Neuestes Buch:
Nazis und der Nahe Osten
Wie der islamische Antisemitismus entstand
Rezension von Nationalsozialismus und Arbeitermilieus. Der Angriff auf die proletarischen Wohnquartiere und die Reaktionen in den sozialistischen Vereinen
Jungle World, September 1998
“Für die Unterdrückten! Gegen die Ausbeuter!” Dies war der Untertitel der von Josef Goebbels herausgegebenen Zeitschrift “Der Angriff”, die in Berlin zunächst monatlich, dann wöchentlich und seit 1930 täglich erschien. Nicht ohne Erfolg: 1932 war die NSDAP zur stärksten Partei Berlins geworden. Die Anzahl der aus dem Berliner Proletariat rekrutierten SA-Schläger hatte sich auf 15.000 erhöht. Nicht wenige davon kamen von links: “Die besonders starke Fluktuation von der KPD zur NSDAP und innerhalb dieser, vor allem zur SA” wurde 1932 in einem Spitzelbericht der Berliner Politischen Polizei aufmerksam registiert. Dieses Phänomen, heißt es darin weiter, sei die derzeit “schwerste Sorge” der KPD.
An die Berliner Erfolge eines Josef Goebbels knüpft heute die NPD an, die sich in Sachsen als “moderne und revolutionäre Partei” präsentiert, die “in der Tradition der revolutionären deutschen Arbeiterbewegung stehend” gegen “kaptialistischen Extremismus und Fundamentalismus” kämpft. (Vgl. Jungle World vom 16.8.98, S.12) In Sachsen-Anhalt hatte die nicht ganz so martialisch auftretende DVU immerhin 53 % ihrer Wählerstimmen aus dem Arbeitermilieu rekrutiert. (Vgl. J. Elsässer, DVU-Braunbuch, S.43)
Mit um so größerer Spannung hat sich infolgedessen der Rezensent die umfangreiche Habilitationsarbeit von Detlef Schmiechen-Ackermann vorgenommen, die kürzlich unter dem Titel Nationalsozialismus und Arbeitermilieus – Der nationalsozialistische Angriff auf die proletarischen Wohnquartiere und die Reaktion in den sozialistischen Vereinen im Dietz-Verlag veröffentlicht wurde.
Das über 800-seitige Opus ist in zwei Abschnitte unterteilt. Im ersten Teil seiner Studie untersucht Schmiechen-Ackermann, die “Mittel und Strategien”, die die Nazis anwandten, um die kommunistisch oder sozialdemokratisch dominierten Stadtteile in Berlin, Hannover und in fünfzehn anderen Großstädten zu erobern. Aus Einzeluntersuchungen schält der Verfasser ein immer wiederkehrendes Muster heraus: Die erste Etappe der nationalsozialistischen “Gelände”-Besetzung war die Etablierung eines SA-Verkehrslokals als vorgeschobener Kampfposten im “roten” Milieu, wobei nicht selten ein Gastwirt seine politische Präferenz veränderte und das ehemals kommunistische Verkehrslokal als nationalsozialistischen Sammelpunkt weiterführte. Mit der Etablierung von “Verkehrslokalen” knüpften die Nazis an proletarische Traditionen an: Die Kneipe war der Ort, an dem bis 1933 sozialdemokratische oder kommunistische Politik “gemacht” wurde. War ein Lokal erst einmal in der Hand der SA, diente es dazu, das umliegende Wohngebiet von hier aus mit “Patrouillengängen” und völkischer Agitation in das zu verwandeln, was in den zeitgenössischen Nazi-Strategiepapieren als “Befreite Zone” bezeichnet wird.
Der zweite und interessantere Teil der Studie beschäftigt sich verdienstvoll mit den diversen Milieuvereinen der deutschen Arbeiterbewegung und deren Reaktionen auf den nationalsozialistischen Machtantritt. Da gab es die 1,3 Millionen Mitglieder zählende Arbeiter-Turn-und-Sport-Bewegung (ATSB) sowie die 150.000 Mitglieder starke kommunistische Rotsport-Arbeitersportbewegung. Wir erfahren etwas vom “Deutschen Arbeiter-Sängerbund” (DAS) (250.000 Mitglieder), der organisierten Schrebergarten-Bewegung (450.000 Mitglieder) sowie dem Touristenverein “Die Naturfreunde” (116.000 Mitglieder).
