Angst vor dem Atomkrieg?

Putins wüste Drohungen erfüllen ihren Zweck

Von Matthias Küntzel

Hamburg, 8. März 2022

Wir sehen, wie in fünf Meter Entfernung ein ins Wasser gefallener Nichtschwimmer um sein Leben kämpft und lautstark um Hilfe ruft. Wir haben zwar die lebensrettenden Geräte zur Hand, doch gehört der Ertrinkende nicht zu unserem Verein. Deshalb beschränken wir uns darauf, ihn mit Zurufen zu ermutigen, bis dieser schließlich vor unseren Augen untergeht.

Ein vergleichbares Verhalten legt heute die Nato gegenüber der ukrainischen Bevölkerung an den Tag. Man steht an der Grenze der Ukraine und sieht zu, wie das Land und seine Leute von der russischen Militärmaschinerie zerstört werden. Die Angegriffenen bitten die Nato lautstark um Hilfe, doch diese winkt ab, obwohl die UN-Charta diesen Beistand erlaubt. Tatsächlich gibt es für die Zurückhaltung der Nato nur einen einzigen guten Grund: Das Militärbündnis möchte Zusammenstöße mit der Atommacht Russland vermeiden. Nato- Generalsekretär Jens Stoltenberg schließt Nato-Flugzeuge im ukrainischen Luftraum und Nato-Truppen auf ukrainischem Boden kategorisch aus, weil „wir am Ende einen weitreichenden Krieg in ganz Europa mit noch mehr Opfern“ hätten.[1]

Das klingt vernünftig. Einen Weltkrieg riskieren, um der Ukraine zu helfen? Bloß nicht, denkt man und ist froh, dass im Weißen Haus kein Donald Trump regiert. Jetzt müsse man die Risiken für das restliche Europa minimieren. In der Tat hatte Putin schon in seiner Kriegsrede vom 24. Februar mit dem Schlimmsten gedroht: „Wer auch immer versucht, uns zu behindern, … muss wissen, dass die Antwort Russland … zu Konsequenzen führen wird, die Sie in Ihrer Geschichte noch nie erlebt haben.“ Er setzte die Taktik der Einschüchterung mit seiner Ankündigung vom 27. Februar, alle russischen Streitkräfte in erhöhte Alarmbereitschaft zu versetzen, fort. Beide Male hatte er implizit mit Atomwaffen gedroht und das macht Angst. Ist sie berechtigt?

Die Angst als Waffe

Expert/inn/en wie Flaurence Gaub vom „Institut der Europäischen Union für Sicherheitsstudien“ und Gustav Gressel vom European Council on Foreign Relations wiegeln ab: Putin benutze nicht die Atombombe, sondern die Angst vor der Atombombe als Waffe, so Gaub. Diese Angst sei heute sein wichtigster Hebel, den Westen militärisch aus dem Konflikt herauszuhalten.[2]

Gressel stimmt ihr zu: Das „Spiel mit dem Atomkrieg“ sei eine „sehr bewusste psychologische Kampfführung“. Putin versuche, „mit der Angst in den westlichen Gesellschaften zu spielen, um sie vor einer weiteren Unterstützung der Ukraine abzuhalten.“ Heute sei dies für Russland das einzige Mittel, um die europäische Öffentlichkeit zu erreichen.[3]

Beide betonen, dass sich der Status Quo der russischen Nuklearstreitkräfte nicht geändert habe und dass es berechenbare Signale gäbe, wollten Putin den Einsatz solcher Waffen tatsächlich vorbereiten.

Nun lässt sich die Angst vor einer Eskalation auch mit Hinweis auf Putins psychologisches Kalkül nicht vertreiben. Konzentrieren wir uns also auf die Frage, ob die Zurückhaltung der Nato die Risiken für Europa wirklich minimiert.

