Eurobombe statt Force de Frappe?

Euratom und die nukleare Option Deutschlands

Von Matthias Küntzel

Widersprüche, Winter 1995

Die Zukunft der westeuropäischen Militärpolitik wird in den kommenden Monaten und Jahren ein zentrales Thema der Europa-Debatte sein. 1996 wird sich der Europäische Rat mit dieser Frage befassen und zugleich die Weichen stellen für eine Neufassung des 1998 auslaufenden Vertrages über die Westeuropäische Union (WEU). “Europa müsse”, so Verteidigungsminister Volker Rühe über das Ziel, das deutsche Bundesregierung in diesem Kontext verfolgt, “ein gleichrangiger Partner Amerikas mit globaler strategischer Handlungsfähigkeit sein, die von der Beteiligung Amerikas nicht abhängig sei.” (FAZ, 21. 4. 95) Der transatlantische Verbund wird gelockert: Man will die Errichtung eines eigenständig handlungsfähigen bewaffneten Arms der Europäischen Union, welcher, je nach Bedarf, zugleich als die europäische Säule innerhalb der Nato fungiert kann. Man beansprucht zugleich Gleichrangigkeit und strategische Handlungsfähigkeit, die ohne ein Atomwaffenpotential allerdings nicht zu haben ist.

Werden die Staaten der Europäischen Union, wie es der Atomwaffensperrvertrag vorschreibt, die Rühe-Konzeption durchkreuzen, auf Abrüstung setzen und die britischen und französischen Atomwaffen schrittweise in den mit SALT begonnenen Abrüstungsprozess einbeziehen? In diesem Fall bestünde eine Chance, daß Deutschland eine Nicht-Atommacht bleibt. Oder wird die Europäische Union auf Aufrüstung und Modernisierung ihrer Atomwaffen setzen, um mit den Kapazitäten der USA nach und nach gleichzuziehen? In diesem Fall wird sich die Bundesregierung in die europäische Atomwaffenpolitik einmischen und ihren derzeitigen nuklearen Status über eine europäische nukleare Planungsgruppe und einer gemeinsamen Entscheidungsstruktur mit nur vorübergehend akzeptiertem Vetorecht für London und Paris zu verändern suchen. Die Forderungen maßgeblicher Regierungsberater sind eindeutig: Michael Stürmer etwa, Direktor der Ebenhausener Stiftung “Wissenschaft und Politik”, dem bedeutensten außenpolitischen “think tank” der BRD, hält “ohne Preisgabe der verschiedenen nationalen Sonderwege” eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union für ausgeschlossen, wobei er in einem Aufsatz von 1995 bezüglich Deutschland den Nuklearverzicht als den zu überwindenen “Sonderweg” qualifiziert: Es stelle sich heute “nicht nur die Frage des deutschen Nuklearverzichts von 1954 und 1990 im europäischen Kontext auf veränderte Weise, sondern auch die der britischen und französischen Verfügung über nukleare Waffen als Ausdruck des Bestrebens, Herr über das eigene Schicksal zu bleiben.” London und Paris müßten “zur weitgehenden Europäisierung der Funktion ihrer Kernwaffen” bereit sein, schrieben 1994 auch Karl Kaiser und Erwin Häckel, zwei leitende Mitarbeiter der regierungsnahen “Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik”, nur dann sei eine weitere Proliferation in Europa zu vermeiden: “Man muß ... sehen, daß der deutsche Kernwaffenverzicht zwar ohne Vorbehalt ausgesprochen wurde, aber nicht vorbehaltlos gemeint sein kann.” Wie steht es mit dem soeben in New York unbefristet verlängerten Atomwaffensperrvertrag? Läßt dieser eine Europäische Atomstreitmacht unter Einschluß der nichtnuklearen Länder überhaupt zu?

