No Germans – No Holocaust

Zur Holocaust-Deutung der Kritischen Theorie

Von Matthias Küntzel

Jungle World, September 1997

War mit dem millionenfachen Mord an den europäische Juden die gesamte abendländische Vernunft in Selbstdestruktion umgeschlagen, wie es der universalistische Ansatz der Kritischen Theorie formuliert? Oder ist der Holocaust das Resultat spezifischer Entwicklungen in Deutschland, wie z.B. Daniel J. Goldhagen schreibt?

Zwar weist Goldhagens Partikularismus einen entscheidenden Schwachpunkt auf: Er trennt die Mentalitätsgeschichte der Deutschen von der Spezifik der kapitalistischen Vergesellschaftung, aus der sie erwuchs. Nur deshalb ist er in der Lage, dem Deutschen Reich des Bösen das Modell einer vermeintlich geläuterten BRD gegenüberzustellen. Doch wird der allumfassende Universalismus der Kritischen Theorie dem singulären Verbrechen noch weniger gerecht.

Goldhagens zentrale Fragestellung, warum die Auslöschung der Juden gerade in Deutschland und durch die Deutschen exekutiert wurde, war Max Horkheimer und Theodor W. Adorno, den Hauptautoren der Kritischen Theorie, bereits methodisch suspekt: “Keineswegs ist der totalitäre Antisemitismus ein spezifisch deutsches Phänomen”, hatten sie 1959 erklärt. “Das Rätsel verlangt nach seiner gesellschaftlichen Auflösung, und die ist in der Sphäre nationaler Besonderheiten unmöglich.” (VW VII)

Ihr Hauptwerk Dialektik der Aufklärung – 1944 verfasst und 1947 ergänzt – suchte den auf Auschwitz zulaufenden Antisemitismus mit dem “Wesen der herrschenden Vernunft selber und der ihrem Bild entsprechenden Welt” (DA, 7) zu erklären. Die Unterschiede zwischen den alliierten Staaten und dem nationalsozialistischen Deutschland erschienen aus dieser Perspektive belanglos: Die Numerierung der Häftlinge in den KZs wurde mit der Einheitlichkeit der Autotypen und der Standardisierung der Radiomusik in den USA auf eine Stufe gestellt. “Was die Sadisten im Lager ihren Opfern ansagten: morgen wirst du als Rauch aus diesem Schornstein in den Himmel dich schlängeln, nennt die Gleichgültigkeit des Lebens jedes Einzelnen, auf welche Geschichte sich hinbewegt: schon in seiner formalen Freiheit ist er so fungibel und ersetzbar wie dann unter den Tritten der Liquidatoren.” (ND, 355) Die äußerste Radikalität dieser Gesellschaftskritik, die gegen jede Gleichschaltung revoltiert, wird erkauft durch die bewußte Einebnung all jener Sonderheit, durch die der Holocaust gekennzeichnet ist.

Zur Funktion der antisemitischen Ideologie äußerten sich Horkheimer/Adorno ambivalent: Sie galt einerseits als “autonomer Selbstzweck” (DA 181), zugleich aber auch als “manipulativ ausgedacht, bloßes Herrschaftsmittel, von dem im Grund kein Mensch, auch die Wortführer nicht erwartet haben, daß es geglaubt oder irgend ernst genommen würde.” (SE 169) Die Spezifik der antisemitischen Orientierung wurde unterschätzt. Nicht unbedingt der Jude sei das Opfer, heißt es in den Elementen des Antisemitismus, sondern “die Wut entlädt sich auf den, der auffällt ohne Schutz. Und wie die Opfer untereinander auswechselbar sind, je nach der Konstellation: Vagabunden, Protestanten, Katholiken, kann jeder von ihnen anstelle der Mörder treten.” (DA 180)

In den Texten der Kritischen Theorie tauchen – anders als bei Goldhagen – die Vollstrecker des Holocaust als handlungsfähige politische Wesen nicht auf: “In solchen Dingen waren die Massen wesentlich die Objekte, nicht die Subjekte der faschistischen Regierungskunst.” (LF 46) 1959 noch war man davon überzeugt, daß der totalitäre Antisemitismus seine Triumphe in Deutschland “keineswegs … der Haltung eines Volkes (verdankt), das von sich aus, spontan, vielleicht weniger Rassenhaß aufbrachte als jene zivilisierten Länder, die ihre Juden schon vor Jahrhunderten vertrieben oder ausgerottet hatten.” (VW VII) Die Kritische Theorie blieb hier einer Prämisse des traditionellen Marxismus verbunden, für die (gerade in Bezug auf Deutschland) das dichotome Bild von Herrschaftsträgern und Unterworfenen der kaum gebrochene Orientierungsrahmen war.

Derartige Schwächen tangieren die Brillianz und Orginalität der Denkleistung Horkheimers und Adornos freilich nur peripher. Ohnehin hatten sie der Wahrheit stets einen “Zeitkern” zugesprochen, ihre Analyse also nicht als Unveränderliches stilisiert. (DA IX) Heute erscheint es als notwendig, die Holocaust-Interpreta
tion der Kritischen Theorie im Lichte neuer Erkenntnisse, wie sie zuletzt auch Goldhagen zutage förderte, zu überprüfen, zu revidieren. Ausnahmslos jedoch schrecken vor dieser Aufgabe die Adepten der Kritischen Theorie bis heute zurück. Warum?

Weder ist die “moderne kapitalistische Gesellschaft” im Holocaust “zu sich gekommen”, wie die Zeitschrift Bahamas jüngst schrieb, noch bedeutet er den Bruch mit ihr. Zumindest bis heute ist die Auslöschung der europäischen Juden der Sonderfall, dessen gesellschaftlicher Urgrund zwar in allen warenproduzierenden Gesellschaften nachzuweisen sind, dessen spezifische Form sich der Verallgemeinerung jedoch entzieht. Dialektisch sind “gesellschaftliche Auflösung” und “nationale Sonderheit” ineinander verschränkt.

Matthias Küntzel

VW: Horkheimer, Adorno: Vorwort zu: Paul W. Massing, Vorgeschichte des politischen Antisemitismus, Ffm 1986
DA: Horkheimer, Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/M. 1988m
ND: T.W.Adorno, Negative Dialektik, Frankfurt/M. 1994
SE: Institut für Sozialforschung, Soziologische Exkurse, Frankfurt/M. 1956; zitiert nach: E. Cramer, Hitlers Antisemitismus und die Frankfurter Schule, Düsseldorf 1979
LF: M. Horkheimer, Lehren aus dem Faschismus, in: M. Horkheimer, Gesellschaft im Übergang, Frankfurt/M. 1982

(aus: Jungle World, 11. September 1997)