Antisemitismus als Kampfauftrag?

Mahathiers Ansprache an die islamische Welt

Von Matthias Küntzel

November 2003

Vortrag vor dem Jugendkongress 2003 der Zentralrats und der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland am 31. Oktober 2003.

Am 16. Oktober 2003 eröffnete der malaysische Premier Dato Seri Mahathir das bislang größte globale Islam-Gipfeltreffen in Kuala Lumpur. Mahathirs Eröffnungsrede erregte aus gutem Grund weltweites Aufsehen. Erstmals verkündete ein Regierungschef vor den Delegierten von 57 Staaten, vor ungezählten laufenden Kameras und vor 2.2000 Journalisten eine Botschaft an die 1,3 Milliarden Muslime in aller Welt, die Antisemitismus verbreitet und die Muslime auf einen Krieg gegen Juden einzuschwören sucht. Vier Aspekte zeichnet diese Rede aus:

Da ist erstens Mahathirs Feindbildphantasie: „Die Juden beherrschen heute mittels ihrer Strohmänner diese Welt. Sie lassen andere für sich kämpfen und sterben.“ Dies allein schon hätte eine Schlüsselpassage aus dem antisemitischen Machwerk der „Protokolle der Weisen von Zion“ sein können. Doch Mahathir spinnt seine Weltverschwörungstheorie weiter fort: Die Juden, so erklärte er seinem Millionen-Publikum, „erfanden und förderten erfolgreich Sozialismus, Kommunismus, Menschenrechte und Demokratie, damit es falsch erschiene, sie zu verfolgen und damit sie sich der gleichen Rechte erfreuen dürfen wie andere. Mit diesen Rechten haben sie nun die Kontrolle über die mächtigsten Länder gewonnen.“ Besser wäre es wohl gewesen, man hätte die Juden verfolgt und weiter rechtlos gehalten.

Da ist zweitens Mahathirs Eigenbildphantasie, seine Beschwörung und Bekräftigung einer muslimischen Opferidentität: „Heute werden wir, die ganze muslimische Umma, mit Verachtung und Ehrlosigkeit behandelt. Unsere Religion wird verunglimpft. Unsere heiligen Stätten entweiht. Unsere Länder sind besetzt. Unsere Völker ausgehungert und getötet.“

Diese Kopplung von Sündenbockobsession und Opferwahn, die den Hass auf Juden schürt, indem man sie für alle eingebildeten und realen Missstände verantwortlich macht, läuft drittens notwendig auf eine Kriegsvorbereitung hinaus. Mahatier: „Wir brauchen Gewehre und Raketen, Bomben und Kriegsflugzeuge, Panzer und Kriegsschiffe für unsere Verteidigung.“ Viertens fordert Mahathir eine Neuorientierung des Islam, um die Wirksamkeit des muslimischen „Gegenangriffs“ zu verbessern. Die wissenschaftlich-technologische Regression und die Zerrissenheit des Weltislam werden ebenso wie die taktischen Dummheiten des Islamismus allein aus diesem Grund kritisiert. Mahathir: „In jedem Krieg ist nichts wichtiger als ein konzertiertes und koordiniertes Vorgehen.“ Man müsse innehalten, um „Strategien zu entwickeln und dann einen Gegenangriff auszuführen. ... In der Verteidigung der Umma darf der Gegenangriff erst beginnen, nachdem wir unsere Häuser geordnet haben.“ Die von Mahathir geforderte Modernisierung der islamischen Welt ist somit kein Selbstzweck, sondern die Voraussetzung, um den Krieg gegen Israel und die Juden effektiver voranbringen zu können.[1]

Sofern es um die Taktik künftiger islamischer Kriegsführung geht, stützt sich Mahathir auf Sunna und Koran. So preist er Mohammeds Waffenstillstand von 628, das sogenannte Al-Hudaibiyah-Abkommen, von dem der Begriff hudna abgeleitet ist, als vorbildlich für alle Mulime an.[2] Wie aber sah die hudna von 628 aus? Um seine Gegner vom mekkanischen Stamm der Quraish in Sicherheit wiegen und ungestört aufrüsten zu können, unterzeichnete Mohammed diesen Waffenstillstand für zehn Jahre. Schon nach 18 Monaten brach er ihn jedoch und eroberte Mekka.

