Bill, Bonn und die Bombe

US-Interventionen gegen die deusche Nuklearpolitik

Von Matthias Küntzel

konkret, September 1994

Dieser Gast war unerwünscht: Lynn Davis, Staatssekretärin für Abrüstungsfragen im US-Außenministerium, besuchte Ende Juli das Auswärtige Amt. Ihre Botschaft: Washington wolle mit Bonn über den Ausstieg aus der deutschen Plutoniumindustrie verhandeln. Die USA seien bereit, so Davis, ganze Tonnagen des in Frankreich und Großbritannien aus deutschen Brennelementen gewonnen Plutoniums zu übernehmen, um diese der Kontrolle der Wiener Atombehörde zu unterstellen.(NuclearFuel, 1.8.94) Eine erstaunliche Initiative. Hatte Bill Clinton nicht gestern erst ein Hohelied auf die deutsche Vormacht in Europa gesungen? Hatte er nicht sogar vor dem Brandenburger Tor erklärt, daß “nichts uns aufhalten” werde und von jetzt an “alles” möglich sei? Und nun dieses vergiftete “Angebot”, dem “partner in leadership” den Grundstoff für die Bombe zu entziehen, um ihn auf US-Boden zu neutralisieren? “Sprunghaft, konfus und richtungslos” sei Clintons Außenpolitik, behauptete die FAZ, die den Besuch von Lynn Davis jedoch taktvoll verschwieg.

Daß die USA gerade jetzt initiativ werden, um deutsche Nuklearoptionen zu dämpfen, ist nicht konfus und und auch nicht richtungslos, sondern macht Sinn. Die erste Etappe im Progamm “deutscher Normalisierung” konnte mit der Karlruher Ermächtigung für eine neue Kriegspolitik – unter dem Applaus des US-Präsidenten – erfolgreich abgeschlossen werden. Das zweite Etappenziel: Die Herstellung der westeuropäischen “Verteidigungsidentität” ist in Washington nicht unumstritten. Denn hier geht es auch um britische und französische Atomwaffen, weshalb Klaus Kinkel von einer “Schicksalsfrage” spricht. Einiges soll sich ändern: 1996 wird eine Sonderkonferenz des Europarats über die “Sicherheitsunion” und die Erneuerung des WEU-Vertrages zu befinden haben. Zwei Jahre später wird der WEU-Vertrag von 1948 nach 50-jähriger Laufzeit ebenso auslaufen, wie der Adenauer’sche Atomverzicht von 1954, der an diesen gekoppelt war. Bereits im Mai dieses Jahres hatte der WEU-Verteidigungsausschuß eine Bericht über “Rolle und Zukunft der Atomwaffen” vorgelegt. Er konstatiert die zunehmende Unglaubwürdigkeit der US-Atomwaffengarantie für Europa. Für einen Ersatz müsse gesorgt werden, “um zu verhindern, daß Deutschland sich veranlaßt sieht, eine eigene nukleare Abschreckung zu entwickeln.” Insbesondere dürfe die Bundesrepublik nicht länger von der britisch-französischen Nuklearkooperation ausgeschlossen bleiben. (WEU-Doc. 1420)
Deutschland selbst hat sich bisher wohlweislich gehütet, sein Interesse auf diesem Gebiet besonders herauszustellen. Nicht ohne Grandezza übt man sich stattdessen in der Kunst der Verstellung und der Rolle der umworbenen und sich eitel zierenden Macht. Diese Inszenierung gilt nicht nur als außenpolitisch klug. Sie ist zugleich nützlich für eine Rhetorik, deren ideologische Wirksamkeit in Vorbereitung auf Karlruhe unter Beweis gestellt worden war: Auch in Bezug auf Atomwaffen soll die Behauptung demnächst glaubwürdig erscheinen, daß die Bundesrepublik, wenn sie sich noch länger zurückhalte, in “eine deutsche Sonderrolle” gerate und “sich letzlich der politischen Einigung Europas entgegenstellt.”
Gleichzeitig agiert Deutschland London und Paris gegenüber mit einer Politik der Einschüchterung, welche auf das Stichwort “Versailles” schon nicht mehr angewiesen ist, da es den Akteuren ohnehin vor Augen steht – Liebe Franzosen, liebe Briten: ihr wißt, wozu wir fähig waren und sind. Also behandelt uns besser so, wie es der Europäischen Vormacht zukommt.

