Das antisemitische Traktat als Bestseller

Zum Streit über Sieferles „Finis Germania“

Von Matthias Küntzel

Phébé (Le Point) Nr. 29, Paris, 14 Janvier 2018

Groß war die Aufregung im deutschen Feuilleton, als im Juni 2017 ein rechtsradikales Buch auf die Liste der besten Sachbücher gelangte. Diese Liste wird monatlich von namhaften Medien aufgrund der Empfehlungen einer unabhängigen Jury veröffentlicht. Die Aufregung wuchs, als bekannt wurde, dass ausgerechnet das Jurymitglied des „Spiegel“, Johannes Saltzwedel, die Platzierung des Buches „Finis Germania“ im Alleingang durchgesetzt hatte. Er habe damit, so Saltzwedel, „bewusst ein sehr provokantes Buch … zur Diskussion bringen wollen.“

Dies ist ihm zweifellos gelungen, hätte sich doch andernfalls kaum jemand für die Glossen und Polemiken, die der 2016 verstorbene deutsche Historiker und Kulturphilosoph Rolf Peter Sieferle auf knapp hundert Seiten kompilierte, interessiert.

In den harmloseren Teilen seines Traktats macht sich Seiferle den dünkelhaften Standpunkt der „Konservativen Revolution“ zu eigen, der den „Massenmenschen“ verachtet, von „großen Individuen“ hingegen schwärmt und der gegen den „atomistisch-individualistischen Universalismus“ die „Gemeinwohlorientierung“ setzt.

Der weniger harmlose Teil schreibt im Jargon des Antisemitismus die Geschichte um: Seiferle bezeichnet Adolf Hitler als „großes Individuum“ und als „letzten Heros“. Die Nazis hätten zwar den Fehler gemacht, „sich mit unvorstellbaren Greueltaten zu beflecken“, das eigentliche „Menschheitsverbrechen“ hätten jedoch die Juden mit der Kreuzigung Christi begangen.

Während man den Juden den Jesus-Mord verziehen habe – „sie nisteten sich ein in den Nischen dieser Gesellschaft, als Wucherer und Händler“ – sei das „Volk der Nazis zum negativ auserwählten Volk geworden“, das auf ewig „von der Bildfläche der realen Geschichte verschwinden“ müsse. An die Stelle des „ewigen Juden“ sei der „ewige Nazi“ getreten, der „Antigermanismus“ habe den „Antisemitismus“ ersetzt.

Nicht zufällig knüpft Seiferle mit dem Titel „Finis Germania“ („Ende Deutschland“) an einen Klassiker des Antisemitismus – Wilhelm Marrs „Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum“ von 1879 – an, der mit dem Ausruf „Finis Germaniae! Vae victis!“ (Deutschlands Ende! Wehe den Besiegten!) endet.

Es war also tatsächlich ein Skandal, dass dieses Buch im Juni 2017 auf die deutsche Sachbuch-Bestenliste geriet – ein Vorgang, von dem sich die Urheber dieser Bestenliste wie auch die übrigen Mitglieder der Jury, die kurz danach aufgelöst wurde, distanzierten.

Doch was geschah nun? Obwohl das literarische Establishment den Sieferle-Text fast einhellig als rechtsextremistisch verurteilte, zückten die Leser massenhaft ihre Portemonnaies: Das Buch erklomm im Juli 2017 Platz 6 der „Spiegel“-Bestsellerliste. Den Verlagsangaben zufolge wurden zeitweilig 250 Exemplare pro Stunde verkauft, die „political correctness“ der Literaturkritiker also mit Freude am Tabubruch unterlaufen. Damit aber begann der zweite Teil der Auseinandersetzung um Sieferles Buch.

Nun nämlich entschied die „Spiegel“-Redaktion, das Buch unabhängig von den Verkaufszahlen von seiner Bestseller- Liste zu nehmen, um dessen Verkauf nicht weiter zu befördern. Damit aber provozierte das Magazin, das mit dem Slogan „Keine Angst vor der Wahrheit“ für sich wirbt, Empörung und Spott. Man warf ihm vor, eine Liste manipuliert zu haben, „die als eine Art Goldstandard des deutschen Buchhandels gilt“ (H.M. Broder), um die unangenehme Wahrheit über den massenhaften Verkauf eines als rechtsradikal eingestuften Buches zu vertuschen.

Die Zensur des „Spiegel“ zeugt von der Verunsicherung der deutschen medialen Elite angesichts einer neuen politischen Realität, wie sie mit dem Erfolg der nationalistischen „Alternative für Deutschland“ zum Ausdruck kommt.

Die AfD, die im September dieses Jahres mit 12,6 Prozent zur drittstärksten Kraft im Bundestag wurde, hat sich das zentrale Thema Sieferles – den Diskurs über das Dritte Reich und dessen Revision – auf ihre Fahnen geschrieben. „Wir haben das Recht, stolz zu sein auf die Leistungen deutscher Soldaten in zwei Weltkriegen“ erklärte im September 2017 AfD-Führer Alexander Gauland. Zuvor hatte dessen Parteifreund Björn Höcke „eine erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“ gefordert.

Derartige Äußerungen sind symptomatisch. Sie zeigen, dass der gesellschaftliche Konsens, demzufolge die Erinnerung an die Naziverbrechen wachzuhalten und bestimmte Schlussfolgerungen aus dieser Geschichte zu ziehen seien, erodiert.

Von dieser Erosion werden nicht nur Angehörige des intellektuellen Milieus, wie Sieferle und Saltzwedel erfasst; sie beeinflusst auch die jüngere Generationen. So wollen 67 Prozent der Deutschen unter 40 Jahren laut einer Umfrage der Bertelsmann-Stiftung „endlich einen Schlussstrich unter die Vergangenheit ziehen.“

Es war sicher verkehrt, diesen Trend mit einer zweifelhaften Sachbuch-Empfehlung zu verstärken. Es war aber nicht nur falsch, sondern auch töricht, Siefeles Buch aus der „Spiegel“-Bestsellerliste zu streichen.

Man schafft eine bedauerliche gesellschaftliche Realität nicht aus der Welt, indem man sie retuschiert; man muss sich ihr stellen. Die große gesellschaftliche Debatte über die Frage, warum der Schlussstrich-Gedanke eine schlechte Idee ist und warum Positionen, wie die von Sieferle indiskutabel sind, steht noch aus.

Rolf Peter Sieferle, Finis Germania, Schnellroda (Verlag Antaios) 2017

Weitere Literatur:

Thomas Assheuer, „Finis Germania“ – Hauptsache, Kampf, in: Die ZEIT, 21. Juni 2017

Stephan Grigat (Hg.), AfD & FPÖ: Antisemitismus, völkischer Nationalismus und Geschlechterbilder, Baden-Baden (Nomos-Verlag) 2017.

Volker Weiß, Die autoritäre Revolte. Die NEUE RECHTE und der Untergang des Abendlandes, Stuttgart (Klett-Cotta) 2017.

Bertelsmann-Stiftung, Deutschland und Israel heute, Verbindende Vergangenheit, trennende Gegenwart?, Güterloh 2015.

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