Mahathis Antisemitismus ist hingegen weniger am Koran, als am europäischen Vorbild orientiert: 1984 verbot Mahathir den New Yorker Philharmonikern die Einreise nach Malaysia, da diese das Werk des jüdischen Komponisten Ernst Bloch, Eine jüdische Rhapsodie, aufführen wollten. 1994 verbot er den Film Schindlers Liste, da dieser „mit der Absicht Propaganda betreibe, für die eine Rasse [die Juden] Sympathie zu erlangen und eine andere Rasse [die Deutschen] schlecht zu machen.“ 1997 beschuldigte er die Juden, für die damalige Finanzkrise in Asien verantwortlich gewesen zu sein. „Wir sind Moslems“, erklärte er damals, „und die Juden mögen es nicht, wenn wir vorankommen.“ Im Juni diesen Jahres ließ er auf dem Parteikongress seiner Umno -Partei massenhaft Exemplare von Henry Fords antisemitischem Standartwerk „The international Jew“ sowie „Die Protokolle der Weisen von Zion“ verbreiten. Und nach seiner Rede von Mitte Oktober 2003 reagierte er auf die internationale Kritik an seiner Rede als der Paranoiker, der in jedem Antisemiten steckt: „Die weltweite Reaktion beweist doch, dass sie die Welt kontrollieren.“[3]

Handelte es sich bei Mahathiers Rede um eine besonders extremistische und somit „untypische“ Einzelmeinung, wie Condoleezza Rice, die Sicherheitsberaterin des amerikanischen Präsidenten, beschwichtigend erklärte? Leider nein. Mahathier gehört nicht zu den Hardlinern oder auch nur Anhängern der islamistischen Bewegung, weshalb er in den USA lange Zeit als ein Hoffnungsträger galt. So ließ Mahathir nach dem 11. September mehr als 70 islamistische Aktivisten verhaften und Hunderte von Koranschulen schließen – nicht, um den USA zu gefallen, sondern weil der Islamismus seiner Vorstellung von Islam widerspricht. Nicht zufällig waren Malaysia und Bosnien im April 2002 die einzigen Teilnehmerstaaten der ersten weltweiten Islamkonferenz nach dem 11. September, die jeden Angriff auf Zivilpersonen, einschließlich der Attentate der Hamas, als Terrorakte bewerten wollten. Malaysia und Bosnien wurden damals von den übrigen 52 Staaten, die geschlossen die Selbstmordattentate der Hamas verteidigten, überstimmt.[4] Mahathiers Beispiel führt vor Augen, wie selbstverständlich der auf den „Protokollen der Weisen von Zion“ basierende Antisemitismus und dessen offensive Artikulation auch bei modern ausgerichteten Führern des Islam geworden ist.

Die Tatsache, dass von einer „Einzelmeinung“ keine Rede sein kann, wird besonders durch die standing ovations belegt, die Mahathir nach seiner Rede von den Tausenden von Teilnehmerinnen und Teilnehmern dargeboten wurden. Keine islamische Stimme hat Mahathirs Rede kritisiert. Zahlreiche arabische Repräsentanten nahmen sie stattdessen lautstark in Schutz. Der jemenitische Außenminister Abu Bakr Al Qirbi bezeichnete Mahathirs Worte als „in keiner Weise antisemitisch“. Die Rede habe „die Fakten genannt“. Der afghanische Präsident Karzei verwahrte sich gegen den Vorwurf des Antisemitismus, während der ägyptische Außenminister und Vorsitzende der Arabischen Liga, Ahmed Maher, die westlichen Kritiker Mahathirs als Leute beschimpften, „die Probleme erfinden, die es nicht gibt.“[5] Wenn sich aber in einer Organisation, die vorgibt, 1,3 Milliarden Menschen zu vertreten, kein Protest gegen eine antisemitische Hetzrede regt, dann markiert dies einen Wendepunkt.

Das Beispiel Tantawi
Über das Ausmaß, in welchem ein grauenvoller Antisemitismus in der islamischen Welt hat Wurzeln schlagen können, macht sich die Öffentlichkeit in Deutschland keine realistische Vorstellung. Neben wir als Beispiel den renommiertesten Geistlichen des sunnitischen Islam, den Großscheich der Al-Azhar-Universität von Kairo, Mohammed Sayyid Tantawi. Tantawi leitet seit 1996 die höchste religiöse Institution Ägyptens, deren Ruf als geistiges Zentrum des sunnitischen Islam auch aufgrund ihrer mehr als tausendjährigen Geschichte weit über die Grenzen Ägyptens hinausreicht.