Das zentrale Statussymbol und Drohpotential der deutschen Nukleardiplomatie ist der nationale Plutoniumbunker in Hanau, der nach Regierungsangaben mindestens 2.500 kg Plutonium enthält. Nach dem fünften Glas Bier wird, wie man hört, auch von Bonner Regierungsbeamten nicht länger bestritten, warum dieser Staatsbunker existiert: “Aus Souveränitätsgründen – warum denn sonst.” Aus Pakistan und Indien bekannt ist die Methode, sich durch eine Aura der Geheimhaltung interessant zu machen: außer einigen allgemeinen Hinweisen wird über den Eigenbestand an Waffenmaterial nichts verraten. In dieser Methode übt sich auch Bonn. Im April 1994 wurden erneut alle Informationen “über Art und Menge der in staatlicher Verwahrung befindlichen Kernbrennstoffe … der Geheimhaltung” unterstellt. (Bundestags-Drucksache 12/7472) Die internationale Spekulation über die Frage, wieviel Kilogramm an metallischem Plutonium 239 in Hanau lagern, ist kalkulierter Bestandteil der Bonner Außenpolitik, “denn die Fähigkeit zur Herstellung von Kernwaffen wird dem Interesse der bestehenden Kernwaffenstaaten, der Entstehung einer weiteren unabhängigen nuklearen Macht mit kollektiven Mitteln vorzubeugen, beträchtlich steigern”, wie ein Mitarbeiter der Hardthöhe, Dieter Mahncke, betont.
Wegen ihrer außenpolitischen Funktion sind selbstverständlich ebenso wie die japanischen auch die deutsche Plutoniumbestände ein Streitpunkt der internationalen Politik. Jene geheimen Kämpfe und Rangeleien toben einerseits innerhalb der Europäischen Union, andrerseits zwischen Gremien der Europäischen Union und den USA. Dies belegen Berichte des US-amerikanischen Informationsdienstes “NuclearFuel” – ein 14-tätig erscheindendes, 18-seitiges Fachblatt der US-Atomindustrie, das seinen stolzen Einzelpreis in Höhe von 80 Dollar wert ist, weil es zu ermitteln sucht, was ist. Eine Auswahl an “NuclearFuel”-Enthüllungen möchte ich hier präsentieren.

Schon die Tatsache, daß in dem Hanauer Bundesbunker der Bombenrohstoff seit 1991 ohne MOX-Weiterverarbeitung herumliegen darf, hat in Frankreich für Proteste gesorgt: Man dürfe, so hohe französische Beamte, aus Gründen der Nichtweiterverbreitung weitere Plutonium-Transfers in die Bundesrepublik nicht zulassen. (NF, 6.7.92) Für 7.000 kg Plutonium deutscher Herkunft hat Paris seither den Transfer nach Hanau verweigert.(NF, 21.6.93) Die Bundesregierung hatte hiergegen protestiert und auch den Wunsch anderer EG-Staaten nach Mitsprache über das deutsche Plutonium (um militärischen Ambitionen entgegenzutreten) stets zurückgewiesen. Frankreich hatte sich durchsetzen können: Da der Übergang vom Plutoniumlager zum Atomwaffenlager fließend ist, untersagen Bestimmungen des Sperrvertrags und der WEU die Lagerung des Spaltmaterials, sofern eine zügige Weiterverarbeitung im Rahmen eines Energieprogramms nicht vorgesehen ist.(1)

