Der zweite Fall der Mauer

Von Matthias Küntzel

konkret. Februar 2001

Als der Europäische Gipfel in Nizza begann, stand sein wichtigstes Ergebnis bereits fest: Berlin hatte die Kette der historischen Parität mit Paris zerschlagen und die Europapolitik der letzen Jahrzehnte revidiert. Vom „zweiten Fall der Berliner Mauer“ und einem „riesigen Einschnitt“ sprach die International Herald Tribune (IHT) und von einer Wiederkehr „der alten Deutschen Frage“ die niederländische Volkskrant.

Noch im November 1999 postulierte die Bundesregierung eine andere Priorität. Die Europäische Union gründe „auf dem Interessenausgleich Deutschlands und Frankreichs“ beteuerte ihr Außenminister, und „dieses ganz besondere Verhältnis“ sei „in seiner europäischen Funktion auch nicht austauschbar.“
Heute sind derartige Beschwörungen Makulatur. „Der Kanzler betrachtet das Post-Nizza-Deutschland als von Frankreich emanzipiert“, konstatiert im Anschluß an die Konferenz die IHT. Berlin hat „die innereuropäischen Größenverhältnisses“ zurechtgerückt, lobt die FAZ und zieht die Verbindung zwischen dem vergangenheitspolitischen „Befreiungsschlag“ von Martin Walser der deutschen „Emanzipation“ von Paris: „Der Konservative Kohl (war) aufgrund seiner Lebenserfahrung und seines Geschichtsverständnisses alles in allem bereit anzuerkennen, dass Deutschland und Frankreich gleich groß und gewichtig seien. Anders sein Nachfolger Schröder. Trotz seiner linken Sozialisation ist sein außenpolitisches Denken und Handeln nicht in erster Linie durch die deutsche Vergangenheit bestimmt.“ Deutsche Logik: Kohl erkannte die Ebenbürtigkeit Frankreichs an, weil ein gewisser Respekt vor dem welschen Nachbarn angesichts der Nazi-Greuel geboten schien. Seit wir uns von der „Moralkeule Auschwitz“ aber befreit haben, wird wieder deutsch gespuckt: Frankreich darf als zweitrangig gehandelt werden und Deutschland steht obenan.

Die Bedeutung der deutsch-französischen Achse gründet sich auf den Umstand, dass der neue Anlauf zur Großmacht schon Ende der 40er Jahre begann. Der erste Ruf nach deutschen Atomwaffen wurde im Juni 1948 – noch vor der Gründung des Weststaats! – artikuliert. Die wohlbegründete Angst vor Deutschland war ein Grundmotiv für den Aufbau der EWG. „Die europäische Integration“, schrieb 1956 der belgische Außenminister Spaak an den britischen Premier Eden, „gibt Deutschland einen Rahmen, in dem seine Expansion begrenzt bleibt, und schafft eine Interessengemeinschaft, die uns gegen gewisse Versuche und Abenteuer absichert.“
Nach 1989 war die noch engere Einbindung Deutschlands durch die Währungsunion eine Voraussetzung für die Zustimmung Frankreichs zur Wiedervereinigung. Die Logik dieser Anbindung war jedoch schon revidiert, als sich 1994 der deutsche Drang nach Osten unter deutscher EU-Ratspräsidentschaft erstmals zu konkretisieren begann. Während die Deutschen vor dem Fall der Mauer noch darauf angewiesen waren, sich an den europäischen Vorgaben zu orientieren, mußte die EU sich nunmehr nach den deutschen Vorgaben richten, damit es bei dieser Einbindung weiterhin bleibt.
