Der Zwang nach Osten

NATO-Erweiterung und Bundeswehrmission 2000

Von Matthias Küntzel

bahamas, März 1994

Alle durften, sollten, mußten sich freuen, als der antifaschistische Schutzwall geschliffen und Deutschland in den Grenzen des alten Bismarck-Reichs einigermaßen wiederhergestellt war. Im Januar 1993 verbuchte die deutsche Außenpolitik mit den Ergebnissen des Nato-Gipfels ihren seither größten Erfolg. Gefeiert wurde diesmal intern: ”,Seit Montag haben wir eine neue NATO’, so jubilierten die Bonner Vertreter in Brüssel. ,Die Deklaration der 16 Staats- und Regierungschefs ist säkular. Das war der wichtigste Nato-Gipfel sei dem Ende des Kalten Krieges.’ Tatsächlich hatten die 16 Verbündeten fast unbemerkt die sicherheits- und verteidigungspolitische Weichen neu gestellt”, schrieb die SZ. Die wesentlichen Ergebnisse des Gipfels:

1. Nicht mehr die USA, sondern die WEU werden in Zukunft für Militärinterventionen in Europa verantwortlich sein. Infrastruktur und Ressourcen der NATO wird künftig die WEU – nach gemeinsamer Beratung – auch ohne US-Beteiligung nutzen können.
2. Die so umgewandelte NATO offeriert allen osteuropäischen Staaten das Angebot vertiefter militärischer Zusammenarbeit mit der Perspektive einer möglichen späteren Aufnahme in das Bündnis.
3. Beide Beschlüsse gehören zusammen: Da eine NATO-Erweiterung in absehbaren Zukunft vom US-Kongress boykottiert werden würde, werden Europäische Union (EU) und Westeuropäische Union (WEU) als Beitrittsgremien aktiviert: “Das bedeutet, daß zum Beispiel die Aufnahme Polens in die Europäische Union diesem Land nicht nur das Recht gäbe, WEU-Mitglied zu werden. Es würde hierdurch faktisch auch zum Verbündeten Amerikas und Kanadas. Das bedeutet, daß ein Land durch die Aufnahme in die Union de facto die Schutzgarantie der Nato – und damit die Beistandsverpflichung Amerikas – erwerben kann, ohne selbst Natomitglied geworden zu sein, vor allem aber ohne daß Washington dazu gefragt werden müßte, ohne daß es an dem Aufnahmeverfahren selbst beteiligt wäre.” (FAZ, 7.1.94)
Wer die Bedeutung dieser Veränderungen allein auf der Basis hiesiger Kommentarspalten zu erklären sucht, bleibt im Propaganda-Käfig der deutschen Interessenpolitik gefangen. Die internationalen Widersprüche, die Deutschland mit seiner Politik provoziert, erscheinen aus diesem Blickwinkel so verworren, wie der Schreibmaschinentext, der entsteht, wenn ein mit 10-Fingern tippender Schreiber seine Zeigefinger versehentlich auf die falschen Buchstaben legt: Es klappert wie gewöhnlich, ergibt aber keinen Sinn.
Die folgende Darstellung ist deshalb in zwei Abschnitte unterteilt. Zunächst werden die ideologischen Prämissen der deutschen Bündnispolitik und die Bonner Vorarbeit für den Nato-Gipfel referiert. Anschließend wird der us-amerikanische Blick auf die deutsche Entwicklung dargestellt und die grundlegende Differenz im bilateralen Verhältnis, die eine “Europäisierung der NATO” aus deutscher Sicht erst notwendig macht, kommentiert.

Osteuropa: ein “Teil der deutschen Welt”?

Die Diskussion um die Aufnahme der mittelosteuropäischen Staaten in die NATO wurde im März 1993 mit einer Rede Volker Rühes vor dem Londoner “Institut für Strategische Studien” formell losgetreten und später durch das P4P (Partnership for Peace) Konzept der USA mit einigem Aufwand in eine kontrollierbar erscheinende Bahn gezwängt. Ideologisch hatten schon im Herbst 1991 der FAZ-Historiker Arnulf Baring und der Verleger Jobst Siedler in ihrem Buch “Deutschland – Was nun?” den Boden für die Rühe-Rede bereitet:

“Böhmen und Mähren sind ein Teil Europas, der deutschen Welt, hätte ich fast gesagt”, erklärt darin Jobst Siedler und fährt fort: “Wird es nicht eines Tages sozusagen Polnisch und Tschechisch und Ungarisch sprechende Deutsche geben müssen? Wird das nicht aus der Suprematie folgen, um die Deutschland meines Erachtens gar nicht herum kommen wird? ... Natürlich wollen wir die Polen nicht vertreiben, aber ich glaube in der Tat, eines Tages werden sich Pommern und Schlesien und Böhmen-Mähren wieder nach Deutschland orientieren.” (S. 92/105f)

Von Arnulf Baring wurde der großdeutsche Anspruch aufgegriffen und um seine militärischen Implikationen erweitert. Was solle passieren, fragt er rheorisch,

“wenn uns die polnische Regierung eines Tages bäte, deutsche Truppen nach Polen zu entsenden, dort zu stationieren, weil sich Polen von anderswoher bedroht führe. Und dieser Tag wird kommen, irgendwann im nächsten Jahrzehnt … Vermutlich wird die EG – oder genauer die NATO Adressat eines solchen Hilferufes sein. Aber praktisch wird es auf die Entsendung der Deutschen hinauslaufen, vielleicht garniert mit einem Hundert Holländern und ein paar Dutzend Franzosen. ... In erster Linie müssen wir Deutschen uns darum kümmern, daß Polen, Tschechen, Slowaken und Ungarn den Weg in die Gemeinschaft Europas finden. Das gebietet unsere eigene Interessenlage, unsere neue geopolitische Situation.” (S. 166/188)

