Bruchstücke deutscher Normalität

Wozu die Affäre Wilkomirski alles taugt

Von Matthias Küntzel

Jungle World, November 1998

Vielleicht hat sich Binjamin Wilkomirski alias Bruno Doessekker seine Erinnerungen an eine jüdische Kindheit im Holocaust erdacht. Mit Sicherheit hat erst der Fäl-schungsverdacht seinen Fall für das deutsche Feuilleton wirklich interessant ge-macht.
1995 wurde Wilkomirskis Buch “Bruchstücke. Aus einer Kindheit 1939 bis 1948” im Jüdischen Verlag bei Suhrkamp veröffentlicht. 1996 ist das überschwenglich gefeierte Werk in den USA mit dem National Jewish Book Award der Sparte “Autobiographie/Erinnerung” ausgezeichnet worden. 1997 wurde Wilkomirskis Zeugnis für das Holocaust-Museum in Washington auf sechs Videobändern aufgezeichnet. Und stets beharrte er auf Fachkongressen, vor Schulklassen oder im Gespräch mit Raul Hilberg auf der Authentizität seiner Erinnerungen.

Seit September 1998 ist die Bewunderung für den Autor in Skepsis, Distanz oder Ab-scheu umgeschlagen. Eine in der Züricher Weltwoche veröffentlichte Recherche hatte anhand von Akten der Schweizer Behörden einen lückenlosen schweizerischen Le-benslauf Wilkomirskis präsentiert. Damit steht der schwerwiegende Verdacht im Raum, daß dessen angeblich “jüdische Identität”, wie auch seine Behauptung, in deutschen Konzentrationslagern aufgewachsen zu sein, kein Faktum ist, sondern eine Fiktion. Wilkomirskis Reaktion hat diesen Verdacht eher bestärkt, denn wider-legt. Zwar hat er die sogenannte “Bergier-Kommission”, die das Verhältnis der Schweiz zu den Juden in den vierziger Jahren untersucht, darum gebeten, auch seine eigenen frühen Jahre zu erforschen und mitteilen lassen, daß er “ausschließlich dieser Kommission Auskunft und rückhaltlosen Zugang zu allen verfügbaren Dokumenten unter Einbeziehung auch der Forschungsstelle ,Kinder ohne Identität’ in Jerusalem” gewähren werde. Zugleich hat er jedoch, anstatt die Weltwoche wegen übler Nach-rede zu verklagen, in einem Interview erklärt: “Es stand dem Lesenden immer frei, mein Buch als Literatur oder als persönliches Dokument wahrzunehmen.”
Im Nachwort seines Buches sprach Wilkomirski zwar einschränkend von dem “mög-lichen historischen Kontext, den er aus den “Bruchstücken der Erinnerung” rekon-struiert habe. Er ließ jedoch an der Authentizität seiner Erinnerung (“mein Gedächt-nis war nicht zu löschen”) keinen Zweifel und erklärte seiner Leserschaft, durch “jah-relange Forschungsarbeit” die “Wahrheit” seines Lebens wiedergefunden zu haben.
Die neue Unentschiedenheit Wilkomirskis über den Charakter seines Textes steht nicht nur im Widerspruch zu seinem öffentlichen Auftreten, sondern kennzeichnet zugleich den Kern des Problems: “Daß es jedermann freisteht, an die Authentizität der Berichte über den Holocaust zu glauben oder nicht zu glauben – dies ist ja gerade die zynisch-entspannte Position der modernen Revisionisten, die die Lektion der postmodernen Erkenntnistheorie gelernt haben.” Diese Warnung ist berechtigt – selbst dann, wenn sie aus der Feder des Zeit-Journalisten Jörg Lau stammt. Versteckt hinter einer scheinbar wohlwollenden, um das Ansehen der Holocaust-Überlebenden besorgten Argumentation wird der Fälschungsverdacht gegen Wiko-mirski von ihm instrumentalisiert.
Lau, der federführend die Affäre um den Schweizer Autor in Deutschland bekannt-gemacht hat, sieht in der mutmaßlichen Fälschung Wilkomirksis “nur die eine Hälfte des Skandals”. Der eigentliche Skandal sei die “Bereitwilligkeit”, mit der die Leser-schaft sich von den “pornographisch expliziten Gewaltszenen” des Holocaust-Buches hätten beeindrucken lassen. Immerhin konzidiert Lau dieser Leserschaft, daß es für die “reflexhafte Angerührtheit” über Wikomirskis Text auch “respektable Motive” gegeben habe, “kurz gesagt all jene Verhaltensdispositionen, die gerne als ,Betroffenheit’ verspottet werden”.