Dieser Logik der Schadensbegrenzung verlieh die CDU/CSU-Bundestagsfraktion im Herbst 1994 mit dem Schäuble/Lamers-Papier neues Gewicht, als sie französische Bedenken gegen die EU-Osterweiterung mit der Androhung deutscher Alleingänge konterte: Ohne Ostausdehnung der EU „könnte Deutschland aus eigenen Sicherheitszwängen versucht sein, die Stabilisierung des östlichen Europa alleine und in der traditionellen Weise zu bewerkstelligen.“
Während aber Helmut Kohl noch die Beständigkeit einer im EU-Rahmen saturierten Bundesrepublik zu verkörpern schien, ließ der Nachwuchs der deutschen Machtelite seiner Unzufriedenheit über die Einschränkungen deutscher Vorherrschaft freien Lauf. „ Bekommt Deutschland jetzt … all das“, fragte 1995 einer jener Emporkömmlinge, „was ihm Europa, ja die Welt in zwei großen Kriegen erfolgreich verwehrt hat, nämlich eine Art ,sanfter Hegemonie‘ über Europa, Ergebnis seiner Größe, seiner wirtschaftlichen Stärke und seiner Lage und nicht mehr seines militärstrategischen Potenzials?“ Jawohl, es war Joschka Fischer, der so seinem eigentlichen Streben Ausdruck verlieh und sich als künftiger deutscher Außenminister empfahl. (J. Fischer, Risiko Deutschland, 1995, S. 212) Um jedoch die „sanfte deutsche Hegemonie über Europa“ in Regierungspolitik umsetzen, einen Kosovo-Krieg führen und die Parität mit Frankreich über Bord werfen zu können, bedurfte es einer rot-grünen Regierung, die sich mit einem doppelt guten Gewissen – links und ohne persönliche Anteile an Nazi-Deutschland – von allen Verstrickungen mit Auschwitz emanzipiert wähnt. 1998 gab der neue Regierungssprecher in seiner ersten Stellungnahme den anderen europäischen Regierungen den dringenden Rat, sich darauf einzustellen, „dass sich Deutschland nicht mehr mit dem schlechten Gewissen traktieren läßt“.

Im Frühsommer des Jahres 2000 fällte die Bundesregierung die Entscheidung, dass im Zuge des Europäischen Gipfels Deutschlands Vorrang vor Frankreich durch ein unterschiedliches Stimmengewicht im Europäischen Ministerrat zur Geltung gebracht werden soll. Diese Forderung sei nur „recht und billig“, applaudierte am 3. 6. 2000 die FAZ, „selbst wenn sie von kleineren Mitgliedsländern als Zumutung empfunden wird.“ Entgegengesetzt argumentierte der europapolitische Chefkorrespondent der Los Angeles Times, William Pfaff. „Das explosive Thema des Nizza-Gipfels ist Deutschlands Forderung nach den meisten Stimmen im Ministerrat“, schrieb Pfaff. Diese Forderung sei jedoch „mit einem geradezu überwältigenden Gewicht aus der jüngeren europäischen Geschichte beladen.“ Denn sie breche „mit dem Geist des Gleichgewichts zwischen den großen Mächten, der das Europäische Projekt immer auszeichnete und seine moralische Grundlage darstellte.“ Mit diesem Anliegen würde Deutschland „nicht länger die unentbehrliche Nation im Zentrum des europäischen Gleichgewichts, sondern dessen Zerstörer sein. In Anbetracht der deutschen Geschichte seit 1871 ist dies das letzte, was irgendein Deutscher sich wünschen sollte.“ (IHT, 7.12.00)
Der rot-grüne Vorstoß setzte sich auch über die Bedenken und Warnungen deutscher konservativer Berater hinweg. So schrieb die Bertelsmann Europa-Kommission in einem die Nizza-Konferenz vorbereitenden Dossier: „Jede Reform der Gewichtung (der Stimmanteile im EU-Ministerrat) wird berücksichtigen müssen, dass Frankreich nicht gegenüber Deutschland … abgewertet werden“ will. Auch Elmar Brok, CDU-Abgeordneter im Europaparlament, riet davon ab, „gleichzeitig die Franzosen und die kleinen Länder gegen sich aufzubringen.“