Das wollen wir nicht aus Machtinteresse und einem antislawischen Affekt – Nein: Das “gebietet” unsere “geopolitische Situation”! Der Mythos von der “geopolitischen Interessenlage” der Deutschen ist seit 1989 bei Regierungs- und Oppositionspolitikern wieder gleichermaßen en vogue: Er besagt, daß die geographische Situation eines Landes maßgeblich dessen Außenpolitik determiniert. Da Geographie aber eine unveränderbare Größe ist, folgt daraus eine für Deutschland weitgehend unveränderbare Politik, die quasi schicksalhaft seiner geographischen Situation eingeschrieben ist. Die geopolitische Prämisse ist gut hundert Jahre alt. Sie dient immer noch dem Zweck, die nationale Wahnvorstellung von einer “deutschen Mittellage” zu transportieren, welche regelmäßig mit paranoiden “Einkreisungsängsten” oder – im Moment vorherrschend – mit der anmaßenden Ideologie von “Deutschland als dem Einiger Europas” einherzugehen pflegt. Mit regierungsamtlichem Pathos angereichet liest sich jener geopolitische Ansatz bei Klaus Kinkel wie folgt:

”,Politik ist Geographie’ – dieser Satz trifft auf Deutschland wie auf kaum ein anderes Land zu. Wir sind aus der Randlage am Eisernen Vorhang wieder in die Mitte gerückt. ... Die Heranführung der mittel- und osteuropäischen Staaten an die Europäische Union, die NATO und die anderen euro-atlantischen Organisationen ist jetzt historische europäische Aufgabe. Deutschland ist ihr Anwalt. Die Völker in den Umbruchländern haben ihre Freiheit erkämpft. Wir haben sie aufgefordert, gedrängt, in unserer Freiheitsgemeinschaft zu kommen. Jetzt dürfen wir sie nicht im Stich lassen.” (“Europ. Sicherheit”, Dezember 1993)

Vor Kinkel hatte Michael Stürmer diesen Gedanken bereits vollkommen unpathetisch mit dem Hinweis, es sei jetzt an der Zeit, “die sowjetische Erbfolge anzutreten”, auf den Punkt gebracht. (FAZ, 24.12.91)

Rühes Vorarbeit für “P4P”