Muster der Eskalation

Indirekt hatte Putin bereits 2014, als er die Krim annektierte, mit der Bombe gedroht: Er behalte sich „alle Mittel“ zum Schutz der Russen in der Ukraine vor.[4]Also hielt sich der Westen respektvoll zurück und beschränkte sich darauf, die Krim-Annexion mit wirtschaftlichen und politischen Sanktionen zu ahnden. Das Resultat dieser frühen Zurückhaltung ist in der Ukraine zu besichtigen: Tausende Tote, Millionen Geflüchtete, extremste Not in allen Landesteilen.

Zwar brach mit Putins jüngstem Krieg „das Kartenhaus der Hoffnungen, Illusionen und Selbsttäuschungen“ (Berthold Kohler) zusammen. Doch erneut zieht es der Westen vor, bei der Selbstverteidigung der Ukraine zwar zu helfen, sich ansonsten aber „weise“ zurückzuhalten: Man werde erst dann, wenn Russland ein Nato-Mitglied angreift, militärisch reagieren. Wenn aber die Nato schon der Ukraine nicht hilft, ist dies bei kleineren Ländern wie Moldau noch weniger zu erwarten.

Baut sich der Westen, solange er darauf hofft, durch Zurückhaltung Schlimmeres zu verhüten, nicht ein weiteres „Kartenhaus der Selbsttäuschungen“ auf? Mit ihrer Festlegung gibt die Nato dem Kreml jedenfalls zu verstehen, dass er auch bei einem Überfall auf einen anderen Nicht-Nato-Staat keine ernsthaften Reaktionen befürchten muss.

Sollte aber Putin, gestärkt durch vorangegangene Feldzüge, tatsächlich das Nato-Mitglied Estland überfallen – ja, was dann? Wird dann die Nato für eine Land von der Größe Niedersachsens den Atomkrieg riskieren, nachdem man zuvor den Einsatz für die 13 mal so große Ukraine abgelehnt hat? Die Antwort liegt auf der Hand: Man wird alles tun, um der großen Konfrontation erneut aus dem Weg zu gehen; die Nato würde ihre Glaubwürdigkeit vollends verlieren, Putin und Seinesgleichen aber würden weiter stärker werden.

Dies zeigt, „dass der Preis dafür, einen Diktator aufzuhalten, immer weiter steigt. Was vor 8 Jahren, sechs Monaten oder zwei Wochen noch ausgereicht hätte, um Putin aufzuhalten, ist jetzt längst nicht mehr genug“, schreibt der ehemalige Schachweltmeister Garri Kasparow. „Und morgen wird der Preis noch einmal höher sein.“[5]

In der Tat! Niemand kann garantieren, dass das Fallenlassen der Ukraine – deren „Opfergang“, um Robert Habeck zu zitieren – die revisionistischen Bestrebungen des Kreml befriedigt und den Vormarsch russischer Truppen stoppt. Dies zeigt, dass bei einem unberechenbaren Egomaniker der am nächsten liegende Gedanke – nur keine militärischer Konfrontation! – die Risiken für Europa zwar kurzfristig minimiert, langfristig aber durchaus erhöht. Natürlich muss ein Weltkrieg verhindert werden. Gleichzeitig dürfen wir Putins Psychologie der Einschüchterung nicht auf den Leim gehen. Beiden Postulaten gerecht zu werden, ist Aufgabe dieser Zeit.

Möglichkeiten der Nato

Auch dann, wenn die Nato nicht für die Ukraine kämpft, sollte sie ihr Potential und ihre Parteinahme nicht verstecken. Richard Herzinger etwa schlägt vor, die strikte Grenzziehung zwischen Nato- und Nicht-Nato-Staaten zu revidieren und „die Frage eines westlichen [Nato-] Eingreifens offen zu lassen, ohne sich andererseits öffentlich darauf festzulegen.“ Dies würde den Kreml-Herrscher „in Verunsicherung versetzen, ob er von der Überschreitung gewisser Grenzen der Kriegsführung an nicht doch mit einer westlichen militärischen Reaktion zu rechnen hätte. Nur das könnte ihn dazu bewegen, sich womöglich ein gewisses Maß an Zurückhaltung aufzuerlegen.“[6]