Seine eigentliche Kritik gilt hingegen dem “in falscher Pietät erstarrten” Kulturbe-trieb, der sich von Wilkomirskis “Holocaust-Schauerromantik” anstandslos über das Ohr hauen ließ. Das Feuilleton habe versagt und dieses Versagen habe einen Grund: Die Perversion eines “Schuldstolzes” in der einschlägigen Szenerie. Es tue “merk-würdig gut, einen solchen grausigen Text lesend zu ertragen und ihn dann einer vermeintlich unwilligen Öffentlichkeit anzuempfehlen. ... An solchen Auftritten vol-ler Schuldstolz ist etwas faul.”

Schon in dem zynisch-verlachenden Bild von der “Holocaust-Schauerromantik” wer-den die Realitäten der Shoah derealisiert und der Bericht über eine Kindheit im Ver-nichtungslager in die Nähe eines Schauerromans gerückt, dessen Lektüre einer in-nerlichen Sehnsucht Befriedigung verschafft. Mit der Erfindung der Vokabel “Schuldstolz” aber hat sich Lau endgültig für eine Karriere in der neuen Berliner Re-publik qualifiziert. Die Disposition, für die Schröders neuer Kulturchef Michael Naumann im April bereits den Begriff “Sühnestolz” kreierte, für die Jörg Lau im Sep-tember die Vokabel “Schuldstolz” erfand und welche das wandelnde Sensorium für deutsche Stimmungslagen, Martin Walser, im Oktober als “Dauerpräsentation unse-rer Schande” geißelte, ist unzeitgemäß geworden, “mega-out”. Mit Karriere belohnt wird hingegen, wer sich der “Moralkeule Auschwitz” erfolgreich widersetzt.
Niemand hat bisher daran erinnert, wie der von Lau angehimmelte Michael Nau-mann jenen Tauglichkeitstest bestand: Gegen zahllose jüdische und nicht-jüdische Proteste hatte er im April 1998, noch als Chef des renommierten New Yorker Verla-ges Henry Holt And Company, das deutlich antisemitisch gefärbte Anti-Goldhagen-Traktat von Norman G. Finkelstein auf den Markt gebracht. (Jungle World 21/98) Erst Finkelstein habe, so Naumann in einem Leserbrief an die Zeit, “die Irr- und Verwirrwege dar(gelegt), die Goldhagen abschreitet”. Wer dennoch Finkelstein, zu-mal in Deutschland, ob dessen Antisemitismus kritisiere, weise “im altneuen Sühne-stolz” lediglich auf sich selbst. (Zeit, 23.4.98)
Für die neue Unbefangenheit der Berliner Republik, in der “deutsche Selbstkastei-ung” (Naumann) und “Schuldstolz” (Lau) als rückwärtsgewandt, der Stolz auf Deutschland minus Holocaust-Denkmal hingegen als Zukunftsorientierung gilt, ist die “Affäre Wilkomirski” bloß ein wohlfeiler Verstärker, mehr nicht.

Die Stoßrichtung der Lau’schen Argumentation hat auch Günther Jacob in der No-vemberausgabe von konkret kritisiert. Zu Recht weist er den Versuch des Zeit-Journalisten zurück, “das Lesepublikum als einfältig zu schelten, weil es Wilkomirski wie Ida Fink oder Ruth Klüger gelesen hat.” Anstatt aber die Diginität des autobio-graphischen Zeugnisses gegen den Verdacht der Beliebigkeit zu verteidigen, wird bei ihm der grundlegende Unterschied zwischen fiktiver Erzählung und autobiographi-scher Erinnerung in Frage gestellt.

