Partners in Leadership

Clinton und Kohl: Verbündete auf Zeit?

Von Matthias Küntzel

iz3w, Dezember 1996

In immer neuen Varianten hatte Bill Clinton anläßlich seines Deutschland-Besuchs im Juli 1994 für eine entschlossenere deutsche Machtpolitik agitiert. “Alles was getan werden kann, um Deutschland in die Lage zu versetzen, seine Führungsverantwortung tatkräftig wahrzunehmen”, müsse man, so Clinton, begrüßen. Entsprechend erfreut war seine Reaktion auf den Karlsruher “Out-of area”-Beschluß, welcher den Wechsel von den Streitkräften der alten Bundesrepublik zur Bundeswehrmacht der Berliner Republik symbolisiert. “Nichts wird uns aufhalten. Alles ist möglich”, hatte er in deutscher Sprache unter dem Jubel der Berliner gar ausgerufen.

Alles ist möglich? Keineswegs. Zwar ist es zutreffend, daß die deutschlandpolitischen Berater der Clinton-Administration um Ronald Asmus, Daniel Hamilton, Richard Hoolbrooke oder Philip H. Gordon zur internationalen Avantgarde derer gehören, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, jedwede Skepzis hinsichtlich einer neuen deutschen Machtpolitik als Hirngespinst oder als “kurzsichtigen Moralismus” zu denunzieren. Und dennoch spiegelt sich selbst in ihren Texten jener Widerspruch, der die amerikanische Deutschlandpolitik seit beinahe 50 Jahren auszeichnet: Man will die deutsche Machtentfaltung einerseits mobilisieren und andrerseits, ein wenig jedenfalls, auch kontrollieren.

Eine akutuelle Version dieses Spagats hatte Philip Gordon 1994 in der US-Fachzeitschrift “Orbis” unter der Überschrift “The Normalization of German Foreign Policy” beschrieben. Sein Plädoyer für eine “Normalisierung” der deutschen Machtpolitik begründet er darin mit dem Argument, daß sich Westdeutschland zwischen 1949 und 1989 als zuverlässige Partner des Westens erwiesen habe: “After forty-five years of responsible German behavior in Europe, they deserve the opportunity to do so again.” Der Gedanke der “Normalisierung” läßt es zwar logisch erscheinen, daß die Holocoust-Erfahrung von der Gegenwart endgültig abgetrennt und auch die letzte als Folge des verlorenen Krieges beschlossene Rüstungsbegrenzung hinsichtlich der ABC-Waffen beseitigt wird. Soweit aber wollen es die internationalen Befürworter der deutschen “Normalisierung” in der Regel nicht kommen lassen: “Es gibt selbstverständlich potentielle Gefahren, die mit der Normalisierung verbunden sind und klare Grenzen, jenseits sie nicht überschreiten darf”, schreibt Philip Gordon. “Niemand will erleben, daß Deutschland die Lektionen der Vergangenheit vergißt und beide, Deutschland und seine Freunde, müssen dahingehend wachsam sein, daß die Deutschen hinsichtlich der Konsequenzen ihrer Macht und der Bedeutung ihrer Geschichte sensibel bleiben.” Die Grundidee der us-amerikanischen Deutschlandpolitik ist damit auf den Punkt gebracht: Normalisierung ja, aber begrenzt. Der Hoffnung auf eine “Begrenzung” deutscher Machtentfaltung liegt freilich ein Denkfehler zugrunde, auf den ich weiter unten zurückkommen will. Zunächst sei an Beispielen skizziert, wie sich jener Widerspruch zwischen “Normalisierung” und “Begrenzung” materialisiert.