1997 erschien in vierter Auflage sein weitverbreitetes Buch: „Das Volk Israels im Koran und in der Sunna“, das er erstmals 1966 als Doktorarbeit veröffentlicht hatte. Tantawi geht es in diesem Buch explizit darum, den Palästinakonflikt vom religiösen Standpunkt aus zu bewerten.

Tantawi erweist sich darin aber als ein antijüdischer Rassist, denn er schreibt „den Juden“ eine bestimmte, in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft unveränderliche Natur zu, deren negativen Merkmale sich immer weiter intensivierten. Zu diesen „natürlichen“ Eigenschaften zählt Tantawi etwa „Gier nach dem Leben und dem Diesseits“, „Selbstsucht“ und „übermäßigen Egoismus“.[6]

Sein Kapitel über „Das jüdische Unheilstiften auf Erden“ hat Tantawi in die folgenden 7 Abschnitte unterteilt: „1. Tötung und Mord, 2. Spionage, 3. Tarnung hinter den Religionen, 4. Ihre Bücher und Beschlüsse, 5. Die Erzeugung von Intrigen, Kriegen und Revolutionen, 6. Geheimbünde sowie 7. Verbreitung des Lasters.“ In diesem Abschnitt seine Buches werden alle Stereotype des islamischen und europäischen Antisemitismus zusammengeführt. „Unter ,Tötung und Mord’ führt Tantawi das Töten von Propheten sowie Massaker von Zionisten in arabischen Dörfern als Beispiele an, unterstellt außerdem jedoch noch, dass das Verzehren nichtjüdischen Blute ein religiöser Ritus bei ,den Juden’ sei.“[7] – heißt es in einer soeben erschienenen Studie des Hamburger Orient-Instituts. (Wolfgang Driesch, Islam, Judentum und Israel, Bd. 66 der Mitteilungen des Orientinstituts Hamburg, Hamburg 2003)

Die höchste religiöse Autorität des sunnitischen Islam zitiert in seinem Bestseller zustimmend Adolf Hitlers „Mein Kampf“: „Indem ich mich der Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.“[8] Unter Berufung auf die „Protokolle der Weisen von Zion“ macht er die Juden nicht nur für die französische und russische Revolution verantwortlich, sondern beschuldigt sie zugleich, „sich um die Zerstörung von Moral, Religionen und geistigen Werten zu bemühen. ,Die Juden’ seien heute Besitzer von Bordellen in aller Welt und würden moralischen und sexuellen Verfall in allen Orten verbreiten. ... In Europa werde nicht verstanden, dass hinter jedem Gedanken, der Werte und Moral verächtlich mache, jüdische Finger stecken würden.“[9]

Derartige Stereotype finden sich beinahe wortgleich in der Charta der islamistischen Hamas. Tatsächlich hat der oberste Theologe des sunnitischen Islam die Sichtweise des Islamismus übernommen und „die Juden“ als einen monolithischen Block ohne positiven Eigenschaften und als das „Reich des Bösen“ schlechthin dargestellt und dadurch dämonisiert. „Nach dieser Darstellung“, schreibt zutreffend das Hamburger Orient-Institut, „scheint ein friedliches Nebeneinander von Juden und Nichtjuden für Tantawi nicht möglich zu sein.“[10]

Bei Tantawi, dem Großscheich von Al-Azhar, ist der ideologische und zugleich pathologische Bezugsrahmen der Forderung Mahathirs nach „Raketen, Bomben, Kriegsflugzeugen und Kriegsschiffen“ schwarz auf weiß dokumentiert. Wenn ein Buch, wie das hier zitierte, vollständig unangefochten zu einem Standardwerk über „das Volk Israels“ aus theologischer Sicht werden kann, dann braucht man sich über die Hass-Rhetorik des Sunniten Mahathir und über seinen an die gesamte muslimische Welt ergangenen Aufruf zum Clash der Zivilisationen ebenso wenig zu wundern, wie über die standing ovation, die er von den Repräsentanten aus 57 Ländern hierfür erhielt. Tantawis Bestseller macht klar, dass Mahathirs Rede als das herausgehobene Symptom einer allgemeinen und äußerst bedrohlichen Tendenz betrachtet werden muss.