In der Tat wies Frankreich, das die EU-Ratspräsidentschaft innehatte und für die Ausrichtung des Nizza-Gipfels zuständig war, das deutsche Ansinnen zurück. Nun aber begann Berlin den französischen Konferenzvorbereitungen mit einer diplomatischen Offensive in die Parade zu fahren: „Nach Gesprächen mit dem britischen Premier Tony Blair in London und dem österreichischen Bundeskanzler Schüssel reiste Schröder nach Kopenhagen und Amsterdam“ berichtete Der Spiegel. „Diese Woche kommt Luxemburgs Europa-Vorkämpfer Juncker nach Berlin, anschließend konferiert Schröder mit der belgischen Regierung in Brüssel. Auch mit der Kommission wird der Bundeskanzler zusammentreffen. ... Fest steht: Dort, wo der Kanzler seine Haltung zur künftigen Stimmverteilung im EU-Ministerrat erläutert hatte, verhallten die Warnungen aus Paris fast ohne Echo.“ (Spiegel vom 20.11. und 4.12.2000) Gezielt wurde der Verdacht gestreut, Paris wolle die Osterweiterung der EU hintertreiben, provokant wurde kurz vor Nizza das deutsche Projekt einer EU-Sonderkonferenz für das Jahr 2004 aus der Tasche gezogen. Zeitgleich erfuhr die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen eine Neubewertung, deren Übergang in den Wahnsinn grenzwertig ist.
So suchte der grüne Außenminister den Bundestag davon zu überzeugen, dass das Postulat der Gleichgewichtigkeit zwischen Frankreich und Deutschland schon in den 50er Jahren problematisch gewesen sei, denn schließlich war schon damals die westdeutsche Bevölkerung in der Überzahl. O-Ton Fischer: „Es ist tatsächlich so, dass es seit Beginn der Union zwischen der französischen Republik und der Bundesrepublik das Problem der Größenproportion gibt. Dieses Problem wurde durch eine politische Entscheidung gelöst. Numerisch existiert dieses Problem.“ (Bundestagsdebatte vom 28.11.00) Zur Untermauerung ließ Gerhard Schröder im Kanzleramt die Akten der fünfziger Jahre nach Adenauers Gesprächen mit Monnet suchen. Freilich ohne Ergebnis, „weil die Beamten auf Vereinbarungen über die Gleichwertigkeit Deutschlands und Frankreichs nicht stießen.“ (Die Zeit, 9.12.00) Dieser an die Bürger von Schilda gemahnende Geschichtsaktivismus hat mit mangelnden Kenntnissen wenig zu tun. Vielmehr begegnen wir hier einem aus der Walser-Debatte bekannten Phänomen: So wie Martin Walser stieren Blicks „einfach nicht glauben“ wollte, dass beim Pogrom von Lichtenhagen Würstchenbuden aufgestellt wurden, so können Fischer und Konsorten einfach nicht glauben, dass es vor dem Hintergrund der historischen deutschen Schuld nicht ein „Problem“, sondern ein gänzlich unverdientes (und nur der Konstellation des Kalten Krieges zu verdankendes) Zugeständnis war, von Frankreich auf gleiche Ebene gehoben worden zu sein. Sie projizieren die Gegenwart auf die Vergangenheit um zu erklären: Schon damals waren wir mehr, schon damals war Parität für uns ein Problem.
Doch weder Fischers Geschichtsvortrag noch Schröders Aktivismus imponierten dem französischen Präsident. „Chirac kämpfte verzweifelt und erfolgreich darum, den Symbolismus der politischen Gleichheit zwischen Frankreich und Deutschland in europäischen Angelegenheiten zu bewahren und blockierte öffentlich Schröders Plan“, berichtete, keineswegs unzufrieden, Jim Hoagland von der Washington Post. „Chirac kämpfte diesen Streit in erster Linie im engeren französischen Interesse aus, aber Europa und die Welt werden vom Resultat dieses Kampfes profitieren.” Wie Pfaff, so begründete auch Hoagland seine Parteinahme mit der Nazi-Zeit: „Eine jede Nation wird durch ihre Vergangenheit kolonisiert. Sich jenseits der äußerlichen Attribute von Versöhnung in Europa bewegen zu wollen, ist ein riesiger Einschnitt für die Franzosen wie für alle anderen auch“ (IHT, 14.12.2000) Wenn sich Berlin also in der Frage des Stimmenübergewichts gegen Paris nicht durchsetzen konnte, warum lauteten dann die Schlagzeilen nach Nizza: „Deutschland-Frankreich 4:0“ oder: „Germany triumphs on the EU battlefield“?