Deutsche Atomwaffenoption

Die 1992 nur durch eine Indiskretion bekanntgewordene “Richtlinie für die US-Verteidigungsplanung der Haushaltsjahre 1994-1999” hatte die Frage beantwortet, gegen wen die Aufrüstung der USA nach den Ende des Kalten Krieges vorrangig gerichtet sei: gegen ein nuklear bewaffnetes Deutschland und ein entsprechend gerüstetes Japan. “Unser erster Ziel muß es sein”, hieß es darin, “das Wiedererstehen eines neuen Rivalen … zu verhindern. ... Wir müssen verhindern, daß irgendeine feindliche Macht eine Region dominiert, deren Ressourcen für die Schaffung einer globalen Machtposition ausreichend wären.” Aus der Kombination von Wirtschaftskraft und Atombombe erwachse aber jener “new global enemy”, dessen Aufkommen zu verhindern ein primäres Ziel der USA sei. So dürfe insbesondere nicht der Sieg verspielt werden, der darin bestehe, “die Integration Deutschlands und Japans in ein amerikanisch geführtes System kollektiver Sicherheit”- zustandegebracht zu haben. (Vgl. “konkret” 9/92)
Clinton kombiniert beides: Den Aufruf an Deutschland, die Vorherrschaft in Europa zu übernehmen mit einer Diplomatie, die den deutschen Atomwaffenoption den Boden zu entziehen sucht. Seine Bemühungen, gemeinsam mit Rußland, Großbritannien und Frankreich eine Koalition gegen die Lieferung von Waffenuran für den Reaktor Garching II auf die Beine zu stellen, ist hier nur die aus den Dunkeln der Geheimdiplomatie aufragende Spitze des Eisbergs. (Vgl. “konkret” 9/94) Auf der Tagesordnung der von Clinton veranlaßten vertraulichen Gespräche über die deutsche Plutoniumpolitik steht darüberhinaus die Frage der deutschen Plutonium-Tonnagen in Hanau sowie die deutsche Nuklearpolitik vis-a-vis Moskau.

Europäische Union

Keineswegs begeistert sind die USA über die von der BRD zunehmend forcierten Anstrengungen, die EU von der Abhängigkeit der USA abzukoppeln und mit den Kapazitäten auszustatten, die für eine militärisch autonom handelnde Militärmacht notwendig sind. Das jüngste Beispiel liefert der (in den BRD-Medien weitgehend verschwiegene) Streit um den Aufklärungssatelliten Helios II. Dieser unter französischer Federführung anvisierte Militärsatellit dient dem Zweck, von US-amerikanischen Aufklärungsdaten nicht länger abhängig zu sein und eine von den USA unabhängige, auch nukleare Zielplanung vornehmen zu können. Im Oktober 1995 hatte sich die Bundesregierung entschieden, sich für 2 Milliarden DM in dieses Projekt einzukaufen. Diesem Beschluß waren, wie die International Herald Tribune am 19. 10.95 berichtete, energische Intervention der USA mit dem Ziel, dies zu verhindern, vorausgegangen. Clinton persönlich hatte an Kohl appelliert, von dem Programm die Finger zu lassen. Der US-Konzern Lockheed Martin Corp. wurde veranlaßt Satelliten, über die ansonsten die USA ein Monopol besitzen, zu Dumpingpreisen an Deutschland zu verkaufen. John Deutch, der Chef der CIA wurde nach Bonn und Pullach geschickt, um seine deutschen Geheimdienstkollegen von den Vorteilen des us-amerikanischen Angebots zu überzeugen. Vergeblich. Bonn besteht, wie der deutsche Generalinspekteur Naumann erklärte, auf eine europäisch-autonome Waffeneinsatzfähigkeit auch in den Fällen, in denen “die NATO entweder nicht handeln kann oder nicht handeln will”. “Oder nicht handeln will…” meint Szenarien, in denen das Interesse der Bundesregierung sich von dem Interesse der USA unterscheidet. Es wird von der Clinton-Administration, im Unterschied zur Politik George Bushs, die sogenannte europäische “Verteidigungsidentität” ausdrücklich befürwortet, jedoch nur insoweit, wie jene sich in den Rahmen einer nach wie vor von den USA dominierten Nordatlantischen Allianz einzuordnen bereit ist. Dies aber ist immer weniger der Fall, was nicht nur mit einer Veränderungen von Kräfteverhältnissen zusammenhängt, sondern auch damit, daß sich in der für die Zukunft Osteuropas grundlegenden Frage, welche Art von Beziehung gegenüber Rußland zu verfolgen sei, die deutsche Position von der Haltung Washingtons erheblich unterscheidet.