Eine weitere Initiative unterhalb dessen, was als kriegerischer Akt angesehen werden kann, ist der Vorschlag, ältere Jets aus der Sowjetzeit, wie sie Polen und Rumänien besitzen, an die Ukraine zu überführen – handelt es sich doch um Maschinen, an denen auch ukrainische Piloten trainiert wurden. Die USA versprachen, zu prüfen, wie sie die Lücken wieder füllen könnten, sollte sich beispielsweise Polen entscheiden, Kampfflugzeuge an die Ukraine zu liefern.[7]

Über die Einführung Nato-kontrollierter Flugverbotszonen wird immerhin diskutiert. Wird man sie eines Tages durchsetzen müssen, „weil wir einfach nicht mehr hinschauen können, die Zerstörung zu groß und die Zeugnisse der Opfer zu bedrückend werden?“[8]

Deutschland als Bremser

Natürlich ließe sich der Druck auf Moskau auch mit Sanktionen und Embargos erhöhen. Hier steht jedoch besonders Berlin auf der Bremse. Zwar versprach die Bundesregierung, der Ukraine 500 Stinger-Raketen und 1000 Panzerabwehrwaffen zu übergeben. Gleichzeitig hält sie jedoch an den Käufen russischer Energierohstoffe fest und sperrte sich selbst noch nach Kriegsbeginn, Russland vom Zahlungssystem SWIFT auszuschließen.
Die Kritik von Donald Tusk, ehemals Polens Ministerpräsident und heute Vorsitzender der Europäischen Volkspartei (EVP), war harsch:

„In diesem Krieg ist alles bittere Wirklichkeit: Putins Verrücktheit und Grausamkeit, die Opfer in der Ukraine, die Bomben, die auf Kiew fallen. Das einzige, was vorgetäuscht ist, sind eure Sanktionen. Die Regierungen, die härtere Entscheidungen blockiert haben – also Deutschland, Italien und Ungarn – haben Schande über sich gebracht.“[9]

Nachdem aber in Brüssel die Rede von SWIFT als dem „neuen Nord Stream 2“ die Runde machte, ließ sich die deutsche Totalablehnung nicht länger halten. Gleichwohl gelang es Berlin, seine Schäfchen ins Trockene zu bringen. So schließt der derzeit gültige EU-Beschluss auch aufgrund deutschen Betreibens nur 25 Prozent des russischen Bankenmarkts von SWIFT aus. Ausnahmen wurden sowohl für die größte russische Bank Sberbank wie auch für die Gazprombank, dem drittgrößten russischen Finanzinstitut, gemacht.[10]

Infolgedessen werden die russischen Öl- und Gasgeschäfte mit der EU zu Höchstpreisen und auf Rekordniveau fortgesetzt. „Jeden Tag“, so Norbert Röttgen, Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses im Bundestag, „wird so annähernd eine Milliarde Euro in Putins Kriegskassen gespült.“ Er appelliert an die Bundesregierung, die russischen Gas- und Ölimporte sofort zu stoppen.[11]

Der Bundeskanzler aber widerspricht: Die Bundesregierung habe entschieden, „die Aktivitäten der Wirtschaftsunternehmen im Bereich der Energieversorgung mit Russland weiterzuführen.“[12] Vermutlich wird sich aber auch diese „business-as-usual“-Linie nicht halten lassen. „Wir dürfen nicht Öl und Gas mit dem Blut der Ukraine bezahlen“, warnt Litauens Außenminister Gabrielius Landsbergis. Am 10. März werden die EU-Staats- und Regierungschefs auf einem Sondergipfel über weitere Sanktionen beraten.

Ob ein Energieembargo Putins Krieg beendet, ist allerdings offen. Sollte das nicht der Fall sein, stellt sich erneut die Frage, ob die Verlockungen des Appeasements den Sieg davon tragen werden oder das Gebot der Solidarität. Ohnehin wird man sich auch noch in 100 Jahren fragen: Warum haben wir den Ertrinkenden nicht gerettet; warum hat die Welt im Frühjahr 2022 das Massaker an den Ukrainerinnen und Ukrainern nicht gestoppt?