Die empirischen Daten der NATO-Gipfelvorbereitung sind rasch referiert: Im März 1993 hatte Rühe die Debatte mit der Forderung eröffnet, die Visegrad-Länder Polen, Ungarn, Slowakei und Tschechische Republik noch vor einem Beitritt in die Europäische Union in die NATO aufzunehmen. In Paris, London, Brüssel und Washington wurde diese Idee mit Schweigen quittiert. “Die Deutschen üben auf ihre Bündnispartner Druck aus, damit in dieser Frage schnell konkrete Schritte ergriffen werden”, hieß es im September im polnischen Rundfunk. Es sei interessant, “daß Frankreich kein Interesse für dieser Idee zeigt.” (Monitordienst, 6.9.) In der Tat war Rühe mit des Kanzlers Zustimmung zu diesem Zeitpunkt bereits in Budapest, Kopenhagen, Oslo, Washington, Paris, Warschau und Prag vorstellig geworden, um für den deutschen Vorstoß zu werben. Seine Osteuropa-Reisen verband Rühe in der Regel, um Fakten zu schaffen, mit der Unterzeichnung von Abkommen über die Zusammenarbeit zwischen osteuropäischen Streitkräften und der Bundeswehr. (Siehe nebenstehenden Artikel: “Das ist unserer Zukunft!”)
Nato-intern war das deutsche Drängen, wie die FAZ konzidiert “auf Zurückhaltung gestoßen. Die meisten Nato-Mitglieder machen keinen Hehl daraus, daß sie an einer Osterweiterung nicht interessiert sind.” (19.10.) “Mit einer Ausdehnung der NATO nach Osten haben Amerikaner, Kanadier und Briten als die eigentlichen Atlantiker der Allianz am wenigsten im Sinn.”(25.11.) Zentrales Motiv jener Ablehnung war die Sorge, daß die bündnispolitische Einbindung Deutschlands hierbei zu schaden kommt: Man wollte die Allianz, so wie sie ist, erhalten, “als Mechanismus, der die Renationalisierung von Verteidigungspolitik, dies meint eine unabhängige deutsche Außen- und Verteidigungspolitik, verhindert.” (IHT, 8.9.93) Befürchtet wurde zudem eine Stärkung der deutschen Position, auf die sich die osteuropäischen Kandidaten, wie vermutet wird, vorwiegend orientieren würden.
Die Bundesregierung argumentierte demgegenüber offensiv: In dem Rühe-Ausspruch “Wir wollen die Erweiterung. Die alte Nato läßt sich nicht erhalten” (SZ, 6.1.) war die Drohung des de facto-Austritts bereits enthalten. Nicht minder wirksam war die Wink mit dem (erst in Umrissen erkennbaren) Zaunpfahl WEU. So bezeichnete im Oktober 1993 der rumänische Verteidigungsminister Spiroiu ” den Gedanken Außenminister Kinkels als interessant, für die Reformstaaten als Schritt auf dem Weg zur Nato-Mitgliedschaft eine WEU-Assoziierung vorzusehen.” (FAZ, 21.10.)
Zwar wurde im Oktober 1993 nach einem Besuch in Washington, so Theo Sommer, “der Eifer des Verteidigungsministers kräftig gebremst”; zwar soll hier auch der deutsche Nato-Generalsekretär, der den Rühekurs anzutreiben suchte (“Wer drin ist, ist sicher, wer nicht drin ist, ist unsicher”), einen kräftigen Dämpfer erhalten haben – dies alles änderte nichts an der Dynamik, die das deutsche Agieren in Osteuropa bereits ausgelöst hatte. Der Zug war zwar noch nicht “abgefahren”, wie man in Bezug auf eine vergleichbaren Situation im Winter 1989 zu sagen pflegte, er war aber abgeschoben und gewann an Fahrt.
Die USA machten deshalb Ende Oktober, anläßlich der Travemünder Nato-Tagung, gute Miene zum bösen Spiel und präsentierten – gegen britische Bedenken – ihre Kompromißformel “Partnership for Peace”. “Die Öffnung der Nato zu den Ländern Mittel- und Osteuropas soll auf die Zusammenarbeit bei der Friedenssicherung und Krisenbewältigung, bei Rettungsaktionen und im Katastrophenschutz beschränkt werden, zugleich aber als ,Einstieg’in eine spätere Vollmitgliedschaft genutzt werden” können”, schrieb hierzu am 22.10. die FAZ.
Am 10.1.1994 unterzeichneten die Teilnehmer des NATO-Gipfels schließlich die Einladung und das Rahmendokument des P4P-Programms, in dem es heißt, man würde “es begrüßen, wenn eine Nato-Erweiterung demokratische Staaten im Osten von uns erfassen würde, als Teil eines evolutionären Prozesses, unter Berücksichtigung politischer und sicherheitspolitischer Entwicklung in ganz Europa.” Die osteuropäischen Teilnehmer des NATO-Kooperationsrats wurden aufgerufen, “ständige Verbindungsoffiziere zum Nato-Hauptquartier zu entsenden”, um dort “Übungen zur Friedenswahrung ab 1994” vorzubereiten. Als Belohnung für “den Aufbau einer Fähigkeit, mit Nato-Streitkräften zusammenzuwirken”, wurde “jedem aktiven Teilnehmer” der Partnerschaft versprochen, “in Konsultationen ein(zu)treten, wenn dieser Partner eine direkte Bedrohung seiner territorialen Integrität, politischen Unabhängigkeit oder Sicherheit sieht.” (Beilage zu “Informationen für die Truppe”, 2/94)
Rühes Kommentar zu diesem Dokument entspricht der Wahrheit: “Das, was in Brüssel gesagt wurde, ist erst in monatelangen Bemühungen durchgesetzt worden; denn von Anfang an war das nicht so geplant, sondern schon eher als ein Ersatz für die Mitgliedschaft.” (Bundestagsdebatte, 13.1.) Rühe konnte außerordentlich zufrieden sein. Denn die P4P-Formel ist “vorzüglich dehnbar. Sie gestattet, den Grad militärischer Zusammenarbeit mit einzelnen auszuwählenden osteuropäischen Staaten individuell zu bestimmen.” (FAZ, 6.1.) Eben darauf kam es der Bundesregierung an. Der P4P-Beschluß war nicht mehr als eine Kompromißformel, die einem temporären Kräfteverhältnis Ausdruck verlieh. Hinter der Fassade der Einmütigkeit toben die Gegensätze im Hinblick auf “die zentralen Fragen der Beziehungen zu Rußland und des Erhalts der transatlantischen Gemeinschaft” fort. (FAZ, 8.2.) Beide Widerspruchsmomente gehören zusammen: Bonn sieht sich zum Aufbau einer unabhängigen Europa-Armee veranlaßt, weil die deutsche Rußlandpolitik mit der Rußlandpolitik der USA nicht zu vereinbaren ist.

“The capital to watch is Bonn”