Das Verhältnis zu Rußland

Der Kern der deutsch-amerikanischen Differenz ist ideologischer Natur und mit dem spezifisch völkischen Ansatz der deutschen Außenpolitik verknüpft. Washington hat keine prinzipiellen Zweifel daran, daß Rußland, wie jedes andere Land der Erde, eine bürgerliche Demokratie auf der Basis des Kapitalismus zu werden in der Lage ist. Für die herrschende Sichtweise der Bundesrepublik ist Rußland demgegenüber eine asiatische Großmacht ohne Zugang zur “europäischen Kultur”. Besonders kraß kommt der Rassenimperialismus des dafür zuständigen FAZ-Herausgebers daher, der von einer “historisch bedingte Eigenart des russischen Volkes” spricht, welche geprägt sei “von über zweihundertfünfzigjähriger Herrschaft der Mongolgen und Tataren.” Deshalb “werde ein Russe nie so produktiv arbeiten wie ein Westler.” An “gefährlichem Wirklichkeitsverlust” leide, so Reißmüller, wer vom russischen Volk eine Außenpolitik erwarte, “die auf Interessenausgleich und Zusammenwirken gründet und physische Macht, wenn überhaupt, dann mit strenger Selbstbeschränkung einsetzt.” (FAZ, 20.5.92)
Die Gegenposition hatte 1994 in Rahmen der Münchner Wehrkundetagung US-Verteidigungsminister Perry formuliert.
“In der Diskussion wurde behauptet”, erklärte Perry, “daß Rußland dazu bestimmt ist, eine imperiale Macht zu sein und deshalb unfähig sein wird, die Möglichkeit der demokratischen Nationenbildung zu nutzen. Ich persönlich weise den Standpunkt, wonach die Kultur einer Nation ihr Verhalten und ihr Auftreten in der politischen Arena vorherbestimmt, zurück. Der Standpunkt, daß es irgendetwas in der russischen Kultur gebe, das dieses Land daran hindert, eine demokratische Nation zu werden, ist falsch.” (So die Informationsdienst der deutschen US-Botschaft, Policy Information And Texts (PIAT), 8.2.94)
Auf der Ebene des NATO-Programms “Partnership for Peace” wird dieser Streit zwischen deutscher und westlicher Ideologie inzwischen wie folgt buchstabiert: “Partnerschaft für den Frieden” bedeute, so Kinkel, “ein Angebot, das rechtlich für sämtliche neuen Demokratien des Ostens, aber faktisch nicht für Rußland und die Ukraine gilt.” (FAZ, 22.12.93) “Angesichts der internationalen Bedeutung Rußlands”, heißt es demgegenüber in einer gemeinsamen Clinton/Jelzin-Erklärung, “begrüßte Präsident Clinton die Aussicht auf eine Beteiligung Rußlands an der Partnerschaft für den Frieden.” (Monitor-Dienst, 15.1.94) “Ziel sei ein integriertes Europa, daß auch Rußland einschließe.”
Während hier die europäische Szene in eine gute deutsche und eine böse russische Politik aufgeteilt zu sein scheint, präferiert man in die USA die Äquidistanz: Hier die neue Kontinentalmacht mit durchaus ungewisser Zukunft, dort das nukleare Riesenreich und dazwischen Osteuropa “sandwiched between a resurgent Germany and an unstable Russia.” (PIAT, 29.10.93) Die Mailänder Tageszeitung “Corriere della Sera” sprach im Mai 1995 von “einem Europa, das Clinton und Jelzin wollen, und einem, von dem Kohl träumt. Sie sind vollkommen unterschiedlich. Das erste steht immer noch unter dem Schutz Amerikas und Rußlands, ... das zweite ist unabhängig. ... Für Clinton bleibt Moskau weiterhin der wichtigste Partner … Kohl präsentiert sich als Architekt eines künftig unabhängigen Europas. Das könne eine historische Wende sein. Zum ersten Mal nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges schlägt Deutschland einen anderen außenpolitischen Weg ein als die USA.” (Zitiert nach FAZ, 12.5.95)

