Der Lohn des Protests

Zur deutsch-französischen Atomwaffenpolitik

Von Matthias Küntzel

konkret, Oktober 1995

Niemals zuvor hat ein bewußtloser Anti-Atomprotest einer bewußten Pro-Atompolitik besser gedient: Die deutsche Spontanmobilisierung gegen Chirac hat unwillentlich den Karren derer gezogen, die nicht die Atomwaffe, sondern das französische Monopol darauf abschaffen und durch eine deutsch-französische Atommacht ersetzen wollen. Zwar ist der Interessengegensatz zwischen einer Graswurzel-Bewegung, die von der Atomwaffe weg will, und einer Großmacht, die zur Atomwaffe hin will, evident und eigentlich auch leicht zu verstehen. Nicht so jedoch in Deutschland, wo man seit der Nationalbewegung gegen Shell keine unterschiedlichen Interessen oder gar Parteien, sondern – ob Theo oder Thilo – nur noch deutsche Gutmenschen kennt. An jenes Gemeinschaftserlebnis knüpfte die Anti-Chirac-Bewegung an. Um sich weiterhin einen Platz an der Sonne des moralischen Überlegenheitsgefühl zu sichern, wurde das Unvereinbare vereinbart, und das nationale Bündnis auch gegen Frankreich mobilisiert.

“Gerade Deutschland” galt plötzlich der grünen Bundestagsabgeordneten Angelika Beer als besonders glaubwürdiger Verfechter des antinuklearen Protests: “Wenn Ihre Aussagen, Herr Kinkel, – wir alle haben sie begrüßt – ernst gemeint waren, dann ist gerade Deutschland mit dem Verzicht auf Atomwaffen im eigenen Land prädestiniert für einen Protest gegenüber der französischen Regierung”, rief sie im Juli 1995 in Richtung Regierungsbank. Ihre Kollegin, die SPD-Abrüstungsexpertin Katrin Fuchs, verschärfte diesen Gestus mit der Beteuerung, Helmut Kohl habe “in dieser Frage das ganze deutsche Parlament hinter sich”. Komfortabler konnte die Position des Kanzlers nicht sein: Während seine Emissäre in Paris auf die deutsche Proteste zeigten, um zu beweisen, daß aus der Akzeptanz für Atomwaffen ohne die deutsch-französische Bombe nichts wird, blieb, als wolle jene Akzeptanztheorie unterstreichen, jedewede deutsche Atompolitik von den Protesten verschont.
Hatte man sich in dem Exklusivzirkel der deutsche nuclear community nicht seit Monaten den Kopf darüber zerbrochen, wie der “Sonderweg” (Michael Stürmer) des deutschen Atomwaffenverzichts beendet und “die Europäisierung der nationalen britischen und französischen Kernwaffenpotentiale” (Karl Kaiser, Erwin Häckel) durchgesetzt werden könne? Voila – der “Lohn des Protests” gegen die Atomtests (so Christoph Bertram von der Zeit) wird nun gezahlt: “Chirac bietet Europa die französische Atombombe an”, so die Schlagzeile von Liberation. “Frankreich bietet die “Europäisierung” seiner Atommacht an” so die Hauptmeldung der US-amerikanischen International Herald Tribune, gefolgt von dem Aufmacher des britischen Sunday Telegraph: “Europa ringt um das Konzept einer gemeinsamen Bombe.”