„Monstrous deformity“
Warum hat dieser Kontext der Rede Mahathirs in der deutschen Öffentlichkeit bisher kaum eine Rolle gespielt? Prof. David Gelernter von der amerikanischen Yale University schlägt folgende Antwort vor:

„Es ist bis zu einem gewissen Punkt die pure Bösartigkeit der Islamisten, die Menschen vor dem Hinschauen bewahrt. Es ist unangenehm, sie zu betrachten. Wir wenden uns instinktiv ab, so wie wir es immer tun, wenn wir mit einer monströsen Deformation konfrontiert sind. Nichts ist furchteinflößender und schwerer anzuschauen als ein Mitmensch, der völlig aus dem Rahmen gefallen ist. Die moralische Deformation ist aber die mit Abstand furchterregendste Verunstaltung überhaupt.“

Islamisten sind keine Monster, und als solche stellt sie auch David Gelernter nicht dar. Menschen können zwar mit körperlichen Abnormitäten geboren werden, niemals aber mit moralischen. Es sind einzig und allein die von Menschen gemachten Umstände und Ideologien, die die moralische Deformation islamistischer Antisemiten generieren.

Mir kam bei Gelernters „monstrous deformity“ ein berühmter Kupferstich von Picasso in den Sinn, den er als eine frühe Studie für das berühmte Gemälde „Guernica“ anfertigte. Man sieht dort eine Art Minotaurus oder Stiermensch. Die Menschen laufen entsetzt davon oder springen in Panik über die Zäune. Nur ein junges Mädchen nähert sich dem Monster naiv und voller Mitleid und mit der Kerze in der Hand und legt so den unendlichen weichen Kern des so unheilvoll erscheinenden Monsterwesens frei.

Natürlich macht es wenig Sinn, bei Scheich Yassin, dem Chef der Hamas, mit einer Kerze in der Hand vorbeizuschauen. Und doch erscheint es mir verkehrt, auf das Licht der Aufklärung zu verzichten und das individuelle Elend und die unermessliche Angst, die das Leben vieler Islamisten angesichts des Terrors der islamistischen Religionsauslegung bestimmt, zu ignorieren. Eine Umfrage im Gaza-Streifen hat beispielsweise ergeben, dass der Anteil an 12-jährigen Jungen, die prahlend von ihrer Zukunft als Selbstmordattentäter schwärmen, recht genau mit dem Anteil jener übereinstimmt, die noch als 12-jährige regelmäßige Bettnässer sind – Bettnässer aufgrund von Ängste und Traumata, die ihnen in erster Linie die Führung ihrer eigenen Gesellschaft zugefügt hat.

Und doch scheint mir Gelernters Vermutung plausibel zu sein. Neben vielen anderen Gründen wird der krude Gehalt der islamistischen Ideologie auch deshalb nicht in den Blick genommen, weil er so furchtbar ist und schockiert. Wir erinnern uns, dass es ein ähnliches Erkenntnisproblem schon in den 30er Jahren gab und wissen, welche Folgen dieses Nicht-Hinschauen-Wollen zeitigte.

Um so mehr hängt die richtige Antwort auf islamistischen Antisemitismus von dem Handeln oder Nichthandeln der politisch Verantwortlichen ab, die sich mit psychologischen Reflexen nicht herausreden können. Jeder, der es will, vermag ohne Weiteres zu erkennen, dass die massenhafte Verankerung des eliminatorischen Antisemitismus in der arabischen und muslimischen Welt Folgen zeitigt, die über das, was Juden unmittelbar betrifft, weit hinausgehen:

Es ist dieser Antisemitismus, der die muslimische Welt immer weiter zurückwirft. 1,3 Milliarde Muslims leben nicht deshalb in relativer Armut, weil sie von einigen Millionen Juden an die Kette gelegt werden, sondern weil ihnen eingeredet wird, dass es so sei.