Warum wird trotz dieser massiven Differenzen Deutschland zum Hauptbündnispartner der USA erklärt? Der erste Grund ist in der folgenden Schlagzeile der International Herald Tribune auf den Punkt gebracht: “Better German Leadership Than None”. Im Chaos der osteuropäischen Übergangsgesellschaften erscheint deutsche Ordnungsmacht im Moment noch als das kleinere Übel. Zweitens geht es den USA um einen Ansatz von Arbeitsteilung. “Eine größere deutsche Handlungskapazität erhöht sowohl Amerikas eigene Handlungsfähigkeit …, wie auch seine Flexibilität”, heißt es etwa in der vielbeachteten Studie Daniel Hamiltons, “Beyond Bonn – America & the Berlin Republic”. Drittens hoffen die USA, durch eine Politik des Entgegenkommens (früher: Appeasement) die Berliner Republik von zukünftigen Alleingängen abhalten zu können. “Niemand möchte”, so Richard Holbrooke, “daß die Deutschen allein handeln und ihre Streitkräfte allein einsetzen.”
All diese Überlegungen basieren auf zwei Prämissen, deren Realitätsgehalt bezweifelt werden muß. Erstens interpretieren die USA die relativ zurückhaltende Bonner Außenpolitik bis 1989 als Konsequenz eines bewußten Bruchs mit den Prinzipien, die die deutsche Machtpolitik in den Jahrzehnten zuvor bestimmt hatten. Zweitens interpretieren sie die Wende von 1989/90 in Bezug auf Deutschland als ausschließlich quantitative Zäsur: mehr Bevölkerung, mehr Landesgröße, mehr Wirtschaftskraft. Ausgeblendet wird die Möglichkeit, daß die deutsche Politik bis 1989 “gebändigt” dahergekommen ist, weil und solange die äußeren Rahmenbedingungen eine andere Politik gar nicht zugelassen hatte. Ignoriert wird die Tatsache, daß maßgebliche Ideologen einer neuen deutschen Machtpolitik (Stürmer etwa, oder Baring, Scholz oder Schwarz) die Berliner Republik keineswegs als den Nachfolgestaat der alten Bundesrepublik begreifen, sondern, soweit es die Außenpolitik betrifft, als das Gegenmodell zu jenem “impotenten Zwerg”, als welchen man im Nachhinein die Alt-BRD denunziert.
Wer den Deutschen die Normalisierungs-Idee beibringen will, schrieb im April 1992 der SPD-Politiker Peter Glotz an die Adresse der USA, solle sich klarmachen welche Fragen er provoziert. Es würde sich dann über kurz oder lang ein Konservativer finden, “welcher der Katze die Schelle umhängt und offen ausspricht, daß es absurd sei, wenn Brasilianer, Inder oder gar Libyer Atomwaffen bekommen, die Deutschen aber nicht. ... Es könnte gut sein, daß es nicht mehr allzulange dauert, bis die stolzen Sieger des Golfkrieges sich nach dem verachteten ,Genscherismus’ sehnen, der solche Aggressionen bisher in ,Verwaschenheit’ und ,Sentimentalität’ erstickte.” In der Tat.

Matthias Küntzel

(aus: blätter des iz3w, Nr. 210, Dezember/Januar 1995/1996)