Der Zusammenhang zwischen deutscher Protestbewegung und französischem “Europäisierungs”-Angebot ist evident.
Seit Mitte Juni bereits hatte man in vertraulichen deutsch-französischen Gesprächsrunden die Frage erörtert, “was Deutschland, wenn es die Tests in Ruhe läßt, als Gegenleistung von Frankreich erhält” (NuclearFuel, 14.8.95). Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Noch vor dem Beginn ihrer Testserie gab die französische Regierung bekannt, daß sie ihre Partner
in nuklearen Fragen konsultieren werde, “sofern diese Paris dabei behilflich sind, die internationale Empörung über die geplanten Atomtests zu reduzieren”, berichtete die International Herald Tribune.” Der Einfluß der deutschen Regierung könnte dazu beitragen, die Kritik der Regierungschefs aus kleineren europäischen Ländern einzudämmen, falls zum Zeitpunkt der Tests die Wucht des Widerstandes steigt.” (IHT, 25.8.95)
Anfang August sprach sich der gaullistische Parlamentspräsident Phillipe Seguin für die nukleare Zusammenarbeit mit Deutschland und anderen EG-Partnern aus, da mittlerweile, dank Wiedervereinigung, das nukleare Pulverfaß in Europa entschärft sei. Zum gleichen Zeitpunkt wurde bekannt, daß “französische und britische Nuklearspezialisten in Geheimgespräche mit deutschen Unterhändlern getreten sind, um zu versuchen, hinsichtlich der Atomwaffen einen gemeinsamen Zugang zu finden”, wie der Sunday Telegraph berichtet. Ende August verkündete schließlich Chirac seine prinzipielle Bereitschaft, die französische Bombe auf wie auch immer geartete Weise in die europäische Verteidigungspolitik zu integrieren. Derartige Andeutungen, die man von Mitterand schon 1992 vernommen hatte, sind der deutschen nuclear community heute zu vage. Bonn müsse sicherstellen, forderte Christoph Bertram in der Zeit, “daß die politischen Konzessionen, die Frankreich unter dem Druck der Empörung gemacht hat, nicht wieder Makulatur werden.” (31.8.95) Wer es mit derartigen Konzessionen ernst meine, mahnte auch Karl Feldmeyer (am 7.8.) in der FAZ, “wird bei der EU-Regierungskonferenz 1996 über die Zukunft der französischen und der britischen Nukleararsenale zu reden haben, über Verfügungsgewalt und Mitspracherecht.” (FAZ, 14.7.95)

Deutsche Verfügungsgewalt, deutsche Mitsprache. Dies ergibt sich schon aus der Tatsache, daß keine andere europäische Regierung die berechtigte Empörung über die Atomtests als Trumpfkarte im Nuklearpoker so massiv einzusetzen für sinnvoll hielt. Deutsche Politiker und Diplomaten gaben sich in der französischen Hauptstadt die Klinke in die Hand. Nach tagelangen Gesprächen des außenpolitischen Sprechers der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, Carl Lamers, reiste auch deren “abrüstungspolitischer Sprecher”, Friedbert Pflüger nach Frankreich wo er nicht nur mit Kabinettsmitgliedern und Generälen konferierte. Dem ehemaligen Redenschreiber Richard Weizsäckers wurde zugleich eine Ehre zuteil, die zuletzt Franz Josef Strauß im Januar 1957 erwiesen worden ist: In Begleitung der französischen Armeeführung durfte er die so sorgsam abgeschotteten Heiligtümer der französischen Atomstreitmacht auf dem Hochplateau des Albion und an den französischen U-Boot-Stützpunkten inspizieren. Nicht zufällig ist mit Pflüger eine neue Schlüsselfigur der deutschen Atomdiplomatie in Erscheinung getreten, die mit ihrem bayerischen Vorläufer auf jede erdenkliche Weise kontrastiert.

Als ehemaliger Verteidigungsminister hatte Strauß mit seinem Atomwaffen-Gepolter in den 50er Jahren ebenso viel Porzellan zerschlagen, wie in den 60er Jahren der christdemokratische Außenminister Gerhard Schröder mit seinem Versteifen auf nukleare Mitverfügung im Rahmen der Multilateralen Atomstreitmacht, MLF. Die Brechstangen-Methodik deutscher Regierungen hatte im Nuklearbereich zum Deseaster geführt: Seitdem 1966 die Regierung Erhard aufgrund ihrer gescheiterten Außen- und Atomwaffenpolitik zum Rücktritt gezwungen worden war, wurde von der Union ein Außenminister nicht mehr gestellt. Die deutsche Politik hat hieraus, wie die vorsichtige Frankreich-Diplomatie eines Kohl oder eines Teltschik beweist, gelernt. Jacques Attali, der engste Mitarbeiter Francois Mitterands, hat in seinen politischen Tagebuchaufzeichnungen den diskreten Stil jener Annäherungsversuche festgehalten. Einige (hier erstmals übersetzte) Auszüge:

“Donnerstag, 2. Februar 1984: Helmut Kohl (im Gespräch mit Mitterand): Sogar auf dem Gebiet der Atomwaffen kann man viel mehr gemeinsam machen: Es gibt einen Geheimvertrag zwischen dem Präsidenten der USA und mir über den Einsatz von Atomwaffen. Ich habe hierzu von Reagan einen Brief bekommen. Man könnte sich einen Brief gleichen Typs von Ihnen an mich vorstellen.
Francois Mitterand: Warum nicht. (Es wurde vereinbart, daß Teltschik und ich das Projekt dieser Vereinbarung vertiefen.)
Francois Mitterand: Man muß hinsichtlich des Haushalts der Europäischen Gemeinschaft einen Geheimpakt zwischen Frankreich, der Bundesrepublik und Großbritannien abschließen, um diesen Haushalt zu kontrollieren.
Helmut Kohl: Ja. Sehr gerne! ...