Die Europäische Option

In einem internen von Uwe Nerlich verfassten Papier der “Stiftung Wissenschaft und Politik” wurde schon 1973 der Atomwaffensperrvertrag “in der zwischen den USA und westeuropäischen Regierungen interpretierten Form als Rahmenbedingung künftiger Entwicklungen in der militärisch-nuklearen Zusammenarbeit” bezeichnet: Der Vertrag stelle klar, “was nicht sein darf, und reduziert damit die Ansatzmöglichkeiten politische Opposition gegen Entwicklungen in diesem Bereich auf die Fälle nachweislicher Vertragsverletzung.” In der Tat wurde bei der Aushandlung dieses Vertrages unter maßgeblicher Mitwirkung der BRD dafür gesorgt, daß beispielsweise der Transfer von deutschem Plutonium oder deutscher Waffentechnologie für die Force de Frappe keiner Einschränkung unterliegt. Für Politiker mit eindeutigen Ambitionen wie etwa Franz Josef Strauß war gerade dieser Punkt: “die Entwicklung und Herstellung der Europäischen Atomwaffen … durch wissenschaftliche und finanzielle Beiträge anderer Staaten der Europäischen Union” der wichtigste Hebel zur Etablierung einer Europäischen Atomstreitmacht. Die hohe Aktualität dieses Schlupfloches illustriert ein Bericht der US-amerikanischen Fachzeitschrift “NuclearFuel” von Januar 1995. Darin wird berichtet, daß “in den vergangenen Monaten Plutonium mit waffengrädiger Isotopenzusammensetzung aus Deutschlands ausgelaufenem Brutreaktorenprogramm von dem Bunker in Hanau nach Frankreich transferriert worden ist.”
Darüberhinaus hatte Bonn als Voraussetzung seines Beitritts zum Sperrvertrag erklärt, daß dieser für die deutsche Teilnahme an einem europäischen Atomwaffenprojekt kein Hindernis darstellen dürfe. Diesen Vorbehalt formulierte in der Ratifizierungsdebatte des Deutschen Bundestages auch der Sprecher der SPD: “Der Vertrag hält die Europäische Option offen. Deshalb werden wir dem Vertrag
zustimmen.”
Daß Deutschland mit dem Beharren auf der Europäischen Option den Atomwaffensperrvertrag entwertet, liegt auf der Hand. Wie würde die Weltöffentlichkeit auf die Meldung reagieren, daß etwa Japan den Aufbau einer “Asiatischen Option” gemeinsam mit Korea, China und Taiwan zum Ziel seiner Außenpolitik und den Verzicht auf Atomwaffen nur unter diesem Vorbehalt erklärt? Dennoch hatte der Vorbehalt der Europäischen Option auch Eingang in den Zwei-plus-Vier-Vertrag von 1990 gefunden. Im Sommer 1990 hatte Helmut Kohl gegenüber Gorbartschow im Kaukasus zwar noch einen vorbehaltlosen Verzicht auf ABC-Waffen erklärt, schrieb später die bundeswehrnahe Zeitschrift “Europäische Sicherheit”. “In mehreren Reden ist das von Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher jedoch zu einer ,Bekräftigung’ der bereits früher geleisteten Verzichtserklärungen verschoben worden. Genschers Formel wurde in den Zwei-plus-Vier-Vertrag hineingeschrieben. Die früheren Verzichtserklärungen gelten aber unter dem europäiscehen Vorbehalt.”