Exkurs: Vom „Gleichgewicht des Schreckens“ zum „Übergewicht des Schreckens“

Im Ukraine-Konflikt hat die Nukleardoktrin der wechselseitigen Abschreckung versagt: Russland zerstört, gestützt auf sein Nuklearpotential, ein unabhängiges Land, weil es damit rechnen kann, dass die Nato-Mächte dieses Land eher fallen lassen, als es zu verteidigen. Und solange die Nato ihren Kurs der Deeskalation beibehält, wird es auch künftig keine wechselseitige Abschreckung geben: Putin wird, gestützt auf seine Atomwaffen, den Westen einseitig abschrecken und ansonsten machen, was er für richtig hält. Dies ist eine unheilvolle Entwicklung.

Bislang wurde das atomare Patt zwischen Russland den USA als „Gleichgewicht des Schreckens“ beschrieben. Inzwischen handelt es sich um ein „Übergewicht des Schreckens“: Anders als die USA kann Russland, gestützt auf seine Atomwaffen, Kriege führen.

Wie konnte es zu dieser Entkopplung der zuvor noch vorhandenen Parität zwischen den beiden Haupt-Atommächten kommen? Ich vermute, sie ist innenpolitisch bedingt: Während in der amerikanischen Demokratie Mehrheiten den Rückzug der USA von der Weltpolitik fordern, braucht der Kreml immer weniger Rücksicht auf Bevölkerungsinteressen zu nehmen und kann zuschlagen, wo es ihm passt. Und während die USA ihren Großmachtstatus eher mit Silicon Valley dokumentieren, ist es in Russland allein das Atomwaffenpotential, das diesen Status legitimiert.

Außenpolitisch deutete sich der Beginn dieser Auseinanderentwicklung bereits 2013 an – als US-Präsident Barak Obama im Syrienkrieg Assads Giftgasangriffe ungesühnt ließ und damit der russischen Nomenklatura den Einstieg in eine aktive Nahostpolitik inklusive Syrienkrieg und Iran-Partnerschaft erleichterte.

Welche Konsequenzen sind aus dieser unübersehbaren Entkoppelung zu ziehen? Die Antwort ist offen: „Wir befinden uns im frühesten Stadium einer geschichtlichen Katastrophe, die wir gerade erst zu deuten beginnen.“[13]

[1] Thomas Gutschker, Hauptsache defensiv, in: Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), 5. März 2022.

[2] Florence Gaub, Russlands Nukleardoktrin – und ihr entscheidendes Detail, in: Welt, 8. März 2022.

[3] Gustav Gressel im Gespräch mit Caren Miosga, Tagesthemen, 7. März 2022.

[4] Erklärung zur Krim-Krise: Putin hält sich ,alle Optionen‘ in der Ukraine offen, in: Spiegel-Online, 4. März 2014.

[5] Garri Kasparow, Das ist bereits der Dritte Weltkrieg, in: Die Welt, 6. März 2022.

[6] Richard Herzinger, Ukraine: Die Nato darf nicht länger nur zusehen!, auf: www.herzinger.org, 4. März 2022.

[7] Clemens Wergin, Kampfjets für die Ukraine – greift der Westen zu dieser riskanten Operation?, in: Die Welt, 6. März 2022.

[8] Paul Ingendaay, Das Unheil vor Augen, in: FAZ, 7. März 2022.

[9] Hendrik Kafsack, Werner Mussler, Markus Frühauf, Kritik an Berlin wegen Nein zu Swift-Sanktionen, in: FAZ, 26. Februar 2022.

[10] Werner Mussler, EU schließt sieben russische Banken von SWIFT aus, in: FAZ, 3. März 2022.

[11] Norbert Röttgen, Wir müssen Russlands Gas- und Ölgeschäft jetzt stoppen!, in: Tagesspiegel, 6. März 2022.

[12] Bundeskanzler Scholz gegen Ölembargo, in: FAZ, 8. März 2022.

[13] Paul Ingendaay, Das Unheil vor Augen, in: FAZ, 7. März 2022.

Bild: Atombombentest Romeo auf dem Bikini-Atoll. Quelle: Wikimedia Commons