Mittwoch, 24. Mai 1985 Horst Teltschik ist in Paris. ... Er spricht mit mir auch über die Möglichkeit einer Partnerschaft zwischen Matra und Messerschmidt, um ein tatsächlich europäisch-autonomes nukleares Schutzschild zu entwickeln.

Sonntag, 16. Dezember 1985
Helmut Kohl (gegenüber Francois Mitterand): ... Wir sind keine Atommacht und wollen übrigens auch keine werden. Könnten wir in technologischer Hinsicht eine Atommacht sein? Selbst diese Frage ist für uns ohne Sinn. Eine Atommacht zu werden, wäre das Schlimmste für uns. Wenn Sie aber Atommacht sind, ist dies in Ordnung. Auf jeden Fall wird sich schon in naher Zukunft, wie sie selbst gesagt haben, die Bedeutung des Nuklearen relativieren. ... Ich habe aber einen konkreten Wunsch. Ich möchte, daß wir diesselbe Art von nuklearer Konsultation praktizieren, wie wir sie bereits mit den USA und Großbritannien haben, selbstverständlich diskret. ... Natürlich wird solch ein Austausch nur auf der Basis sehr persönlicher Diskussionen stattfinden können.”
(Aus: Jacques Attali, Verbatim I, Paris 1993)

Mit der Wiedervereinigung haben sich die Widersprüche der deutsch-französischen Atomwaffen-Diplomatie verschärft. So wie Frankreich nun erst Recht entschlossen war, die Atomwaffe als letzten verblieben Trumpf in der Hand zu halten, begann man in Deutschland “die Frage des deutschen Nuklearverzichts … im europäischen Kontext auf veränderte Weise” (Michael Stürmer) zu stellen. Schließlich konnte man, nach Abschaffung des Vier-Mächte-Abkommens über Berlin, die europäischen Atommächte mit der Möglichkeit der deutschen Bombe durchaus glaubwürdig konfrontieren. Die entsprechenden Schlüsselbegriffe wurde kurz nach dem Fall der Mauer, im Dezember 1989, von dem außenpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Karl Lamers, artikuliert: “Die französischen und natürlich auch die britischen Nuklearwaffen müssen eine europäische Funktion erhalten” und “die Bundesrepublik Deutschland … ihre Haltung vor allem zur Zukunft des Nuklearen deutlicher machen als bisher”, hatte Lamers vor dem Deutschen Bundestag erklärt. “Wenn auch die Verteidigung in europäischen Händen läge, wäre das für Frankreich zugleich die beste Versicherung gegen la derive allemande.” “La derive allemande” – das deutsche Abirren, die Aufkündigung der Westbindung, die nationale Atomwaffenoption – all dies wird von der herrschenden Politik in Deutschland nicht als ein Hirngespinst zurückgewiesen, sondern, ganz im Gegenteil, als Möglichkeit ins Spiel gebracht. Die europäische Sorge vor deutscher Kontinuität, wird kokett aufgegriffen und, etwa bei ZDF-Auftritten von Peter Scholl-Latour, zur Drohung umgemünzt: “Wenn es keine europäischen Atomwaffen gibt, werden wir in ein paar Jahren eine deutsche Atomwaffe haben.”
Daß diese Befürchtung auch in den offiziellen Papieren der Westeuropäischen Union ihren Niederschlag erfährt, beweist der Bericht des WEU-Verteidigungsausschusses über “Rolle und Zukunft der Atomwaffen” in Europa von Mai 1994. Dieser Bericht konstatiert eine zunehmende Unglaubwürdigkeit der US-Atomwaffengarantie und die damit zusammenhängende Reaktualisierung des deutschen Problems: “In diesem Rahmen muß Deutschland eine glaubwürdige nukleare Abschreckung verschafft werden… , damit es sich nicht gezwungen sieht, seine eigene atomare Abschreckung zu entwickeln”, so das Papier. “Die rein französisch-britische Atomwaffen-Kooperation könnte von Deutschland als eine Kraft wahrgenommen werden, gegen die ein Gegengewicht zu setzen sei.”
Die wachsende Abhängigkeit des Franc von der Bundesbank schafft zusätzliche Druckmittel eigener Art, etwa wenn die Frankfurter Allgemeine den Gedanken ventiliert, daß in Frankreich “Verläßlichkeit und Vertrauen in der Wirtschafts- und Währungspolitik” der Bundesrepublik nur noch dann zu erwarten sei, wenn ihr “das gleiche in der Verteidigungs- und auch in der künftigen Atompolitik nicht verweiger(t)” werde. (FAZ, 4.9.95)