warnte anläßlich des Nato-Gipfels die “International Herald Tribune”. Der us-amerikanische Rückzug aus der europäischen Sicherheitspolitik könnte insbesondere die Bundesrepublik zu einer unabhängigeren Militärpolitik veranlassen. “Diese Schlußfolgerung darf die amerikanische Politik nicht ermutigen.” (1.10.94) Welche Befürchtung werden in Washington mit einer emanzipierten deutschen Militärmacht verbunden?
Der Kern der deutsch-amerikanischen Differenz in Bezug auf Europa liegt darin: Washington hat keine prinzipiellen Zweifel daran, daß Rußland, wie jedes anderes Land der Erde, bürgerliche Demokratie auf der Basis des Kapitalismus zu werden in der Lage ist. Für die herrschende Sichtweise der Bundesrepublik ist Rußland demgegenüber eine asiatische Großmacht ohne Zugang zur “europäischen Kultur”. Besonders krass kommt der Rassenimperialismus des zuständigen FAZ-Herausgebers daher. “Völker haben ihre tiefwurzelnden Eigenschaften”, schreibt Reißmüller. Die “historisch bedingte Eigenart des russischen Volkes” sei “geprägt von über zweihundertfünfzigjähriger Herrschaft der Mongolen und Tataren.” Deshalb und wegen der byzantinischen Kirche “werde ein Russe nie so produktiv arbeiten wie ein Westler.” Und er wird wohl auch nie die Friedfertigkeit erlangen, die dem deutschen Volk als “tiefwurzelnde Eigenschaft”, wie wir wissen, zueigen ist: An “gefährlichem Wirklichkeitsverlust” leide, so Reißmüller, wer vom russischen Volk eine Außenpolitik erwarte, “die auf Interessenausgleich und Zusammenwirken gründet und physische Macht, wenn überhaupt, dann mit strenger Selbstbeschränkung einsetzt”. (FAZ, 20.5.92)
Einzeltäter ist Reißmüller nicht. Dies zeigte sich, als Rußland sich an der Mitgliedschaft in der Europäischen Union interessiert gab und damit “eindeutigen Widerstand insbesondere der Deutschen” provozierte, da dies zu einer Dominanz des “auch asiatisch geprägten Landes”, so CDU-Sprecher Pöttering, führen müßte. (FAZ, 1.2.) Dies zeigt sich in der Renaissance von altneuem Russenhaß in der außenpolitischen Propaganda, die dieses Land in Karikaturen wahlweise als blindwütigen Bären oder hungrigen Hai darzustellen und mit Vorliebe von “Moskauer Raumbeherrschungskonzepten” sowie dem “Gefahrenherd Rußland” und dessen “imperialer Tradition”, zu sprechen pfegt. Dies zeigte sich last but not least bei der diesjährigen Münchener Wehrkundetagung, in deren Verlauf sich der neue Verteidigungsminister der USA, William Perry, zu einer prinzipiellen Stellungnahme veranlaßt sah.
“In der Diskussion wurde behauptet”, erklärte Perry in seiner (später von der US-Botschaft verbreiteten) Stellungnahme, “daß Rußland dazu bestimmt ist, eine imperiale Macht zu sein und deshalb unfähig sein wird, die Möglichkeit der demokratischen Nationenbildung zu nutzen. Ich persönlich weise den Standpunkt, wonach die Kultur einer Nation ihr Verhalten und ihr Auftreten in der politischen Arena vorherbestimmt, zurück. Der Standpunkt, daß es irgendetwas in der russischen Kultur gebe, daß dieses Land daran hindert, eine demokratische Nation zu werden, ist falsch.” (Policy Information And Texts (PIAT), 8.2.94)
Dieser Textauszug soll nicht vergessen machen, daß die USA Privateigentum und Marktwirtschaft in Osteuropa forciert haben und deshalb mitverantwortlich sind für die Folgen: Millionenfaches Elend und massenhafte Vernichtung der sachlichen und personalen Ressourcen nicht nur in Rußland. In dieser Hinsicht gibt es einen deutsch-amerikanischen Gegensatz nur im Rahmen der Konkurrenz. Die gravierendere Differenz liegt im Bereich der Ideologie, deren Gesetze vermutlich für die Entfesselung der Weltkriege nicht minder maßgeblich gewesen waren, als die Gesetze der Ökonomie.
Man wolle die “nach Europa zurückgekehrten Staaten” in der Nato verankern, hat beispielsweise Manfred Wörner erklärt und damit den ideologischen Gehalt der Chiffre “Europa” bloßgelegt: Unter nationalsozialistischer Besatzung hatte ihm dieses Stück Erde durchaus noch als “europäisch” gegolten. Dann kam der Warschauer Pakt und es bedurfte dessen Zerschlagung, bevor die Länder “nach Europa” zurückzukehren in der Lage waren. “Europa” meint nach deutschem Verständnis “germanische Welt”, wodurch auch das Diktum über die Stadt Prag nachvollziebar wird, welche, so Volker Rühe, “europäischer sei, als manches, was es in Westeuropa gibt”.

“New Nato” oder “Collapse of the West” ?

