Der Antisemitismus ist keine Beigabe zum Islamismus, sondern dessen Kern

Was treibt die Islamisten in Jerusalem und Moskau, Bali und New York zum suizidalen Massenmord?

Von Matthias Küntzel

Jungle World, November 2002

Die gängige These vom „Verzweiflungstäter“ ist offenkundig falsch. Erstens ziehen nirgends sonst Menschen aus ihrer hoffnungslosen Lage die Konsquenz, sich in vollbesetzten Bussen oder Restaurants in die Luft zu sprengen. Zweitens sind die testamentarischen Videobotschaften der Attentäter nicht von Verzweiflung, sondern von Stolz und Begeisterung gezeichnet. Drittens haben Islamisten friedliche Lösungen im Nahostkonflikt nicht befördert, sondern gezielt in immer neuen Blutbädern ertränkt.

Aufschlussreicher ist der Blick zurück: Nur im Kontext seiner 70-jährigen Geschichte lässt der gegenwärtige Islamismus sich deuten. Als sich jüngst ein Sprecher der Hamas über die strategische Schwäche „der Juden“ mokierte, „mehr als andere das Leben zu lieben und es vorzuziehen, nicht zu sterben“, knüpfte er unmittelbar an Hassan al-Banna, dem Gründer der „Gesellschaft der Muslimbrüder“ an. „Nur derjenigen Nation“, dozierte al-Banna im Jahre 1938, „welche die Industrie des Todes perfektioniert und die weiß, wie man edel stirbt, gibt Gott ein stolzes Leben auf dieser Welt und ewige Gunst in dem Leben, das noch kommt.“ Schon damals stieß dieser Todeskult bei den „Truppen Gottes“, wie die Muslimbrüder sich nannten, auf begeisterte Resonanz. Wann immer ihre Bataillone in semi-faschistischer Formation durch die Straßen Kairos marschierten, erklang ihr Lied: „Wir haben keine Angst vor dem Tod, sondern wir ersehnen ihn … Lasst uns für die Erlösung der Muslime sterben.“

Die Muslimbrüder waren es, die 1928 den Islamismus als erste islamische Massenbewegung begründeten. Sie waren es, die im Kontext der Weltwirtschaftskrise die Idee des kriegerischen Djihad und die Todessehnsucht als Leitideal des Märtyrers für die Neuzeit entdeckten. Seither bedeutet Islamismus: islamischer Fundamentalismus plus Djihad als permanenter heiliger Krieg. Für den gegenwärtigen Islamismus sind die Muslimbrüder das, was die Bolschewiki für die Kommunisten des 20. Jahrhunderts waren: der ideologische und organisatorische Bezugspunkt, der die nachfolgenden Tendenzen inspirierte und bis heute inspiriert.
Zwar hatte sich die Bruderschaft als regressive Bewegung gegen britische Herrschaft und „kulturelle Moderne“ konstituiert: Sie propagierte die Beseitigung des Parlamentarismus zugunsten einer „organischen“ Staatsordnung auf Basis von Scharia und Kalifat. Sie forderte die Abschaffung von Zins und Profit zugunsten einer diktatorisch durchgesetzten Interessengemeinschaft von Arbeit und Kapital. Sie agitierte als Kampfbund eifernder Männer für die Unterjochung der islamischen Frau. Sie stemmte sich gegen die auf Vernunft und Zweifel basierende „intellektuelle Invasion“ und revolutierte gegen alle sinnlichen und „materialistischen“ Versuchungen der kapitalistischen und kommunistischen Welt.

Doch die Djihad-Kampagenen der Muslimbrüder nahmen nicht den Imperialismus oder dessen ägyptische Statthalter, sondern den Zionismus und die Juden in ihr Visier. Nicht als antikoloniale, sondern als antijüdische Bewegung wurden die Muslimbrüder zur Massenorganisation. 1936 zählten sie 800 Mitglieder, 1938 waren es 200.000. Dazwischen waren – angespornt von der Politik des Mufti von Jerusalem in Palästina – alle ihre Aktivitäten auf antijüdische Massendemonstrationen, Judenboykotts und antisemitische Hetzkampagnen konzentriert.