Die Konstellation der Interessen ist heute, da französische Regierungsstellen “erstmals mit den Deutschen über Atomwaffen sprechen” (Sunday Telegraph) somit relativ klar. Erstens kann von Europäisierung im wörtlichen Sinne keine Rede sein. Europäisierung ist die Chiffre, hinter der sich die Atomambition der Berliner Republik verbirgt. Die Idee eines Vetorecht aller 16 EU-Regierungschefs über die Euro-Bombe würde bedeuten, jedweden Einsatz dieser Bombe wirkungsvoll wie dauerhaft zu blockieren. Darüber hinaus sind Länder wie Schweden, Griechenland oder die Niederlande ebensowenig an einer Europäisierung der französischen Bombe interessiert, wie Frankreich an deren Mitsprache.
Während zweitens “nichts so selbstverständlich (ist) wie das Bestreben der beiden europäischen Atommächte, das Thema aus den Überlegungen “Maastricht II” herauszuhalten” (FAZ, 4.9.95), verfolgt man in Bonn das entgegengesetzte Ziel. Zwar wird man in London und Paris nicht abgeneigt sein, die eigene Atommacht mit deutschem Geld und deutscher Technologie subventionieren zu lassen, (und sich vom “Europa”Etikett vielleicht auch einen zusätzlichen public relation-Effekt versprechen) sobald es aber um die Frage der Verfügungsgewalt geht, stehen die Interessen unverändert Spitz auf Knopf.
All jene Mitsprache-Häppchen, die Jacque Chirac den deutschen Nukleokraten mittlerweile hingeworfen haben mag, werden deren Appetit mit Sicherheit nicht stillen, sondern erst wecken. Zwar würde im Fall der Errichtung einer Europäischen Nuklearen Planungsgruppe der deutsche Einfluß ohnehin unvergleichbar viel größer sein, als in der USA-dominierten Nuklearen Planungsgruppe der Atlantischen Allianz. Doch würde die Bundesregierung damit nicht zufrieden sein. In Publikationen der regierungsnahen “Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik” hatte man 1994 ergänzend eine “Entscheidungsstruktur mit europäischer politischer Spitze” gefordert, in welcher ein nationales Vetorecht Großbritanniens und Frankreichs nur für Übergangszeit noch hinnehmbar sei, “bis diese politische Spitze tatsächlich den Charakter eines konföerativen oder förderativen Organs annimmt.”
Doch auch die Vorstellung vom französisch-britisch-deutschen “Atomwaffenrat” ist kaum mehr als ein Hirngespinst, sollte es eines Tages tatsächlich um einen nuklearen Einsatzbefehl oder um die Glaubwürdigkeit einer entsprechenden Androhung gehen. Denn die Entscheidung über den Einsatz von Atomwaffen ist unteilbar – da hatte de Gaulle einfach recht.
Daraus folgt drittens, daß jeder erreichbare Grad an deutscher Mitsprache oder Mitverfügung nur als ein Zwischenschritt zur deutschen Alleinverfügung betrachtet werden kann, ein Zwischenschritt freilich, durch welchen die deutsche Atomwaffenforschung auf den neuesten Stand gebracht und internationale wie auch die nationale Öffentlichkeit behutsam auf die künftige deutsche Atommacht-Rolle vorbereitet werden kann.