Rühes Kampagne, die Nato bis zur russischen Grenze auszuweiten, provozierte in der Außenpolitik der USA einen Richtungsstreit, der in zwei Grundsatzartikeln der renommierten Zeitschrift “Foreign Affairs” im Herbst 1993 ihren Niederschlag fand. Ein konfrontativer Kurs wurde darin unter der Überschrift “The Collapse of ,The West’” von Owen Harris verfochten: Osteuropa, schrieb Harris, sei seit Jahrhunderten eine Einflußsphäre der russischen Politik. Diesen Tatbestand, wie Manfred Wörner es tue, zu ignorieren und ausgerechnet jetzt Osteuropa als Nato-Gebiet einverleiben zu wollen, sei ein Akt von außerordentlicher Torheit (“outstanding folly”). Die aktive Beteiligung der USA an den Europäischen Dingen bleibe auch für die Zukunft notwendig “um ein Auge auf Deutschland zu haben und um sicherzustellen, daß es vor Abschluß dieses Jahrhunderts nicht ein drittes Mal entgleist.” Harris warnte die US-Politik davor, sich hinsichtlich der künfigen deutschen (und russischen) Rolle in Sicherheit zu wiegen. Es sei, wenn die Wachsamkeit nachlasse, höchst zweifelhaft, “ob die USA im Falle einer schlagartigen Krisenentwicklung die Deutschland oder Rußland noch genug politische Zustimmung mobilisieren kann, um (mehr noch im Hinblick auf mögliche Kriegsopfer als im Hinblick auf die Finanzierung) zu einer wirklich entschlossenen Intervention in der Lage zu sein (S. 51). Bei Harries wurde die Warnung vor der Möglichkeit eines Dritten Weltkriegs mit einer pessimistischen Perspektive in Bezug auf den westlichen Zusammenhalt verknüpft: Was sich in die neue Ära verlängern werde, sei eher “der begrenzte “Westen” von 1917 und 1941 – also die USA, Großbritannien und Frankreich – als der erweiterte Westen von 1957 oder 1977.”
Die Gegenposition (“Building a New Nato”) wurde von den RAND-Analytikern Asmus, Kugler und Larrabee formuliert. Auch sie hält eine “Reaktivierung von alten Verwerfungslinien und historischen Rivalitäten” – etwa zwischen Rußland und Deutschland für wahrscheinlich. Für das deutsche Bemühen um die Nato-Erweiterung wird jedoch Verständnis gezeigt. Diese habe “wenig mit einem mythischen ,Drang nach Osten” zu tun, sondern resultiere stattdessen aus einem ,Zwang nach Osten’, um Demokratie und Stabilität für Deutschland selbst zu gewahren”, behaupten die Autoren. Um aber nicht durch eine WEU/NATO-Konkurrenz die Allianz zu zerstören, solle sich die Allianz freiwillig nach Osten hin öffnen: “Eine Situation, in der ein Land wie Deutschland Polens Sicherheit mittels der Westeuropäische Union zu sichern verspricht, nicht aber mittels der NATO, könnte die Atlantische Allianz zerstören. Es ist deshalb eindeutig besser, wenn jene Sicherheitsgarantie innerhalb einer neuen Nato ausgesprochen wird, wo sie glaubwürdig ist und wo die USA sie beeinflussen kann.” (S. 35)
Mit ihrem P4P-Vorschlag hatte die US-Administration einen mittlere Linie eingeschlagen, durch welche die Frage der NATO-Öffnung verschoben wurde, ohne daß die damit verbundenen Widersprüche aus dem Weg geräumt wären.
So wird auf P4P-Ebene der Streit zwischen deutscher und westlicher Ideologie inzwischen wie folgt buchstabiert: “Partnerschaft für den Frieden” bedeute, so Kinkel, “ein Angebot, das rechtlich für sämtliche neuen Demokratien des Ostens, aber faktisch nicht für Rußland und die Ukraine gilt.” (FAZ, 22.12.) “Angesichts der internationalen Bedeutung Rußlands”, heißt des demgegenüber in der gemeinsamen Clinton/Jelzin-Erklärung vom 14.1., “begrüßte Präsident Clinton die Aussicht auf eine aktive Beteiligung Rußlands an der Partnerschaft für den Frieden.” (Monitor-Dienst, 15.1.) “Ziel sei ein integriertes Europa, das auch Rußland einschließe, betonte auf Perry.” (Monitor-Dienst, 8.2.)
Während hier – seit Schirinowsky mit neuem Elan – die europäische Szene in eine gute deutsche und eine böse russische Politik aufgeteilt zu sein scheint, präferiert man somit in den USA die Äquidistanz: Hier die neue Kontinentalmacht mit durchaus ungewisser Zukunft, dort das nukleare Riesenreich und dazwischen Osteuropa “sandwiched between a resurgent Germany and an unstable Russia.” (PIAT, 29.10.93)

Amerikanisch-russische Manöver auf deutschem Boden

Daß die USA im Nato-Rahmen Manöver durchführen, deren Szenarien ein russischer Aggressor zugrundliegt, ist bekannt. Die Durchführung von Manövern mit antideutschem Akzent hingegen ist etwas Neues. Im Herbst letzten Jahres schrillten im Bundeskanzleramt alle Alarmsirenen, als bekannt wurde, daß “Truppen der Vereinigten Staaten und Rußlands eine umfangreiche gemeinsame Übung auf deutschem Boden geplant haben sollten” (FAZ, 6.11.93) – über die antideutsche, das “Potsdam-Syndrom” aufwühlende Konnotation eines solchen Vorschlags konnte überhaupt kein Zweifel bestehen. Umgehend wurden Konsultationen mit Washington in die Wege geleitet. Zwar erklärten die USA, jene Manöver hierzulande nicht gegen den Willen der Bundesregierung durchführen zu wollen – der Zusammenhang zwischen dem Manöverplan und Deutschland sollte aber offenkundig gewahrt bleiben: Und so richtete man an Bonn die Frage, “ob die in Würzburg stationierte 3. amerikanische Infanteriedivision Stabsgespräche mit einer russischen Infanteriedivision , die in Zentralrußland liegt, auf deutschem Boden ,zur Vorbereitung einer Übung’ führen dürfe” was Bonn widerwillig gestattete. Im Februar dieses Jahres gab US-Verteidigungsminister Perry schließlich bekannt, das ein erstes russisch-amerikanisches “Manöver für Friedesaktionen” unter Beteiligung der in der BRD stationierten US-Truppen im Juli 1994 im russischen Wolgagebiet, jener vom deutschen Innenministerum als “deutsche Enklave” geförderten Region, stattfinden solle.
Die Beschwerde des CDU-Politikers Wimmer, daß die USA “Rußland immer noch unter dem Blickpunkt der Bipolarität, diesmal der Partnerschaft, bewerten” (HB, 10.1.) hatte noch einigermaßen harmlos geklungen. Als “törichtes, eventuell noch folgenschwere Zugeständnis” galt der FAZ aber bereits der Umstand, daß Clinton “den Russen implizit Sonderrechte als Ordnungsmacht in ihren Vor- und Hinterhöfen konzidiert” hatte, wie die FAZ am 28.1. schrieb. Den Warnungen des Bundeskanzlers “vor einer Achse USA-Rußland” wird jedoch ebensowenig, ein Erfolg beschieden sein, wie seinen Versuche, “der bisher ,rußlandzentrischen’ Politik der Vereinigten Staaten eine Wendung zu geben”.
Um so wichtiger erscheint aus deutscher Sicht die Etablierung der von den USA unabhängigen Euro-Streitmacht WEU.