Der Fälschungsvorwurf gegen Wilkomirski wird hier “als Beleg für die auf der reinen Lektüre-Ebene gegebene Ununterscheidbarkeit” interpretiert: Man habe es “mit einer Situation zu tun, wo der Unterschied zwischen Zeugnisliteratur und der übrigen Li-teratur … für das Publikum unsichtbar war.” Abgesehen davon, daß es keines Wil-komirski bedurfte, um sich der Trivialität zu vergewissern (“Beleg”), daß eine gut gefälschte Autobiographie von einer echten schwer zu unterscheiden ist, geht die Behauptung der textualen “Ununterscheidbarkeit” am eigentlichen Punkt vorbei. Im Fall Wilkomirski steht nicht die Suggestionskraft von Literatur zur Debatte, sondern die Wahrhaftigkeit eines Autors; die Frage also, ob dessen Darstellung einen biogra-phisch beglaubigten Wahrheitskern in Anspruch nehmen kann oder nicht.
Nun hatte aber Jacob schon in einem früheren Text die Untersuchung über die litera-rischen Formen, in denen die Erinnerungen an den Holocaust dargestellt werden, mit der Behauptung kontextualisiert, daß der “objektive Befund” ein “Phantasma” und die “Fakten” lediglich “erzählende Rekonstruktionen” seien, weshalb “fiktionale Wahrheit und historische Wahrheit eine Einheit bilden.” (Jungle World 15/98, S.15f) Spätestens seit der Debatte um die Bruchstücke hat sich der eher spielerische Um-gang mit “Fakten und Fiktionen” zumindest im Kontext der Holocaust-Literatur je-doch diskreditiert.
Die Tatsache, daß alle Erinnerungen an den Holocaust sich bestimmter Erzählstrate-gien bedienen, kann deren Zeugnis-Charakter weder auflösen noch relativieren. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. In seinem Beitrag für konkret hat Jacob je-doch erneut die (höchst beliebige) Erzählstrategie eines Textes mit dem (keineswegs beliebigen) biographisch beglaubigten Wahrheitskern seines Autors unmittelbar ver-knüpft: “Diese Fiktion von Authentizität kann nicht allein durch die biographische Authentizitätsbehauptung des Autors entstanden sein”, behauptet Jacob über Wil-komirski, “es muß vielmehr auch die literarische Strategie dabei eine Rolle gespielt haben.”
Biographische Authentizität ist aber niemals eine Frage der erzählerischen Strategie, sondern stets eine Frage der empirisch-überprüfbaren Verbindung, “die zwischen einem Autor und den in seiner literarischen Darstellung geschilderten Ereignissen tatsächlich (besteht)”, wie James E. Young in seiner Untersuchung Beschreiben des Holocaust “mit aller Deutlichkeit” unterstreicht.

Dieser “ontologische Unterschied” wird bei Jacob zwar erwähnt, in seinem Text aber verwischt.
Damit nährt er Befürchtungen, wie die von Julius H. Schoeps: “Das wirklich Tragi-sche an dem Fall Wilkomirski ist der angerichtete Schaden”, betont der Direktor des Potsdamer Moses-Mendelssohn-Zentrums für europäisch-jüdische Studien: “Mißtrauen wurde dort gesät, wo es gerade darauf ankommen würde, Glaubwür-digkeit zu vermitteln. ... Die Zeugnisse der Überlebenden gelten nicht mehr als Zeugnisse, sondern nur noch als Texte, die man nach literarischen Kriterien prüft – ob sie der Wirklichkeit entsprechen oder nicht, wird zweitrangig.”
Vielleicht sind die Bruchstücke, trotz alledem, autobiographisch verbürgt. Vielleicht sind sie willentlich gefälscht, vielleicht hat sich der Autor in ihnen auch unbewußt mit einem zweiten Ich imaginiert. Mit dem Angriff Jörg Laus auf die “reflexhafte” Betroffenheit derer, die mit dem Grauen überhaupt noch sich befassen, wird bei Lau reflexhaft das altneue Feindbild reaktiviert: “Wilkomirski ist ein Virtuose darin, die aus dieser Haltung entspringende Unsicherheit auszunutzen.” Nur Wilkomirski? Wird unsere “Betroffenheit” nicht auch von Goldhagen, Bubis und dem American Jewish Committee geradezu virutuos “ausgenutzt”? Bei Jacob werden Betroffen- und Ergriffenheit hingegen mit dem falschen Argument verteidigt, daß es im Grunde zweitrangig sei, ob der “autobiographische Pakt” zwischen Autor und Leserschaft weiterhin Gültigkeit beanspruchen kann,oder nicht. Seitdem Auschwitz in eine Kon-sumware verwandelt wurde, “deren Tauschwert sich mittlerweile in der Hollywood-schen Oscar-Statue verkörpert”, so Moshe Zuckermann, ist es demgegenüber dringli-cher denn je, “die Grenzen minimalen Respekts vor dem Übergang von zur Wirk-lichkeit zur Fiktion bzw. von der Fiktion zur Wirklichkeit” zu verteidigen. Bestenfalls hierfür ist der “Fall Wilkomirski” ein Beleg.

(aus: Jungle World, 11. November 1998)