An der Frage des deutschen Stimmenvorsprungs durfte Nizza aus Berliner Sicht nicht scheitern. Deutsche Ambitionen lassen sich in Osteuropa nicht nur preisgünstiger, sondern auch reibungsloser verfolgen, wenn sie nicht auf „traditionelle Weise“ verfolgt, sondern „europäisch“ camoufliert werden: „Je europäischer Deutschland seine Interessen definiert, desto mehr verwirklichen sich unsere Interessen.“ (Fischer in: Süddeutsche Zeitung, 22.12.2000). Von Anbeginn wurde deshalb von der Bundesregierung ein – von Frankreich ebenfalls erbittert bekämpfter – Alternativvorschlag zum Stimmenübergewicht, das Konzept der „demographische Mehrheit“, propagiert. Hiernach ist ein Beschluss des EU-Ministerrats nur dann gültig, wenn die zustimmenden Länder eine über 60-prozentige Mehrheit der Bevölkerung in der EU repräsentieren..
Während das Beharren auf ein exklusives deutsches Stimmübergewicht mit dem Makel der Eigennützigkeit behaftet war, konnte das „demographische“ Konzept als geradezu musterdemokratisch verkauft werden. Doch dieser Eindruck täuscht. Das Europaparlament ist der Ort, der Bevölkerungen repräsentieren soll, weshalb Deutschland die weitaus meisten Abgeordneten dorthin entsendet. Der Europäische Ministerrat ist hingegen ein Zusammenschluß von Staaten. Dort sind Luxemburg (400.000 Einwohner) mit zwei Stimmen und Deutschland (82 Millionen Einwohner) sowie sowie Frankreich und Großbritannien (60 Millionen Einwohner) mit je zehn Stimmen repräsentiert.
Während bisher die deutsche Stimme im Ministerrat somit 5 mal wichtiger war, als die Stimme Luxemburgs, bringt das Kriterium der Bevölkerungszahl dem deutschen Koloss ein 200-faches Übergewicht! Der demographische Ansatz ist politisch absurd, wie schon ein Blick auf den US-Senat beweist: Hier hat der US-Bundesstaat Rhode Island mit 500.000 Einwohnern exakt dasselbe Stimmgewicht wie Kalifornien mit 30 Millionen. Mit der Einführung der demographischen Mehrheit wären schlagartig sämtliche kleinen Bundesstaaten der USA ihres Einflusses beraubt. Der bevölkerungspolitische Ansatz korrespondiert jedoch ideologisch mit jener Art von Vision, „die in der Politik stets das Primat der Natur unterstreicht und in der deutschen Tradition des Denkens tief verwurzelt ist“, wie Yvonne Bollmann (in: La tentation allemande, Paris 1998) bemerkt.
Wie der bevölkerungspolitische Ansatz in Nizza durchgesetzt wurde, beleuchtet eine Episode aus der Schlußphase der Konferenz: „Der Bundeskanzler hatte in der letzten Verhandlungsstunde in Nizza Chirac angeboten, auf das ,demographische Konzept‘ zu verzichten und im Gegenzug eine symbolische Stimme mehr im Ministerrat zu erhalten. ... Doch Chirac lehnte das Angebot ab.“ (FAZ, 13.12.00) Es lag also an Deutschland, ob das Konzept der Bevölkerungszahl im letzten Moment zurückgezogen würde oder nicht. Und es war allein der von Berlin initiierte Kampf um die symbolische Suprematie, der ihm schließlich zum Durchbruch verhalf.