“Nato zerschlagen – Amis verjagen!”

Anfang Oktober 1993 hatte Rühe erstmals auch öffentlichh “eigene Streitkräfte für den Fall, daß Washington in einen europäischen Konflikt nicht eingreifen wolle” gefordert. Die Nato müsse deshalb, so Rühe, “von den europäischen Mitgliedstaaten auch ohne Beteiligung der Amerikaner genutzt werden” (FAZ, 8.10.), d.h. auf den Status einer Service-Organisation für anderer degradiert werden können. Als transatlantischen Verbund hatte Rühe die Nato damit grundlegend in Frage gestellt. Immerhin hatte man auch in der bundeswehrnahen Zeitschrift “Europäische Sicherheit” ausdrücklich offen gelassen, “ob die WEU der ,europäische Pfeiler’ der Nato werden oder de facto zum Konkurrenten des atlantischen Bündnisses avanvieren wird.” (ES 1/94) Daß die USA mit dieser Ambition schließlich “ihren Frieden gemacht hatten”, wie es bei Rühe später hieß, war die Überraschung der Saison. Clinton habe den WEU-Vorstoß zwar unterstützt, schrieb die IHT, allerdings nur, “um die Europäer davon abzuhalten, eine seperate multinationale Streitmacht außerhalb der Nato-Struktur zu errichten.” (7.1.)
Bei einer künftigen Krisensituation sollen WEU und NATO in Konsultationen darüber befinden, welche der beiden Organisationen tätig wird. Bei einer Nato-Mission habe, wie bisher, der Nato-Oberbefehlshaber (SACEUR) die Kommandogewalt. Im Falle einer WEU-Mission würde diese einem Europäer übertragen – mit dem Recht, auf die kollektiven Mittel der Allianz zurückzugreifen. SACEUR wäre dann lediglich für deren Bereitstellung verantwortlich. Über die “kitzlige Frage” (FAZ), wie die neu zu gruppierenden gemeinsamen Eingreifverbände, die für Nicht-Nato-Staaten offen sein sollen, “von der Nato ,separiert’ und beispielsweise der WEU unterstellt werden könnten” (FAZ, 29.1) scheint das letzte Wort noch nicht gesprochen zu sein. Im Juni 1994 soll ein Bericht über das neue WEU-Konzept vorgelegt werden. Ab dem 1. Juli 1994 übernimmt Bonn für ein halbes Jahr die Präsidentschaft der Europäischen Union. Nach Ablauf dieser Zeitspanne will Kohl hinsichtlich der Anbindung der ostmitteleuropäischen Staaten Fakten geschaffen haben. So sollen diese Länder an sämtlichen Zusammenkünften der EPZ (Europäische Politische Zusammenarbeit; das Außenpolitik-Gremium der Europ. Union) “mit vollem Rederecht, wenn auch vielleicht noch nicht mit Stimmrecht” teilnehmen und sich der WEU weiter annähern dürfen. “Kernfrage” allerdings sei, “wie der künftige Assoziierungs-Gehalt der Staaten Mittelosteuropas” im Verhältnis zur WEU gestaltet werden solle.”(FAZ, 30.1.) Vieles ist hier noch im Busche. Aus Bonner Perspektive war der NATO-Gipfel insofern trotz der hier erzielten “säkularen” Einschnitte nur “ein Zwischenschritt bei der Reform des Bündnisses und seiner Anpassung an ein veründertes sicherheitspolitisches Umfeld.” (Klaus Kinkel, lt. FAZ, 8.1.94)
“In Bonn wird damit gerechnet, daß sich Krisen in Osteuropa ausbreiten können”, schrieb am Januar 1994 die FAZ. Die diesbezüglichen deutschen Perspektiven wurden unzweideutig von Volker Rühe umrissen.
“In Zukunft müssen wir in der Lage sein, mit den nötigen militärischen Mitteln zu intervenieren, um wieder einen Zustand des Friedens und der Sicherheit herbeizuführen. ... Unsere Sicherheitspolitik muß daher über ihre engere Schutzfunktion hinaus künftig mehr Gewicht darauf legen, das regionale und globale politische System aktiv zu gestalten. ... Wir müssen dazu beitragen, daß Europa militärisch handlungsfähig wird.”
Und wenn die Europäische Union erst einmal das Baltikum oder die Ukraine in einer Verteidigungschlacht vor russischen Versuchungen schützt – spätestens dann, so lautet vielleicht das Kalkül, werden auch die heute noch bestehenden Differenzen zwischen Paris, London und Berlin in einem einzigen Blutacker untergepfügt worden sein. Ist es angesichts der hier beschriebenen Dynamik alarmistisch, zu behaupten, daß mit einer Wahrscheinlichkeit von 50% Deutschland noch vor Ablauf dieses Jahrhunderts gegen Rußland erneut im Felde stehen wird?

