich da aufbauen. Sehen Sie Anzeichen dafür, dass die anderen islamischen Staaten der Region von der Bundesrepublik eine gewisse Verantwortung einklagen werden?

Küntzel: Ich teile Ihre Analyse: Je eindeutiger Deutschland auf die iranische Karte setzt, desto mehr gerät es in Widerspruch zur arabischen Welt. Dennoch drangen bislang keine Proteste aus der arabischen Welt an die Öffentlichkeit. Wahrscheinlich ist dies kein Zufall: die von ihnen genannten Länder geben sich äußerlich besonders anti-israelisch und anti-amerikanisch. Gleichzeitig hat man eine Heidenangst, am Ende dem iranischen Hegemonialanspruch allein gegenüber zu stehen.

Jehle: In Ihrem Buch, Seite 30, erwähnen Sie den niederländischen Iran-Forscher Hurgronje, der vor dem Ersten Weltkrieg einen Aufsatz überschrieben hat mit “Heiliger Krieg – Made in Germany”. Dazu schreiben Sie: “Hohe Aktualität auch heute noch.” Das gegenwärtige Deutschland mit den Heiligen Krieg in Verbindung zu bringen, ist starker Tobak. Das müssen Sie näher erklären.

Küntzel: Im ersten Weltkrieg setzte Kaiser Wilhelm II. auf den reaktionärsten Teil der Muslime, indem er sie zum Djihad gegen den Westen sowie gegen Russland aufstachelte. Er hing einer Art Karl-May-Romantik an und betrachtete die Muslime als Verbündete des Deutschen Reichs. Damals wurde die Zeitschrift „Al Jihad“ in Berlin gedruckt und in vielen östlichen Sprachen verteilt. Die aufklärten Muslime empfanden diesen Rückgriff auf das islamische Mittelalter als Provokation. Und doch beobachte ich bis heute in Deutschland eine Tendenz, die westlich orientierten Muslime zu vernachlässigen und ausgerechnet in dem Typus eines Khomeini den „authentischen Muslim“ zu sehen.

Diese Haltung wurde erneut anlässlich der Todesfatwa gegen den britischen Schriftsteller Salman Rushdie manifest. Man verteidigte ihn gegen die Fatwa Khomeinis und bedauerte im gleichen Atemzug, dass sein Buch Muslime beleidigt habe. Dabei hatte Rushdie gerade deshalb unsere Solidarität verdient, weil er es wagte, bestimmte reaktionäre Denkweisen im Islam aufzubrechen.

Während man Dissidenten aus dem kommunistischen Machtbereich aufgrund ihrer mutigen Haltung zu feiern pflegte, standen Dissidenten aus dem islamischen Machtbereich unter Verdacht. Der syrische Philosoph Sadik al-Azm führt diesen Mangel an inhaltlicher Solidarität auf eine tief verankerte Arroganz zurück. Man betrachte Muslime als Menschen, die auf ewig in ihren kulturellen „höchst authentischen“ Einheiten eingeschlossen seien. Ich kritisiere diese Haltung und führe sie unter anderem auf den von Karl May und Kaiser Wilhelm begründeten Romantizismus in Sachen „Islam“ zurück.

Jehle: Der damalige Außenminister Joschka Fischer hat 2003 zusammen mit seinem britischen und französischem Kollegen anerkannt, dass der Iran das Recht habe, Atomenergie für friedliche Zwecke im Sinne des Atomwaffensperrvertrages zu verwenden. 2004 kam dann die „Pariser Vereinbarung“ hinzu, in der unter anderem eine „nukleare, technologische und ökonomische Zusammenarbeit“ mit dem Iran vereinbart wurde. Sehen Sie da eine Verbindung zu der Stelle in Ihrem Buch, wo Sie Fischer aus einer Zeitschrift zitieren, in der er mit der iranischen Revolution sympathisiert? Sehen Sie da eine Linie, die 2003 einen realen, konkreten Ausdruck gefunden hat, die sich zurückverfolgen lässt bis zu der besagten Äußerung?