Frankreich stand angesichts dieser Dynamik vor dem Dilemma, entweder das Symbol der Parität mit Deutschland preiszugeben, oder eine Konzession an die andere zu reihen, um die Gleichstellung im Ministerrat zu retten und entschied sich für den zweiten Weg. Deutschland-Frankreich 4:0: Künftig gilt, dass eine europäische Mehrheitsentscheidung nur gültig ist, wenn die zustimmenden Staaten 62 Prozent der EU-Einwohner repräsentieren. Deutschland stellt allein 22 % der EU-Europäer und braucht lediglich die Unterstützung zweier anderer großer Staaten, um das Quorum von 38% zu erreichen, das jede EU-Entscheidung blockiert. Zweitens gelang es Berlin, das Übergewicht der deutschen Europa-Abgeordneten gegenüber London und Paris von 12 auf 27 zu erhöhen. Drittens konnte sich Berlin mit der Durchsetzung der neuen Regierungskonferenz im Jahr 2004 alle Optionen für eine fundamentale Neubestimmung des EU-Zwecks offengehalten. Viertens ging auch atmosphärisch die Runde an Berlin. Einerseits fiel Frankreich die undankbare Aufgabe zu, den Einfluß der kleineren Staaten (deren Anzahl sich im Zuge der Osterweiterung von 10 auf 21 erhöhen wird) zu beschneiden, was Deutschland heuchlerisch für die eigene Image-Pflege („Anwalt der Kleinen“) auszunutzen verstand. Andrerseits hatte Berlin alle Weichen schon im Vorfeld der Konferenz gestellt und konnte sich also das Spiel erlauben, mit den eigenen Interessen die europäische Agenda zu dominieren und sich gleichzeitig als scheinbar zurückhaltender Partner zu präsentieren.

All dies ist evident. Die Tatsache aber, dass deutsche Medien den Eindruck erweckten, Berlin habe „mit einer erstaunlichen Sensibilität für die Lasten der deutschen Geschichte agiert“ und in Nizza darauf achten müssen, „sich nicht bei hemmungsloser Genügsamkeit erwischen zu lassen“ (Frankfurter Rundschau), ist nur mit jener deliranten Grundstimmung zu erklären, die eine Mehrheit der Deutschen inzwischen umtreibt: 70% der Bevölkerung bekennt Umfragen zufolge öffentlich: Ich bin stolz, ein Deutscher zu sein. Die hybride Verachtung einer 1990 noch angepriesenen „Politik der Selbstbeschränkung“ und die Sehnsucht nach außenpolitischer Revision hat eine Dimension erreicht, die an die Massenstimmungen der Weimarer Republik im Hinblick auf den Versailler Vertrag gemahnt. In Kontext dieses irrationalen, vor nichts zurückschreckenden Stolzdiskurses – auch auf den Kniefall von Brandt könnten alle Deutschen stolz sein, verkündete jüngst der Bundeskanzler im regierungseigenen Bulletin! – stehen machtausweitende Vorstöße der deutschen Außenpolitik ebenso im günstigsten Licht wie die Kritik daran unter dem Verdikt absoluter Abwegigkeit. Der Liebe zum Vaterland entspricht die Verachtung gegenüber dem Feind.
Chirac habe an der Cote d´Azur agiert, „als wenn Frankreich der King Kong Europas wäre“ gab höhnend Joschka Fischer die Tonlage vor. Geschlossen stand die neue publizistische Wacht am Rhein: Die französische Ratspräsidentschaft sei “engstirnig, egoistisch, tendenziell überfordert“ gewesen. Sie habe „dubiose Absichten verfolgt“, „den Schacher als Machtkampf begriffen“ und „Macht und Einfluss nach Pariser Gusto verteilt“. Wenn im Fernsehen von einem „durch und durch französisch gefärbten Papier“ die Rede war, wußte man Bescheid.