Warum Deutschland nicht in den UN-Sicherheitsrat darf

Die deutsche WEU-Politik hatte ebenso wie der Vorstoß zur Nato-Öffnung den offenen Beifall der SPD gefunden. Im Bundestag wurde von Vera Wollenberger für das Bündnis 90/Die Grünen eine schnellere Gangart für die Nato-Erweiterung eingeklagt, während die Sozialdemokratin Brigitte Schulte an Kinkel und Rühe das Versäumnis kritisierte, in der Bundestagsdebatte nicht erwähnt zu haben, “daß sich im nördlichsten Teil Ostpreußens viel zu viele Soldaten mit schwerem Gerät konzentrieren.”
Das russenfeindliche Denkmuster der BRD-Publistik eint erneut die Nation. Von Angelika Beer bis zu Andreas Zumach hat auch die sich links(-liberal) verstehende Riege der Friedensforscher, -publizisten und -politiker versagt: Über die deutsche Politik, wie ich sie hier ansatzweise nachgezeichnet habe, wurde weit und breit nicht eine Silbe verloren. Getreu der Devise “Im Westen nichts Neues” wurde äußerstenfalls die Nato-Option auf weltweite Militäreinsätze oder “die von Clinton erfundene Formel” als “Partnerschaft für den Unfrieden” (A. Beer) denunziert.
Die Unfähigkeit der Kritik wurzelt in einer Entscheidung, die schon 1989 jeden Oppositionsansatz paralysiert hatte: Die Entscheidung zum Kotau vor den ostdeutschen bzw. -europäischen Massen.
“Wir können uns den Osteuropäern in ihrem Streben nach Integration nicht verweigern”, schreiben Volker Böge und Albert Statz. Diese Haltung sei schließlich verständlich. “Was liegt angesichts der vielfältigen Gefahren und Konflikte … näher, als die Politikmuster des Westens auf den Osten zu übertragen?” (Aus: Friedensforum 2/94) Zwar haben sich Böge und Statz die Unterstellung, daß gegen die russische Bedrohung nur noch die Nato helfe, nicht zueigen gemacht. Ihre Erklärung, wonach eben diese Nato-Logik “aus historisch verständlichen Gründen von den osteuropäischen Staaten geteilt” werde, macht freilich jede Aufklärung zunichte. Nicht nur, weil der Gedanke tabuisiert wird, daß zwischen “vielfältigen Gefahren” und dem “westlichen” und/oder deutschen “Politikmuster” ein Zusammenhang besteht. Sondern auch, weil das Verständis” für die Bedrohungsphantasie vereitelt, was notwendig ist: Sie als Kriegsvorwand und Interventionspropaganda zu denunzieren.
Wie stark die öffentliche Meinung von der Russentirade durchtränkt ist, zeigte sich last but not least auch daran, daß in den letzten Monaten alle Moskauer Vorschläge nicht den Hauch einer Chance hatten, in der BRD auch nur zur Debatte gestellt zu werden. Der Vorschlag der russischen Regierung von September 1993, die NATO als Sicherheitsinstrument der KSZE zu unterstellen wurde ebenso ignoriert, wie der Jelzin-Vorschlag von Oktober, die Sicherheit der Region durch die NATO und russische Republik gemeinsam zu garantieren und die russische Rolle im Nato-Kooperationsrat auszubauen.
Dabei bedarf es keiner besonderen Leseleistung, um zu erkennen, daß Deutschland seit einigen Monaten eine Osteuropa-Politik betreibt, die gerade das zu machen im Begriff ist, was die deutsche Propagandamaschine Rußland unterstellt. Fatalerweise bricht niemand in diesem Land in Gelächter aus, wenn Helmut Kohl inbrünstig deklamiert, daß Jelzins Absage an imperialistische Außenpolitik mit “einer Politik, die auf die Schaffung von Interessenssphären ziele, nicht vereinbar” sei. Und als ebenso seriös wie liberal gilt immer noch ein Außenminister, der zunächst verlangt: ”,Die restlichen russischen Gruppen müssen bis Ende August 1994 Lettland und Estland verlassen.’ Im Baltikum könne sich am ehesten erweisen, daß Weltoffenheit und partnerschaftliche Zusammenarbeit einem Denken in Einflußgebieten und hegemonialen Vorrechten überlegen sei” ,um schon im Folgesatz dem “Denken in Einflußgebieten” eine Bresche zu schlagen: “Deshalb befürworte ich die konsequente Anbindung der baltischen Staaten an die Europäische Union.”(FAZ, 12.2.)
Die Wirklichkeit überbietet die Parodie nur deshalb, weil das Ausmaß neudeutscher Arroganz der Beschreibung spottet. Wenn Leute wie Karsten Voigt und Helmut Kohl sich in der Pose weiden, wonach Moskau in den osteuropäischen Belangen “ein Vetorecht nicht zustanden werden darf” dann signalisiert dies nichts weniger als die Bereitschaft, die NATO-Erweiterung auch gegen ein “Veto” Moskaus, d.h. auch bei entschiedenster Gegnerschaft der russischen Republik durchsetzen zu wollen. Derartige Sprüche an die Adresse der zweitgrößten Atommacht lassen ahnen, wie man mit weniger mächtigen Ländern umzuspringen gedenkt, die deutscher Machtentfaltung im Wege stehen.
“Moskau darf ein Vetorecht nicht zugestanden werden” – solch Satz wäre vor Wiederherstellung der deutschen Einheit nicht denkbar gewesen, weil deutsche Außenpolitik dem sowjetischen Veto unterstand. Daß diese Aussage heute nicht nur ausgesprochen, sondern auch volksgemeinschaftlich getragen wird, macht klar, warum dieses Land in einem Gremium wie dem UN-Sicherheitsrat keinen Zutritt haben darf.