Seit Mitte dieses Jahres wird über eine folgenreiche Veränderung der bisherigen Plutonium-Verträge diskutiert. Ein gemeinsamer Vorschlag der französischen Firma Cogema (Betreiberin der Plutoniumfabrik in La Hague) und der deutschen Preußenelektra sieht vor, daß künftig die Abtrennung deutschen Plutoniums in Frankreich nur unter dreierlei Bedingungen zugelassen werden soll: a) die deutschen Betreiber sind in der Lage, das Plutonium in MOX-Brennelementen zu verwerten; b) falls dies nicht der Fall ist, wird Cogema Eigentümer des Plutoniums; c) falls Cogema hieran nicht interessiert ist, wird das Plutonium im gegenseitigen Einvernehmen einer “dritten Partei” überlassen. Die jeweils endgültige Entscheidung trifft die französische Regierung. Dieser Plan ist in den USA auf Protest gestoßen, da er die Plutoniumproduktion von der MOX-Produktion abkoppelt und auch jene “dritte Partei” (die WEU? die französische Atomwaffenbehörde CEA?) nicht näher definiert. (NF, 4.7.94) Die US-amerikanischen Proteste verweisen auf das derzeit umstrittenste Problem: Sollen sich die USA in die “europäischen” Plutoniumpolitik zukünftig noch einmischen dürfen? Anders gefragt: Werden die USA eine unabhängige Atomwaffenpolitik in Westeuropa akzeptieren? Zur Debatte steht die globale Machtbalance – mit dementsprechend harten Bandagen wird gekämpft.

Äußerer Anlaß dieses Streites ist ein Abkommen zwischen der Europäischen Atomgemeinschaft Euratom und den USA von 1958, welches den USA das Recht einräumt, über Plutonium aus Brennelementen us-amerikanischer Herkunft im EG-Bereich mitzuentscheiden. Dieses Abkommen läuft aus. Es muß bis Ende 1995 neu formuliert und im US-Kongreß ratifiziert worden sein. Um seine Neufassung wird seit 1991 gestritten. Im Juni 1992 hatte sich ein Arbeitskreis der regierungsnahen “Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik” auf einen Konfrontationskurs festgelegt, der bis heute die Verhandlungen bestimmt. Die Mitsprache der USA sei in Zukunft für Euratom, so deren deutscher Verhandlungsleiter Wilhelm Gmelin “politisch und technisch nicht länger akzeptabel”. Man wisse, daß das Anliegen von Euratom im US-Kongreß abgelehnt werde und fordere den US-Präsidenten deshalb auf, die Mitsprache der USA unter Umgehung des US-Kongresses außer Kraft zu setzen. (NF, 11.10.93) Diesem Wunsch hatte US-Außenminister Christopher im Juni 1994 eine definitive Absage erteilt. (NF, 4.7.94) Falls ein neues Abkommen scheitert, wäre ab Anfang 1996 der US-Atomindustrie die Zusammenarbeit mit Euratom nicht länger erlaubt. Bemerkenswerterweise ist in diesem Zusammenhang eine Erklärung der westeuropäischen Plutoniumindustrie, derzufolge sie eher auf jede kommerzielle Beziehung zu den USA verzichten wolle, als weiterhin die US-amerikanische Mitsprache-Klausel zu akzeptieren. Der Waffenoption gilt in diesen Kreisen zunehmend als lukrativ. Euro-Autarkiemaßnahmen wurden für den Ernstfall bereits durchgespielt. (NF, 25.10.93) Wer diesen Grundsatzstreit für sich entscheiden wird, ist offen. Die Drohung, daß die USA ohne Aufgabe ihrer Position mit “negativen Auswirkungen in verschiedenen anderen Foren wie etwa der Sperrvertrags-Verlängerungskonferenz” rechnen müßten, wurde in den EG-Papieren bereits offen formuliert. Diese Drohung wird in Washington außerordentlich erst genommen: Sie stellt die USA vor der Alternative, jeden Rest an Einflußnahme auf die europäische (bzw. deutsche) Atomwaffenpolitik oder aber das Instrument des Sperrvertrages zu verlieren.(2)