Die Rolle von Euratom

Die Gründung der Europäischen Atomgemeinschaft von 1957 war mit dem Projekt der französischen Atomwaffen untrennbar verwoben. Doch auch von Bonn aus wurde Euratom in erster Linie als eine Entwicklungsvoraussetzung für die europäische bzw. deutsche Bombe betrachtet. Dem Protokoll einer Kabinettssitzung zufolge hatte Adenauer 1956 vor dem Bundeskabinett erklärt, “er möchte über Euratom auf schnellstem Weg die Möglichkeit erhalten, selbst nukleare Waffen herzustellen.” Am Ende des Jahres 1957 hatte der französische Verteidigungsminister Chaban-Delmas Westdeutschland und Italien den Vorschlag einer gemeinsamen Atomwaffenproduktion unterbreitet. 1958 hatten die Verteidigungsminister der drei Länder, wie Franz Josef Strauß in seinen Memoiren später enthüllte, “den Entwurf des Abkommens ausführlich besprochen. Im Mittelpunkt stand die gemeinsame Entwicklung und Produktion von Atomsprengkörpern. ... Das Abkommen wurde paraphiert, und jeder Unterzeichner nahm ein Kopie mit.” Dieses Abkommen wurde nach der Machtübernahme von Charles de Gaulle im Herbst 1958 in seinen Hauptbestandteilen zwar für ungültig erklärt. Die damals bereits erkennbaren Charakteristika der nukleare Zusammenarbeit zwischen Bonn und Paris haben jedoch ihre Gültigkeit bis heute nicht verloren. Da gibt es einerseits die Konkurrenz zwischen Bonn und Paris und das französische Bestreben, die Deutschen von der Atombombe fernzuhalten. So wurde in Frankreich mit der finanziellen und technologischen Potenz des östlichen Nachbarn immer mal wieder geliebäugelt, ohne mit ihm jedoch die nationale Verfügungsgewalt jemals teilen zu wollen. Dies hatte auf der deutschen Seite, der gerade an Verfügungsgewalt gelegen war, Frustationen und eine stärkere Anlehnung an die USA zur Folge gehabt. Das französische Mißtrauen scheint bis heute ungebrochen. So wird in der französischen Anlage La Hague das Plutonium aus deutschen Brennelementen entnommen und zumindest partiell, wie zu vermuten ist, dem französischen Atomwaffenprogramm zugeführt. Zugleich wird aber der Rücktransport des deutschen Plutoniums nach Deutschland von spezifischen Non-Proliferationsgarantien abhängig gemacht oder verweigert.
Deutsch-französische Eintracht bestand auf der anderen Seite immer dann, wenn es darum ging, die nuklearen Dinge im Euratom-Bereich einer Kontrolle oder gar Mitsprache durch die USA zu entziehen. “Die Europäer beharren auf dem Standpunkt, daß ein mit der US-Inspektion implizit verbundener untergeordneter Status die Gemeinschaft für die Teilnehmerländer politisch unakzeptabel machen würde. IAEO-Kontrollen seinen genausowenig akzeptabel, solange weder die USA noch Großbritannien bereit sind, sich den gleichen Inspektionen auszusetzen”, kabelte bereits 1956 ein US-Diplomat an seine Regierung. Die Frage der europäischen Kontroll-Autonomie ist seither der hauptsächliche Existenzzweck von Euratom und ein Streitpunkt im transatlantischen Verhältnis geblieben: 1958 hatte Euratom gegen den Wunsch der USA die Etablierung eines eigenständigen Euratom-Kontrollsystems durchgesetzt. 1967 drohten die Verhandlungen über einen Atomwaffensperrvertrag am europäischen Beharren auf Selbstkontrolle zu scheitern. Das damals von den beiden Supermächte durchgesetzte (stark eingeschränkte) Kontrollrecht der Wiener Agentur im Euratom-Raum wird seither Schritt für Schritt wieder zurückgedrängt. Noch 1985 etwa hatte sich der ehemalige stellvertretende Chef der IAEO, David Fischer, darüber beschwert, daß “die Euratom … einen großen Teil ihres Kontroll-Engagements darauf konzentriert, die Rolle der IAEO auf ein Minimum zu beschränken.” Zehn Jahre später ist dieser Streit am Beispiel der Frage der Mitsprache der USA über das in Europa aus US-Brennstoff abgetrennte Plutonium erneut entbrannt. Auf der einen Seite die USA, die auf ihre Mitsprache bestanden, auf der anderen Seite die Europäer unter maßgeblicher Mitwirkung Bonns, die jene Mitsprache unter allen denkbaren Umständen auszuschließen bemüht gewesen sind: Man will im Hinblick auf künftige nukleare Projekte ein Veto-Recht der USA auf keinen Fall akzeptieren. Um welche künftigen Projekte könnte es gehen? Würden London und Paris eine deutsche nukleare Teilhabe, die ihren Interessen widerspricht, überhaupt akzeptieren?