Warum aber wurde das Lob der Berliner Nizza-Politik auch in den anderen europäischen Staaten mehrheitlich geteilt? Warum stand Frankreich in der Abwehr des deutschen Revisionismus so vollständig allein?

„man richtete sich mit dem bösen ein. es bekam blumenform“ – schrieb Berthold Brecht im Juli 1938, um das britisch-französische Appeasement gegenüber Nazi-Deutschland zu charakterisieren. Auch wenn Deutschland heute mit anderen Mitteln „bekommen will, was ihm Europa in zwei Kriegen verwehrt hat“, (J. Fischer) treffen Brechts Worte wieder den Punkt. „Es liegt in der Natur der Dinge, dass Deutschland die kleinen Länder zwingen wird, sich seinen Interessen zu beugen“, bemerkte lakonisch die portugiesische Zeitschrift express. Da sich jede europäische Regierung notwendig mit Deutschland einrichten muß, verbietet sich die unverblümte Kritik – stattdessen: Blumenform. So ist es wohl auch kein Zufall, dass US-amerikanische Medien den deutschen Kurs grundsätzlicher kritisierten, als selbst in Frankreich dies üblich war: Die USA sind die einzige westliche Macht, die sich mit Deutschland nicht einrichten muß.
Eigentlich hätte die französische Außenpolitik, um für ihre Position zu werben, über die Notwendigkeit der Angst vor Deutschland aufklären und das historisch begründete Mißtrauen in Europa revitalisieren müssen. Doch nicht einmal der Argumentation eines William Pfaff schloss sie sich an. Denn man wollte und man will es sich nicht mit Deutschland verderben, in dessen Windschatten die osteuropäische Eroberung auch für den französischen Bourgeois einige Pfründe bringt.
Diese Scheu wird durch eine vorherrschende Stimmung im intellektuellen französischen Milieu gestützt, das derzeit noch jede antideutsch klingende Aussage unter das Pauschalverdikt eines Ultranationalismus stellt und als Abweichung von der political correctness denunziert. Gerade weil unterschwellig die Ängste vor Deutschland nach wie vor groß sind, will und muß man sie übertönen und klammert sich deshalb um so verzweifelter an die vermeintliche Gewißheit, dass Deutschland – zumal seine „linke“ Regierung mit einem Weggefährten Daniel Cohn-Bendits als Vizekanzler – sich von den Relikten seiner Vergangenheit befreit habe. Wer dieses Dogma der Selbstberuhigung in Frage stellt und das Tabu bricht, wird bestraft. Als sich der damalige französische Innenminister Chevenement im Sommer 2000 eine äußerst moderate Kritik an Joschka Fischer erlaubte und Deutschland vorwarf, „noch immer vom Heiligen Römisch-Germanischen Reich zu träumen“, wurde er in der satirischen Wochenzeitung „Charlie Hebdo“ (den Grünen nahestehend) als ein im fortgeschrittenen Delirium vor sich hin brabbelnder Geisteskranker in Zwangsjacke portraitiert. (Vgl. konkret 7/2000)
Doch gerade zu diesem Zeitpunkt, als die französische Öffentlichkeit ihrem Innenminister den Mund verbot, beschloß Berlin, es Frankreich bei der Stimmengewichung im EU-Ministerrat zu zeigen. Zwischen blumenförmiger Höflichkeit hier und immer unverblümterer Machtausweitung dort besteht unter Umständen ein Zusammenhang.
Dennoch verteidigte Paris seine Parität im Ministerrat weiterhin verblümt: entweder formalistisch mit Verweis auf eine Adenauer-de Gaulle-Vereinbarung aus den 50er Jahren oder abstrus, mit dem Hinweis, doch immerhin Atommacht zu sein.