Zwar wurden 1933 mit den Arbeiterparteien auch zahlreiche Vereine des Arbeitersports ausgeschaltet, die im antifaschistischen Kampf eine exponierte Rolle spielten. Dazu gehörten die kommunistisch orientierten Arbeiterschützen, die seit 1930 rund 20.000 Personen auf – zu Kleinkaliber-Schießständen umfunktionierten – Kegelbahnen im Gebrauch von Schußwaffen unterwiesen. Einem großen Teil der Arbeitermilieu-Vereine hatte die Nazi-Führung keineswegs unterstellt, sich der Mitarbeit im NS-Staat auf Dauer entziehen zu wollen. In der Tat suchten die meisten dieser Vereine, anstatt sich aufzulösen, das Arrangement mit der NSDAP.
So erklärte im März 1933 der Bundesvorstand des ATSB seinen “ehrlichen Willen zur Mitarbeit” im nationalsozialistischen Staat. “Die … Arbeiter-Turn- und Sportbewegung … ist bestrebt, durch Pflege der Leibesübungen an der Gesundung und Erstarkung des Deutschen Volkes mitzuarbeiten.” (S.482) Die Reichsleitung der “Naturfreundebewegung” betonte in einer Denkschrift, daß der Verein immer “eine Sache des schaffenden deutschen Volkes geblieben” sei: “Staatsbejahend wie bisher steht die Naturfreunde-Bewegung auch dem neuen nationalen und sozialen Staat gegenüber und ist nach einer Entschließung ihrer Führer vom 18. März 1933 zu ehrlicher positiver Mitarbeit für Volk, Staat und Nation bereit.” (552) Der “Reichsverband der Kleingärtner” beeilte sich zu betonen, daß die Schrebergärtenbewegung sich schon immer für eine “gesunde Bodenpolitik” und jene “gesunde Bevölkerungspolitik” eingesetzt habe, die nun auch der Grundpfeiler des neuen Staates geworden sei. (606) Konsequent wurde die weitere Zuteilung von Gartenparzellen vom “rassischen Wert” und vom “kulturellen Willen” der interessierten Bewerber abhängig gemacht. (610) Auch die Verbandsspitze der Deutschen Arbeiter-Sänger betonte ihr Interesse, “die gemeinnützige und volkserzieherische Tätigkeit” der Arbeitersängerbewegung “in die deutsche Arbeitsfront ein(zu)reihen”. (531)
“Gesundung” des “schaffenden deutschen Volkes”, Zuteilung nach “rassischem Wert”: Die Freizeitkultur der deutschen Proleten beruhte vielfach auf weltanschaulichen Prämissen, die mit der neuen Ordnung nicht nur harmonierten, sondern deren antisemitisch-sozialdarwinistischer Kern erst durch die nationalsozialistische Ideologie wirklich freigelegt worden ist. “Das Schwache muß weggehämmert werden. Ich will eine athletische Jugend!”, hatte Adolf Hitler erklärt. Die unbekümmerte Losung der Essener Arbeitersportbewegung: “Frisch, frei, stark und treu” ging in dieser Parole des Führers nahtlos auf. Wer wissen will, warum die Symbiose zwischen Nationalsozialismus und Arbeiterbewegung relativ reibungslos gelang, wird in den Stellungnahmen aus dem deutschen sozialistischen Vereinsleben somit wesentliche Hinweise finden.
Schmiechen-Ackermann aber geht es darum gerade nicht. Er will von ideologischen Aspekten nicht einmal ansatzweise etwas wissen, weil ihn die Anziehungskraft des Nationalsozialismus auf die Arbeiterbewegung nicht interessiert.
Stattdessen wird bei ihm ein seichter Aufguß der “Lager”-Theorie präsentiert: Dem “weltanschaulichen Lager” des “ideologisch fundierte(n) sozialistische(n) Arbeitermilieu(s)” wird das “bürgerlich und protestantisch geprägte nationale Wählerlager” (S. 213) gegenübergestellt. Entsprechend werden die Sympathien verteilt: Wenn bei ihm überhaupt von Antisemitismus gesprochen wird, dann wird er im bürgerlichen Milieu “der Honoratioren und Mittelschichten” (S. 202) verortet.
Wo er die Übertritte ehemaliger Funktionsträger von SPD und KPD zur NSDAP erwähnt, führt er als ausschlaggebendes Motiv das materielle Interesse ins Feld, für das er durchaus Verständnis aufzubringen vermag: “Wer sich der SA oder der Nationalsozialistischen Betriebsorganisation (NSBO) anschloß, verband damit meist auch die Hoffnung auf Arbeit und Brot, die sich zumindest für einen Teil der Hitler-Anhänger auch erfüllte.” (370) Zwar muß auch Schmiechen-Ackermann einräumen, daß ab Februar 1933 selbst in den ehemals kommunistisch dominierten Wohnvierteln “die wenigen standhaften Nazi-Gegner gesellschaftlich weitgehend isoliert und von den Nachbarn denunziert und verleumdet leben mußten.” (163) Doch auch hier greift seine Erklärung – Terror von oben – zu kurz.