Von Anfang an war das Denken der Muslimbrüder von einer antisemitischen Struktur geprägt, welche alle Erscheinungen des Lebens einem Opfermythos unterordnet und binär codiert. Man wähnte das Gute – der orthodoxe Islam in seiner ursprünglichsten Form – im Existenzkampf mit dem Bösen – den Hedonisten, Zionisten oder der Suez Canal Company – um durch Abgrenzung vom wesenhaften Feind die homogene Gemeinschaft zu schmieden. Seit 1936 hatte diese Denkstruktur ihr am meisten geeignetes Objekt gefunden und sich in antijüdischen Pogromen ausgetobt. Doch erst nach dem 8. Mai 1945 erreichte die ideologische Annäherung der Bruderschaft an die Nazis durch Übernahme der antijüdischen Weltverschwörungstheorie ihren Höhepunkt.

Im November 1945 kündigte sich die Verschiebung des antisemitischen Zentrums von Deutschland in die arabische Welt erstmals an. In diesem Monat verübten die Muslimbrüder anläßlich des Jahrestags der Balfour-Deklaration ihr bis dahin größtes antijüdisches Pogrom: Sie steckten Synagogen in Brand, plünderten Häuser und Geschäfte, beschimpften Juden als Kommunisten, Kapitalisten, Blutsauger und Mädchenhändler, töteten sechs Menschen und verletzten Hunderte.

Diese Ausschreitungen brachten zum Ausdruck, was sich seither als islamistische Konstante erwies: Die Vernichtung der europäischen Juden durch Nazi-Deutschland wurde wenn nicht gebilligt, so doch ignoriert. Auf Grundlage ihrer Weigerung, die Shoa als Verbrechen anzuerkennen, wurde der 1947 gefassten Beschluss der Vereinten Nationen zur Gründung Israels ausschließlich verschwörungstheoretisch interpretiert: als ein von Juden gelenkter Angriff der USA und der Sowjetunion gegen die islamische Welt, als – so al-Banna – „internationaler Komplott, ausgeführt von den Amerikanern, den Russen und den Briten unter dem Einfluß des Zionismus.“

Seither gilt den Islamisten als Gewissheit, was Osama bin Laden im November 2001 so formulierte: „Die jüdische Lobby hat Amerika und den Westen als Geiseln genommen.“ Als wichtigste globale Ambition dieser „jüdischen Lobby“ wird aber die Zerstörung des Islam imaginiert. Mit ihr wähnen sich die Islamisten in einem Kampf um Tod oder Leben, in welchem sie „dem Feind das größtmögliche Grauen bei relativ geringen Verlusten für die Islamische Bewegung“ (Ayman al-Zawahiri) beizubringen suchen.

Suizidale Massenmorde wie die vom 11. September sind die Fortsetzung islamistischer Politik mit anderen Mitteln. Als Nahziel will man den Rückzug der USA aus der arabischen Welt erzwingen, um Israel auslöschen und die panarabische Scharia-Dikatur durchsetzen zu können. Gleichzeitig haben die September-Massaker die Islamisten die Spitze der Pseudogegner des Kapitalismus katapultierte. Von Nazis gefeiert und von Globalisierungsgegnern unterstützt kanalisieren sie die Unzufriedenheit mit Zuständen, die aus der Totalität des Kapitalismus resultieren, auf das „amerikanisch beherrschte“ Israel und die „von Juden dominierten“ USA. „Hitlers islamistische Erben“ (Jehuda Bauer) verfügen über unerschöpfliche Finanzmittel, global organisierte Netzwerke und eine kohärente Ideologie. Sie haben den emanzipatorischen Antikolonialismus durch einen eliminatorischen Antisemitismus ersetzt, der die Welt ein weiteres Mal durch Vernichtung alles „Jüdischen“ erretten will.
Dennoch will man gerade in Deutschland von dieser Dimension islamistischer Weltanschauung nichts wissen. Die Tatsache, dass die nachfolgenden Textauszüge hier erstmals auf deutsch publiziert werden, spricht für sich. Oder wird der Blick gerade deshalb vermieden, weil uns hier tatsächlich „die Fratze der eigenen Geschichte“ entgegenblickt?

Quelle: Jungle World, Nr. 49, 27. November 2002, S. D1