Diese hilflose und defensive französische Reaktion hat die Niederlage Chiracs mit ausgelöst und brachte ihn europaweit in den Ruf „in der Tradition der egomanisch französischen Patrioten“ zu stehen, „denen die lieb gewonnenen Sentiments mehr zählen als ein nüchterner Blick auf die Realität.“(Spiegel, 18.12. 2000)
Wie „nüchtern“ aber ist aber ein Blick, der zwanghaft alle historischen Bezüge abschneidet und sich darauf beschränkt, herauszufinden, dass Deutschland ein höheres Bruttosozialprodukt und damit das Recht auf europäische Vorherrschaft hat? Behindert nicht den Blick auf die Wirklichkeit, wer in den Gedankenformen „deutscher Normalität“ befangenen bleibt und dem rot-grünen Schein von Progressivität unkritisch vertraut? Urteilt nicht geradezu nüchtern, wer damit rechnet, dass vor dem Hintergrund der historischen Erfahrungen auch das Ungeheuerlichste als selbstverständlich zu erwarten ist? Nur der sei Realist, schrieb Brecht, „der die realität gegenüber allen verschleierungen und täuschungen zur geltung bringt.“ Ohne die Blümchenbrille aber ist die Prägung der derzeitigen deutschen Mitteleuropa-Politik durch das deutsche Reich evident.

Joschka Fischer war es, der im Mai des Jahres 2000 an das Schäuble/Lamers-Papier von 1994 anknüpfte und davor warnte, dass ohne die Osterweiterung der EU „die in Deutschlands Dimension und Mittellage objektiv angelegten Risiken und Versuchungen“ über kurz oder lang wieder virulent werden könnten. Einerseits machte er sich damit das alte geopolitische Legitimationsmuster zu eigen, wonach die Stroßrichtung einer Politik quasi schicksalhaft durch ihre geographischen Voraussetzungen determiniert sei. Andrerseits hat hier der grüne Außenminister die Erfahrungen mit der Nazi-Barbarei als ein Druckmittel für gegenwärtige deutsche Interessen instrumentalisiert.
Doch wird nicht selbst nach dieser Logik der deutsche Imperialismus „mit seiner quasi-pathologischen Wahrnehmung von Grenzen“ und seinen „,ethnischen‘, d.h. rassistischen Vorstellungen von sich und anderen“ (Y. Bollmann) jenen „Risiken und Versuchungen“ in dem Maße erliegen, wie er sich von Frankreich und den Einbindungen in die Europäische Union „emanzipiert“?
„Geschichte wiederholt sich nicht, und doch verwirklicht sich in ihr ein Wiederholungszwang“, stellten Alexander und Margarete Mitscherlich einst fest. Ohne jeden Anflug von Ironie wies Gerhard Schröder in Nizza darauf hin, dass Deutschland „auch aufgrund von Geschichte“ bei der EU-Osterweiterung bevorteilt sei. In der Tat: In Ungarn etwa „wird alles, was deutsch ist, beschworen, als gelte es, die Ungarn als germanischen Stamm zu etablieren“ berichtet Erwin Riess. „Haider ist der in Ungarn populärste Politiker, der Antisemitismus ist lebendiger denn je.“ (konkret 11/2000) Doch Ungarn steht nicht allein: „Wir wissen heute besser denn je, dass Hinterpommern, Ostpreußen oder Schlesien, dass Königsberg, Stettin, Breslau und Danzig wie auch das Sudentenland zu unserem historischen und kulturellen Erbe gehören“, erläuterte der Chef der rot-grünen Regierung vor sogenannten Vertriebenenverbänden am „Tag der Heimat“ in Berlin. Mit der Freigabe rot-grüner Haushaltsmittel für die „Festigung künftig von Deutschen zu besiedelnden Regionen“, so die offizielle Begründung, oder für eine Wanderausstellung unter dem Titel „Europas Mitte um 1000“, die den traditionellen Mitteleuropa-Begriff ungeschminkt propagiert, wird der totale Kampf jener Vertriebenenverbände weiter angeheizt. Arnulf Baring hatte in seinem Buch „Deutschland – Was nun ?“ die weitere Perspektive bereits skizziert: „Böhmen und Mähren sind ein Teil Europas, der deutschen Welt, hätte ich fast gesagt“, erklärt darin der Verleger Jobst Siedler und fährt fort: „Wird es nicht eines Tages sozusagen Polnisch und Tschechisch und Ungarisch sprechende Deutsche geben müssen? Wird das nicht aus der Suprematie folgen, um die Deutschland meines Erachtens gar nicht herumkommen wird?“ Und wenn eine Land sich dagegen verwahrt? „Emmissären kleinerer Nachbarländer droht er bei Verhandlungen schon mal mit einer ,zweiten Annexion´“, berichtete in einem Portrait über Schröders wichtigsten außenpolitischen Berater, Michael Steiner, die Zeit (16.3.2000).