Es ist dieser Antisemitimus, der bis heute die längst überfällige Normalisierung der arabischen Beziehungen gegenüber Israel verhindert und dafür gesorgt hat, dass mit dem Anspruch auf einen arabisch-palästinensischen Staat an der Stelle Israels (und eben nicht „an der Seite“ Israels) bislang noch jede Chance für eine friedliche Regelung des Nahostkonflikts sabotiert worden ist.

Es ist dieser Antisemitismus, der den Zulauf zu den islamistischen Terrorkommandos der al-Qaida potenziert. Da mag sich ein Herr Mahathir vom Islamismus abgrenzen, so viel er will: Wer antisemitischen Wind sät, erntet djihadistischen Sturm. Wenn sich das Hirngespinst eines angeblich notwendigen Kampfs gegen die Juden erst einmal festgesetzt hat, kann sich Al Qaida allemal als die konsequentere Kraft und als die eigentliche Avantgarde der Umma präsentieren. So hat in den letzten fünf Jahren die islamistische Opposition Malaysias bei jeder Studentenwahl ihren Einfluss erhöht.

Der Kampf gegen den Djihadismus setzt demgegenüber eine zero-tolerance Position gegenüber dem Antisemitismus voraus: Falls der Judenhass überall in der Welt geächtet, isoliert, verfolgt und bestraft würde, wäre es auch mit dem Djihadismus vorbei.

Wo steht die Europäische Union?

Auch deshalb hing so viel von den Reaktionen der Weltöffentlichkeit auf die Rede Mahathiers ab, eines Politiker, der auch in Afrika, Lateinamerika und den nicht-islamischen Ländern Asiens hohes Ansehen und den Ruf eines antikolonialistischen Helden genießt, weil er während seiner 22-jährigen Präsidentschaft für die Rechte der so genannten Dritten Welt und der Länder des Südens warb. Wenn etwa die Pakistan Times Mahathirs Rede nicht nur rühmt, sondern durchaus triumphierend davon berichtet, dass sich die Prostete gegen Mahathir angeblich auf das „weiße Christentum und Israel“ beschränkten, wohingegen „kein nicht-weißes Land, christlich orientiert oder nicht, Mahathir verurteilt habe“, dann werden ansatzweise die Dimensionen jenes „Clash of Civilization“ sichtbar, den Mahathier angekündigt hat und propagiert. Wie aber positionierte sich in diesem Kontext die Europäische Union?

Zufällig saßen am Folgetag der Rede von Kuala Lumpur sämtliche Regierungschefs der EU (mit Ausnahme von Gerhard Schröder, der sich durch Jaques Chirac vertreten ließ) bei einer Gipfelkonferenz beisammen. Für die Abschlusserklärung dieses Gipfels war die Verurteilung der Mahathier-Rede bereits vorbereitet. „Diese Erklärung hatte vorübergehend im Abschlusscommunique des Gipfeltreffens figuriert“, berichtete die Neue Züricher Zeitung. „Bei dessen Ausarbeitung machten indes Präsident Chirac und auch der griechische Ministerpräsident Simitis geltend, dass normalerweise eine solche Erklärung nicht ins Communique des EU-Gipfels gehöre.“[11] Chirac und Simitis erreichten mit ihrem Veto, dass die Kritik des Mahathier’schen Antisemitismus auf ein Nebengleis geschoben wurde und lediglich in einem Statement der italienischen Ratspräsidentschaft erschien. Die Bundesregierung, die noch am Vortage den malaysischen Geschäftsträger einbestellt hatte, um „auf das Schärfste gegen die antijüdischen Äußerungen“ zu protestieren, pflichtete dem wohlkalkulierten Schachzug ihres wichtigsten Verbündeten stillschweigend bei. Die New York Times hat hierfür die richtigen Worte gefunden: Ihr Leitartikel verwies auf die vor 60 Jahren von Deutschen verübten und von unzähligen anderen Europäern unterstützten antijüdischen Verbrechen und bezeichnete die „Nonchalance“, die der EU-Gipfel dem Antisemitismus gegenüber an den Tag legte, als „unentschuldbar“.