Es sind jene Machtverschiebungen und interessen in Europa, nicht die Atomtests und deren Widerhall, welche die Nukleardebatte bestimmen. Chiracs riskante Ankündigung hatte jedoch eine Dynamik ausgelöst, die das public relation Problem der deutschen Nuklearpolitik reduziert: Zunächst ist Bonn in der glücklichen Lage dessen, der nicht fordern muß, sondern mit einem Angebot kommen kann: die Mithilfe bei der Eindämmung des antinuklearen Protests. Zweitens wird der Gedanke der Europäisierung in der Öffentlichkeit nicht mit dem deutschen, sondern mit einem französischen Interesse in Verbindung gebracht. Die an diesem Punkt ansetzende Kampagne, so ist zu befürchten, wird unter einer Parole geführt, die sich schon bei der Durchsetzungen der “out of area”-Politik bewährt hatte: Deutschland dürfe sich dem Drängen seiner europäischen Verbündeten nicht länger entziehen, sondern müsse endlich volle Verantwortung auch für die Atomwaffenpolitik übernehmen. “Die Deutschen, die es sich zu Zeiten des Ost-West-Konflikts unter dem Nuklearschirm, den Amerika über das Bündnis aufgespannt hatte, relativ behaglich gemacht hatten, werden auch in dieser Frage Farbe bekennen müssen”, hieß es am 4. 9. 1995 bereits in dem Leitartikel der FAZ. Drittens kann Bonn seine Machtambition gesinnungsethisch garnieren. Man steigt ein und will nur das Beste für die Welt: Ökologisch unbedenkliche Atomtest-Versuchsreihen am Computerterminal etwa anstelle leibhaftiger Tests. nicht nur das Beste für die Welt? Viertens wurde mit Friedbert Pflüger eine Figur gefunden, die das alte Programm in einem modernisierten Gewand verkaufen zu können verspricht. Der smarte Jungpolitiker und ehemalige RCDS-Vorsitzende hatte als einer der engsten Mitarbeiter Richard Weizsäckers in seiner 1994 erschienen Schrift “Deutschland driftet” dazu aufgerufen, die neue Konservative Revolution in Deutschland politisch zu bekämpfen und sich insofern als ein Anhänger von Aufklärung und Westbindung profiliert. Es gilt nicht nur in der SPD-Bundestagsfraktion, sondern auch bei den Grünen als ein Gesprächspartner, dem man vertraut. Wenn Pflüger erläutert, warum gerade wir auf Nuklearkonsultation mit Frankreich nicht verzichten könnten (“weil wir eine nichtnukleare Nation ohne jede atomare Ambitionen sind” IHT, 25.8.95) strahlt er jene Glaubwürdigkeit aus der Zahnpastawerbung aus, welche durch Persönlichkeit überzeugt.

Dennoch: Die Tatsache, daß die hier dargestellten Entwicklungen in den deutschen Medien eher unterschlagen worden sind, macht deutlich, daß man schlafende Hunde derzeit noch nicht zu wecken. Der mediale Startschuß zur Isolierung des deutschen Nuklearpazifismus ist aber bereits vorbereitet, die potentiellen Impulsgeber jener Debatte stehen in Position. Einer von ihnen, der Friedensforscher Harald Müller (Hessische Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung), hat Frankreich und Großbritannien mittlerweile aufgefordert, “der Einrichtung einer europäischen Planungsgruppe zuzustimmen, deren Zuständigkeiten für französische und britische Kernwaffen weiter gehen müssen als die der Nuklearen Planungsgruppe der NATO.” Der andere, Dany Cohn-Bendit (“Das Maul”) hat sich in Bezug auf die “dramatische Frage der Nuklearwaffen” ebenfalls positioniert: Man müsse, so Dany im ZDF “weg von dem hegemonialen Besitz einer Nation hin zu einer Europäisierung” der Atomwaffen kommen. Joschka, der auf die Befürwortung deutscher Atomwaffen mit dem Argument reagierte, er sähe das doch lieber “europäisch geregelt” (taz, 18.9.92) wird da nicht außen vor bleiben wollen. Daß in Deutschland nur Außenminister werden kann, wer zuvor die nukleare Kröte geschluckt hat, ist ihm bekannt. Seine Argumentation wird den Konflikt zwischen Befürwortung und Ablehnung der Atomwaffe nationalkonsenual überbrücken: Man will zur Atomwaffe hin, aber selbstverständlich nur, um von ihr wegzukommen. Eine Atommacht, deren Pressestelle auf diesen Kalauer bisher nicht gekommen wäre, gibt es nicht.

(aus: konkret 10/1995)