Kasten:

“Das ist unserer Zukunft” –
entfuhr es einem General, als er von Rühes Nato-Osterweiterung erfuhr. Der Mann könnte recht behalten. Nachdem sich die Bundesregierung 1992 darauf konzentriert hatte, Lehrgänge für die Ausbildung junger Diplomaten aus den Staaten Mittel- und Osteuropas zu veranstalten, um “ein Gefühl der Zusammengehörigkeit zu stiften, das den Teilnehmern bei späteren Verhandlungen zugute kommen soll” (FAZ, 21.9.92) trat 1993 verstärkt auch die Hardthöhe in Aktion. 1993 soll es zu insgesamt 22 Begegnungen mit Vertretern der Militärakademien aus Polen, Tschechien, Ungarn, Rußland, Rumänien und Bulgarien gekommen sein. Im folgenden ein – unvollständiger – Überblick:

Polen
Für 1994 sind 77 deutsch-polnische militärische Kooperationsvorhaben vereinbart worden. 30 polnische Offiziere nehmen derzeit an Lehrgängen in der Bundesrepublik teil. Deutschland habe, so Rühe, zu keinem anderen Land Osteuropas engere Militärbeziehungen. Es sollen zuküftig zwischen Truppenteilen der Bundeswehr und der polnischen Streitkräfte Patenschaften gebildet werden. Die Bundesmarine wollte ursprünglich im September dieses Jahres zu gemeinsamen Übungen auf der Ostsee mit polnischen Streitkräften auslaufen. Inzwischen wurden französisch-deutsch-polnische Manöver von Land- und Seestreitkräften noch für dieses Jahr ebenso beschlossen, wie die trilaterale “Planung und Durchführung einer Stabsübung sowie eine gemeinsame Übung auf Kompanieebene.”(FAZ, 5.3.94) Zusätzlich werden deutsch-polnisch-dänische Manöver für den Herbst 1994 in Jütland geplant. Das Beispiel Polen macht deutlich, daß die mit der NATO-Erweiterung verbundenen Vorstellungen in Warschau und in Bonn keineswegs identisch zu sein brauchen. Als die Hardthöhe 1993 großspurige verkündete, Einheiten der Bundeswehr würden demnächst zu Manövern auf Truppenübungsplätzen in Polen ausrücken (Sp 36/93), folgte der diplomatische Rüffel auf den Fuß. “Ich denke, die Bundeswehr besitzt genügend eigene Truppenübungsplätze”, erklärte hierzu der damalige polnische Verteidigungsminister Januasz Onyszkiewicz. Man sei, so Onyszkiewicz, auch gegen die Gründung einer deutsch-polnischen Brigade “weil man sich gleich die Frage stellen muß, wer diese Brigade führen, unter wessen direktem Befehl sie stehen soll.” Warschau, wie auch Prag, spekulieren mit ihren Anträgen auf NATO-Erweiterung auf die Präsenz der USA, um ihre potentiellen Widersacher im Osten wie im Westen unter Kontrolle zu halten.

Ungarn
Im April 1993 unterzeichnete Rühe in Budapest eine “Rahmenvereinbarung über die Verstärkung der deutsch-ungarischen Zusammenarbeit im militärischen Bereich.” Darüberhinaus wurden Waffenlieferungen an Ungarn vereinbart.

Tschechische Republik
Im Oktober 1993 verhandelte Rühe in Prag über “die Vertiefung und Erweiterung der gegenseitigen Kontakte zwischen den beiden Armeen”. Zwischen der Bundeswehr und den tschechischen Streitkräften sollen Patenschaften eingerichtet werden. Darauf, daß die USA ins europäische Geschehen einbezogen bleibt, “legt man in Prag angesichts der Nachbarschaft zu Deutschland Wert”, schreibt die FAZ. “Die WEU hat aus tschechischer Sicht dagegen den entscheidenden Makel, Amerika,frei’ zu sein.” (7.1.)

Slowakei
Im Dezember 1993 verhandelte Rühe mit dem slowakischen Außenminister Moraveik über einen Vertrag zwischen der Bundeswehr und der Slowakischen Republik. Im Februar 1994 wurde das Abkommen über die militärische Zusammenarbeit unterschrieben.

Bulgarien
Im September 1993 vereinbarte Rühe mit seinem bulgarischen Amtskollegen Alexandrow eine engere Zusammenarbeit auf militärpolitischem Gebiet. Ein entsprechendes Abkommen soll 1994 unterzeichnet werden. Insbesondere bei der Ausbildung von Offizieren will die Bundeswehr mit der bulgarischen Armee zusammenarbeiten. Schon jetzt befindet sich ein bulgarischer Offizier an der Bundeswehr-Führungsakademie in Hamburg.

Rumänien
Im Oktober 1993 unterzeichneten Rühe und sein rumänischer Amtskollege Spiroiu eine Vereinbarung über die Hilfe der Bundeswehr bei der Ausbildung rumänischer Soldaten. Danach sollen rumänische Offiziere in Deutschland ausgebildet werden. Gemeinsame UN-Einsätze wurden ins Auge gefasst. “Rühe sagte, das Abkommen stehe im Zusammenhang mit der Öffnung der Nato nach Osten.” Spiroiu sprach von einer “Historische Vereinbarung”.

(aus: bahamas 13, 3/1994)