Die Drohung mit dem Alleingang

Wo die neudeutsche Außenpolitik ihre Ziele nicht auf dem Wege der Überzeugung erreichen kann, wird gedroht. So beispielsweise in den “Überlegungen zur europäischen Politik” der CDU/CSU-Bundestagsfraktion (das sogenannte “Schäuble-Papier”) vom Herbst 1994. Darin wurde, um den französischen Widerstand gegen die Osterweiterung der Europäischen Union zu brechen, mit der Wiederholung des deutschen Sonderwegs und der Spaltung der EU offen gedroht: “Ohne eine solche Weiterentwicklung der (west)europäischen Integration könnte Deutschland aufgefordert werden oder aus eigenen Sicherheitszwängen versucht sein, die Stabilisierung des östlichen Europa alleine und in der traditionellen Weise zu bewerkstelligen.”
Daß man die französisch-britischen Bedenken gegen eine stärkere nukleare Rolle der Deutschen ebenfalls mithilfe von Einschüchterung “ausräumen” will, ist offenkundig. Die hierzu benötigten Schlüsselbegriffe wurde schon wenige Wochen nach dem Fall der Mauer, im Dezember 1989, von dem außenpolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, Karl Lamers, artikuliert: “Die französischen und natürlich auch die britischen Nuklearwaffen müssen eine europäische Funktion erhalten” und “die Bundesrepublik Deutschland … ihre Haltung vor allem zur Zukunft des Nuklearen deutlicher machen als bisher”, hatte Lamers vor dem Deutschen Bundestag erklärt. “Wenn auch die Verteidigung in europäischen Händen läge, wäre das für Frankreich zugleich die beste Versicherung gegen la derive allemande.” “La derive allemande” – das deutsche Abirren, die Aufkündigung der Westbindung, die nationale Atomwaffenoption – all dies wird von der herrschenden Politik in Deutschland nicht als ein Hirngespinst zurückgewiesen, sondern, ganz im Gegenteil, als Möglichkeit ins Spiel gebracht. Die europäische Sorge vor deutschen Wiederholungen, vor deutscher Kontinuität, wird kokett aufgegriffen und zur Drohung umgemünzt: Liebe Franzosen, hiergegen solltet ihr euch absichern. Gebt euren Arsenalen also besser eine europäische Funktion. Daß diese Form der Erpressung auch in den offiziellen Papieren der Westeuropäischen Union ihren Niederschlag erfährt, beweist der Bericht des WEU-Verteidigungsausschusses über “Rolle und Zukunft der Atomwaffen” in Europa von Mai 1994. Dieser Bericht konstatiert eine zunehmende Unglaubwürdigkeit der US-Atomwaffengarantie und die damit zusammenhängende Reaktualisierung des deutschen Problems: “In diesem Rahmen muß Deutschland eine glaubwürdige nukleare Abschreckung verschafft werden… , damit es sich nicht gezwungen sieht, seine eigene atomare Abschreckung zu entwickeln”, so das Papier. “Die rein französisch-britische Atomwaffen-Kooperation könnte von Deutschland als eine Kraft wahrgenommen werden, gegen die ein Gegengewicht zu setzen sei.”
Selbstverständlich wäre die Sorge vor jenem “Gegengewicht” und die Drohung mit einer eigenen nuklearen Abschreckung ohne die Existenz des nationalen deutschen Plutoniumlagers in Hanau nur Schall und Rauch. Dieses Lager mit seinen ca. 3000 kg Plutonium (dem größten Inventar des Bombenstoffes, über das ein “Nicht-Atomwaffenstaat” weltweit verfügt) ist aber Drohung genug: Eine Nation mit einem Plutoniumlager ist eine Nation mit einer nuklearen Option.
Die in Karlsruhe und Hanau konzentrierte deutsche Plutoniumindustrie spielt energiepolitisch keine Rolle. Als Trumpfkarte im europäischen Atomwaffenpoker hat sie hingegen eine Funktion. Die Frage des Ausstiegs aus der Plutoniumpolitik ist nicht in erster Linie ein Thema von Energiekonsensgesprächen, sondern eine Frage der Weichenstellung im Bereich der deutschen Außen- und Sicherheitspolitik. Die deutsche Optionspolitik zu torpedieren, wo immer es geht, liegt freilich nicht nur im Interesse der deutschen Opposition. Denn falls Europa und die Welt einen europäischen Atommachtstatus für Deutschland erst einmal akzeptiert haben sollte, wäre es bis zur Realisierung einer nationalen deutschen Atommacht nur noch ein kleiner Schritt.

Literatur:
Matthias Küntzel, Bonn und die Bombe, Deutsche Atomwaffenpolitik von Adenauer und Brandt, Frankfurt/M. 1992
Matthias Küntzel, Bundesrepublik und nuklearen (Non)Proliferation, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, März 1995
Michael Stürmer, Nukleare Waffen. Übermacht und Ohnmacht, in: M. Salewski (Hrsg.), Das Zeitalter der Bombe, München 1995
Erwin Häckel, Karl Kaiser, Kernwaffenbesitz und Kernwaffenabrüstung: Bestehen Gefahren der nuklearen Proliferation in Europa?, in: J. Krause (Hrsg.), Kernwaffenverbreitung und internationaler Systemwandel, Baden-Baden 1994
Uwe Nerlich, Der NV-Vertrag in der Politik der BRD, Ebenhausen 1973
Franz Josef Strauß, An Alliance of Continents, in: International Affairs, April 1965
Mark Hibbs, Siemes To Repackage Germany’s Seperated Plutonium Inventory, in: NuclearFuel, January 16, 1995
Michael Hennes, Der Traum der Vereinigten Staaten von Europa, in: Europäische Sicherheit, 6/93
Franz Josef Strauß, Die Erinnerungen, Berlin 1989
David Fischer, Paul Szasz, Safeguarding The Atom, London 1985

(aus: Widersprüche/Schweiz, Nr. 29/1995)