Es waren nicht hauptsächlich Hunger oder Zwang, sondern die nationalsozialistische Weltanschauung, die 15.000 Berliner Proleten zur SA-Aktivisten machte. Die NSDAP hat nicht “allen Alles versprechen (müssen), um an die Macht zu gelangen” (225), wie Schmiechen-Ackermann meint, sondern verfolgte eine völkisch-sozialistische Utopie und ein revolutionär-antisemitisches Programm, das bei großen Teile des Arbeitermilieus auf Zustimmung stieß. Vorrübergehend kam es zwischen den “Revolutionären Nationalsozialisten” (1930 aus der NSDAP ausgetretenen) und der KPD sogar zu einer institutionalisierten Kooperation. So hatte die antisemitische “Kampfgemeinschaft Revolutionärer Nationalsozialistien” um Otto Strasser den Beschluß gefasst, “mit der KPD systematisch Kontakt zu suchen und ihre Ortsgruppenführer zu jeder Sitzung oder Gruppengründung einzuladen”. Die KPD sagte im Gegenzug die “Durchführung einer Reihe gemeinsamer Veranstaltungen” zu, auf denen bis 1931 “fast immer Otto Straßer für die Kampfgemeinschaft und Münzenberg oder Wittfogel für die kommunistische Partei sprachen.” (Patrick Moreau, Nationalsozialismus von links, 1984)
Warum blendet Schmiechen-Ackermann, in dessen Untersuchung es keine Opfer oder Täter, sondern nur “neutrale” Zeitzeugen gibt, das ideologische Verhältnis zwischen Nationalsozialismus und Arbeiterbewegung vollständig aus?
Sein Anliegen, die “milieugestützten Formen der Verweigerung” zu bilanzieren, ist mit der Suche nach einer genuinen Gegenkraft gegen das Regime und damit nach einem Quell historischer Legitimationsbildung untrennbar verknüpft. Der Widerspruch zwischen den empirischen Teilen seiner Arbeit und dem Resümee, wonach “von einer bemerkenswert hohen … Ablehnung nationalsozialistischer Politik und Ideologie in den historischen Arbeitermilieus gesprochen werden” könne (S.53), ist evident. Sein Postulat, wonach “die quantitativ zwar eher kleinen resistenten Milieukerne” nach 1945 “zu qualitativ wichtigen Keimzellen für die Erneuerung der Arbeiterorganisationen” geworden seien (S.631), beschwört das entlastende Konstrukt von der Kontinuität eines “Anderen Deutschland” als “Teil unserer politischen Identität.” (So die Formulierung von Reinhard Kühnl, Junge Welt, 24.6.96)
Mit derartigen Fiktionen läßt sich die Fluktuation zwischen Rotfront und SA, die die KPD 1932 als ihr “schwerstes Problem” bezeichnete, ebensowenig erklären, wie der 1993 geknüpfte Kontakte zwischen der Dresdener PDS-Vorsitzenden Christine Ostrowski und einem Sprecher der Nazi-Organisation “Nationalen Offensive” (Ostrowski: “Unsere sozialen Forderungen stimmen im Grund überein – bis hin zum Wortlaut.”) oder gar der Umstand, daß in Sachsen-Anhalt die PDS mehr Erststimmen von den DVU-Anhängern erhielt, als alle anderen Parteien.
Weder kann man der Weimarer Linken die Hauptverantwortung für den Aufstieg der NSDAP anlasten, wie es Jürgen Elsässer im “Braunbuch DVU” versucht, noch waren die Arbeiterparteien und die NSDAP als politische Antipoden meilenweit voneinander entfernt, wie Schmiechen-Ackermann erneut suggeriert. Die ideologische Landschaft war zu Beginn der dreißiger Jahre eher wie ein Hufeisen geformt: Sofern die “nationale und soziale Befreiung des deutschen Volkes” auf der Tagesordnung stand, lag zwischen KPD und NSDAP oft nur ein Sprung.
Detlef Schmiechen-Ackermann, Nationalsozialismus und Arbeitermilieus. Der nationalsozialistische Angriff auf die proletarischen Wohnquartiere und die Reaktionen in den sozialistischen Vereinen. J.H.W. Dietz-Verlag, Bonn 1998, 820 Seiten, 128.- Mark.
(aus: Jungle World, 23. September 1998)