Letzte Woche hat das Repräsentantenhaus der USA den stehenden Beifall für Mahathier als „bereitwillige Mittäterschaft bei der Verbreitung von Hass gegen Juden“ eindeutig und einstimmig kritisiert. Der US-Senat verabschiedete eine Resolution, die jede weitere militärische Hilfe von der Lage der Juden in Malaysia abhängig macht. [12] Demgegenüber konnten Antisemiten in der islamischen Welt den demonstrierten europäischen Verzicht auf eine hochrangig lancierte Verurteilung des Antisemitismus als Bestätigung ihrer Position interpretieren: Öffentlich hatte sich Mahathier nach dem EU-Gipfeltreffen bei Jaques Chirac bedankt.

Ihm bereite die Reaktion auf Mahathir weitaus mehr Sorgen, als die Rede selbst, hatte Abraham Foxman, der Vorsitzende der amerikanischen Anti-Defamation League, einige Tage später erklärt. Mahathir habe die globale politische Landkarte offenkundig sorgfältig studiert. Als Foxman diese Einschätzung formulierte, waren ihm die Ergebnisse der von der Europäischen Kommission in Auftrag gegebene Umfrage bei jeweils 500 Einwohnern jedes Mitgliedsstaats noch nicht bekannt. Auf die Frage, welcher Staat den Frieden in der Welt derzeit am meisten bedrohe, benannten 59 Prozent der 7.500 befragten Europäer den jüdischen, Israel. Von den befragten Deutschen waren es gar 65 Prozent, die ausgerechnet Israel für die weltweit größte Friedensgefahr hielten! Auf der globalen politischen Landkarte, von der Foxman sprach, scheint die Frontstellung Kommunismus-Kapitalismus inzwischen durch eine neue Frontstellung ersetzt zu sein: Hier der Block derer, die den Zustand der Welt entweder antisemitisch interpretieren oder den Antisemitismus im Kontext ihrer globalen Bündnisbeziehungen herunterspielen und tolerieren. Dort der zwar militärisch starke, hinsichtlich seines politisches Einflusses aber immer schwächer werdende Rest: hauptsächlich Israel und die USA.

Matthias Küntzel

[1] Die Zitate folgen den Übersetzungen von Werner Neumann (Frankfurter Rundschau, 24. Oktober 2003) und Katrin Kemmler (Honestly Concernd) vom 17. Oktober 2003. Der englische Wortlaut der Rede findet sich unter www.pmo.gov.my.

[2] “Hudna” ist seither ein Synonym für den geschickten Betrug der Ungläubigen. Die Hamas nannte ihren sechswöchigen Waffenstillstand von Sommer 2003 hudna und auch Arafat nahm mit seiner Interpretation des Abkommens von Oslo („Wir respektieren Abkommen auf eben dieselbe Art, wie der Prophet Mohammed das von ihm unterschriebene Abkommen respektierte“) auf das Hudaibiyah-Abkommen ausdrücklich Bezug. Vgl. Yossef Bodansky, Bin Laden. The Man Who Declared War on America, Rocklin 1999, S. 278.

[3] Michael Danby, The Mahathir paradox, in: Jerusalem Post, Oct.30, 2003; Anti-Semitic Book Distributed at Rally for Malayian Leader, in: NYT, June 22, 2003; Thomas Fuller, Mahathir: a master of progress and offense, in: International Herald Tribune (IHT), Oct. 20, 2003; David E. Sanger, Malaysian Leader’s Talk Attacking Jews Draws Ire From Bush, in: NYT, Oct. 21, 2003.

[4] Verurteilung von Attentaten abgelehnt, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 3. April 2002.

[5] Empörung über Mahathir-Rede, in: FAZ, 18. Oktober 2003.

[6] Der wichtigste Unterschied zwischen dem antijüdische Rassismus der Islamisten und der Nationalsozialisten liegt in seiner jeweiligen Selbstbildphantasie. Der völkische und biologische Rassismus der Nazis ist bei den Islamisten durch den religiösen Überlegenheitswahn ersetzt.

[7]

[8] Ebd., S. 76.

[9] Ebd., S. 78f.

[10] Ebd., S. 61 und S. 81.

[11] Israelisch-französischer Schlagabtausch, in: NZZ, 21. Oktober 2003.

[12] Ron Kampeas, After Mahathir’s anti-Semitic remarks, Jews wonder if outrage will yield change, in: jta-report, Oct, 22, 2004; JTA Daily Briefing, Oct. 28, 2003.

(Dieser Artikel wurde stark gekürzt in der Frankfurter Rundschau vom 21.11.2003 veröffentlicht.)