Küntzel: Sie sprechen hier einen anderen Aspekt jenes nachhaltigen antiwestlichen Ressentiments an. Der von Ihnen skizzierte Zusammenhang existiert. So ließ Außenminister Joschka Fischer im September 2004 eine Rede verbreiten, in der er das Regime aufforderte, die Europäer als ihr Schutzschild zu betrachten, das sie vor den bösen Amerikanern schützt. Natürlich erinnert diese Metapher an die berühmte Parole der 1968er: „Hoch die internationale Solidarität!“.

Jehle: Also eine Fischer’sche Kontinuitätslinie?

Küntzel: Nein – Fischer orientierte sich an den Stimmungen seiner Zeit. Innerhalb der Grünen vertrat er eine pro-westliche Linie. Als Außenminister setzte er die deutsche Vorrangpolitik hinsichtlich Irans jedoch fort. Die Entdeckung von 2003, dass Iran geheime Atomanlagen gebaut und den Atomwaffensperrvertrag seit 15 Jahren gebrochen hatte, war in seine Amtszeit gefallen. Anstatt wenigstens jetzt die Prämissen der deutschen Iranpolitik zu hinterfragen, setzte er diese wie alle seine Vorgänger fort.

Jehle: Selbst wenn der Diskurs, den Sie entfachen wollen, zustande kommt, bin ich mir nicht sicher, wie er ausgeht. Die Währung der Innenpolitik heißt Wählerstimmen und da geht es vor allem um Wirtschaft und Arbeitsplätze. Historische und moralische Argumente, die Sie aus der deutschen Geschichte ableiten, werden mit wachsendem Zeitabstand immer schwächer und haben bei der deutschen Iran-Politik schon in der Vergangenheit nichts bewirkt. Das macht Ihre Argumente nicht schwächer, aber es ist ein realistischer Befund.

Küntzel: Alle Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit lieber Sanktionen will als das Risiko eines Kriegs. Im übrigen wird die Bedeutung Irans für die deutsche Wirtschaft übertrieben.

Gemessen am Gesamtvolumen deutscher Exporte liegt der Exportanteil für Iran bei 0,6 Prozent. Diese Zahl stammt von 2005, dem Jahr, in dem der Wert der Iranexporte seien Höhepunkt erlebte. Ein Stop der wirtschaftlichen Beziehungen wäre für Deutschland gut verkraftbar, nicht aber für das Regime. Teheran ist auf deutsche High-Tech-Produkte und auf Ersatzteile für seine Maschinenparks, die mehrheitlich aus Deutschland stammen, angewiesen. Auf diesem Sektor können auch Russland oder China die deutschen Einfuhren kurzfristig nicht ersetzen.

Neben den wirtschaftlichen Beziehungen gibt es zahlreiche weitere bilaterale Verbindungsstränge im Bereich Forschung, Kultur und Politik. All diese Verbindungsstränge dienen heute als eine Art Sicherungsnetz für die gegenwärtige Politik Ahmadinejads. Sie können aber auch als Druckmittel eingesetzt werden, um die Atompolitik Teherans zu beeinflussen.

Die entscheidende Frage ist: Was will die Politik? Wenn das Bundeskanzleramt sich dafür einsetzte, dass Europa eine eigenständige Sanktionsstrategie gegenüber Iran auf den Weg bringt, entstünde eine Bewegung, die auch andere westliche Staaten mitreißen und letztlich auch Russland und China beeinflussen könnte. Paris und London treten seit 2007 für diese Europastrategie ein – es war in erster Linie Deutschland, das dieses Projekt immer wieder scheitern ließ.

Angesichts der Legitimationskrise des iranischen Regimes sind auch die deutsch-iranischen Beziehungen in eine Krise geraten. Deshalb stellt sich heute die Frage nach dem „Wie weiter“ mit einer besonderen Dringlichkeit. Der dringend erforderliche Paradigmenwechsel der deutschen Iranpolitik rückt in den Bereich des Möglichen. Mein Buch will für diesen Wechsel Materialquelle und Ansporn sein.