Zurück zu Lynn Davis und ihrer Visite in Bonn. Wird sich Kinkel und Kohl um die bilateralen Plutoniumgespräche drücken können? Wohl kaum. Das dem Davis-Besuch zugrundeliegende Geheim-Dokument trägt den Code “PDD 13”, wobei PDD für “Presidental Directive” steht: Die Verhandlungsgrundlage der us-amerikanischen Unterhändler stammt direkt aus dem Weißen Haus. Die bereits im Spätherbst 1993 ergangene Anweisung richtete sich gegen die “zivile” Plutoniumabtrennung via WAA, gegen die Lagerung großer Mengen an Plutonium sowie gegen Einsatz von und Handel mit hochangereichertem Uran. (NF, 1.8.94) Die Adressaten von “PDD 13” sind in erster Linie Japan und die Bundesrepublik. Insofern scheint auch Clinton sich die gegen die Etablierung eines “new global enemy” gerichtete Zielsetzung des “Pentagon-Papiers” von 1992 (siehe konkret 9/92) zueigen gemacht zu haben.
Beide Elemente gehören zusammen: Hier Clintons Aufruf an Deutschland, die Vorherrschaft in Europa zu übernehmen. Dort die “PDD 13”-Diplomatie mit dem Ziel, deutschen Atomwaffenambitionen den Boden zu entziehen. Die Kombination ist kein Widerspruch, sondern eine Illusion. Normalisierung ja, aber bitte begrenzt!
Die Initiative “PPD 13” wird an dem neuen Kräfteverhältnis scheitern. Um nicht eine vollständige Abkopplung der deutschen und der japanischen Putoniumpolitik herbeizuführen, werden die USA zurückweichen, die Entwicklung der neuen Atommächte kooperativ zu begleiten suchen und gute Miene zum bösen Spiel machen.
Der Nutzen der Lynn Davis-Mission liegt demnach nicht in ihrem Resultat, sondern in ihrer Voraussetzung: Hinsichtlich Fähigkeit, das “böse Spiel” zu identifizieren, sind die USA der antinationale Linken hierzulande um etliche Meilen voraus.

1) Mit dem Berliner Richterspruch über die Bau einer Hanauer Anlage zur Herstellung plutoniumhaltiger Mischoxid (=MOX)Brennelemente ist die französische Plutonium-Blockade neuerdings wieder erschüttert. Dies verweist auf das Motiv der deutschen MOX-Politik die Legalisierung der nationalen Anhäufung von Plutonium – sowie auf die Bedeutung des Berliner Urteils. Daß in der Bundesrepublik über diesen Aspekt des MOX-Urteil faktisch nichts zu erfahren war, liegt erstens an der Bundesregierung, die den Zeitpunkt, die Öffentlichkeit im Sinne ihrer Nuklearinteressen zu mobilisieren, noch nicht für gekommen sieht. Dies ist zweites der deutsche Mediengemeinschaft geschuldet, die ihre spezifische Mischung aus Nationalinstinkt und Pappnasigkeit im Zusammenhang mit dem Berliner MOX-Urteil eindrucksvoll unter Beweis gestellt hatte: “Alarmstufe Rot” hatte sie auf allen Kanälen ausgerufen, weil in einer Badener Garage 6 Gramm Schmuggel-Plutonium gefunden worden waren, um gleichzeitig im Tonfall allerhöchster Gelassenheit auf die Meldung umzuschalten, daß Deutschland infolge des Berliner MOX-Urteils “50 Tonnen Plutonium aus England und Frankreich zurückerhalten” werde, wie es der Tagespresse überall hieß.
2) Im April 1995 wird in New York eine UN-Konferenz über Auslaufen oder Verlängerung des Atomwaffensperrvertrags entscheiden. Der Ausgang dieser Konferenz ist offen, der Einfluß der deutschen Position erheblich.

(aus: konkret 9/1994)