Zurück zur Konferenz von Nizza. Auch ohne ein Symbol der Vorherrschaft würde Deutschlands Macht dank Osterweiterung unermeßlich steigen und Frankreich Position an Bedeutung verlieren. Warum also hat Berlin ohne erkennbare Zwänge auf Konfrontation mit Paris gesetzt? Warum entschied sich rot-grün gerade jetzt für den Übergang von einer indirekten zu einer direkten Hegemonie?
Vielleicht ist es das ideologische Element – die offenkundige Anknüpfung Berlins an ältere Traditionen der deutschen Osteuropa-Politik – das das Dominanzgebaren gegenüber Frankreich erklärt. Die Unterschiede der historischen Prägungen und der ideologischen Prämissen lassen offenbar auch nur den Schein einer Gleichberechtigung zwischen Frankreich und Deutschland nicht länger zu.
Bis heute macht sich der Einfluß der (von einer Chevenement-Vertrauten geleiteten) Eliteschule aller französischen Staatsbeamten , genannt Ena („Ecole Nationale d’Administration“), bemerkbar, die de Gaulle gleich nach dem Krieg gründete, um eine vom Vichy-Regime vollständig unbelastete Beamtenelite herauszubilden. So fand sich im Gegensatz zu Deutschland in Frankreich niemand von politischem Gewicht, der öffentlich für das Schüssel/Haider-Bündnis Verständnis aufgebracht hätte. So haben sich die französischen Eliten vom deutschen Herrschaftskonzept der Volksgruppenpolitik ebenso wie von der Doktrin der „humanitären Kriegsführung“ distanziert. So verfolgt man derzeit in Jugoslawien (mit Kostunica als französischen und Djinjic als deutschen Gewährsmann) in der Frage der Erhaltung der Staatsgrenzen eine gänzlich unterschiedliche Strategie.
„Der Fall Nizza aber hat für das System der französischen ,Ena-kraten‘ die Stunde der Wahrheit eingeläutet.“ (FR, 19.12.2000) Nur noch dann, wenn Deutschland und Frankreich „ihre Interessen einigermaßen in Einklang bringen“, werden gemeinsame Projekte noch möglich sein, gab Fischer in diesem Zusammenhang bekannt. (SZ, 22.12.2000) Mit anderen Worten: Gemeinsam nur noch dann, wenn ihr euch vollständig unseren Interessen beugt.
Osteuropa wird der künftige deutsche Aktionsschwerpunkt, das Zentrum seiner neuen hegemonialen Unruhe sein. Wie stets in der Geschichte des letzten Jahrhunderts will man Frankreichs Handlungsfähigkeit reduzieren und sich den Rücken im Westen quasi freihalten, bevor man den Osten überrennt. Das neue europäische „Gravitationszentrum“ soll deutsch sein, was nur unter der Bedingung französischer Unterordnung, mit einem eher an Vichy, denn an die Resistance gemahnendem Frankreich möglich ist.

(unter dem Titel „Die sanfte Vormacht“ veröffentlicht in: konkret 2/2001, S. 24-27.)