Jehle: Nun gibt es jedoch auch die These vom “Wandel durch Handel bzw. Annäherung” noch aus der Zeit des Kalten Krieges.

Küntzel: Eine gedankenlose Leerformel! Zwischen 2002 und 2005 stieg der Wert der deutschen Iranexporte rasant an. Gleichzeitig schränkte das islamische Regime die ohnehin begrenzten Freiheiten extrem ein.

Der religiösen Fanatismus der Khomeinisten basiert auf einer anderen Ideologie, als das Unterdrückungssystem des Warschauer Pakts. So basierte das Gleichgewicht des Schreckens, das während des Kalten Krieges den Einsatz von Atomwaffen verhinderte, auf dem Wissen, dass beide Seiten – der Kreml und das Weiße Haus – das Leben lieben und deshalb Abenteuer, die Vergeltungsschläge auslösen könnten, scheuen.

Demgegenüber werden in Iran ganze Bataillone an Selbstmordattentätern rekrutiert. Hier lautet die Parole: „Ihr liebt das Leben, wir lieben den Tod.“ Hier wurden bereits im Krieg gegen Irak Tausende iranischer Kinder als „Märtyrer“ auf die Minenfelder getrieben. Doch scheinbar will die Welt erst aufwachen, wenn sich 9/11 in Verbindung mit Nuklearwaffen wiederholt.

Noll: Atomwaffen in der Hand des Iran sind also gefährlicher als die Atomwaffen in der Hand der Sowjetunion?

Küntzel: Ohne jede Frage. Religiöse Kriege sind besonders brutal, weil ihre Schlachten keinem diesseitigen Interesse dienen. Der „Märtyrer“ ist stattdessen auf das Jenseits konzentriert. Keine andere Regierung der Welt propagiert den „Märtyrertod“ so systematisch, wie die in Teheran. Das Gefahrenpotential des religiösen Kriegs wird im Westen unterschätzt. Warum? Weil es in Europa seit 1648 keinen großen Religionskrieg mehr gegeben hat; in den USA ist diese Kriegsform gänzlich unbekannt. Man sieht nicht oder will nicht sehen, dass in Teheran das Potential der nuklearen Massenvernichtung mit einem religiösen Fanatismus verschmilzt, der das „jenseitige Leben“ für wichtiger hält, als das Leben hier.

Noll: Warum gibt es keine Diskussion in der deutschen Öffentlichkeit über das Verhältnis zum Iran und die Politik der Bundesregierung?

Küntzel: Diese Frage stellt sich in der Tat. Das Schweigen ist angesichts der Tatsache, dass Deutschland die einzige Macht ist, die neben den fünf Vetomächten des Sicherheitsrat die internationale Irandiplomatie anführt, geradezu paradox. Was immer das Auswärtige Amt zu diesem Thema beschließt, besitzt globale Relevanz.

Meine Recherche führte mich zu dem Schluss, dass die Praxis der deutschen Außenpolitik beim Thema Iran mehr mit der Geheimhaltungsdoktrin der wilhelminischen Epoche gemein hat, als mit der westlichen Streit- und Debattenkultur. So brauchte die Bundesregierung dem Bundestag auf die Frage, wie sie die deutsche Sonderbeziehung nach Teheran ausnutzen wolle, um der Holocaustleugnung entgegenzutreten und den Griff zur Bombe zu vereiteln, bislang keine Antwort geben – diese Frage wurde nicht einmal gestellt! Mein Buch bietet vielleicht eine Chance, das Kartell des Schweigens zu durchbrechen.

© Chaim Noll und Martin Jehle

Dieses Interview wurde am 7. Oktober 2009 in Hamburg geführt und am 21. Januar 2010 von COMPASS – dem Infodienst für christlich-jüdische und deutsch-israelische Tagesthemen – veröffentlicht. Sie finden die Originalversion hier