Was geschah am „Nakba-Tag“ tatsächlich?

Dieses Jahr wurde der „Nakba-Tag“ auch in Berlin mit antisemitischen Parolen begangen, doch kaum jemand weiß, warum er ausgerechnet am 15. Mai stattfindet.

Demonstration zum

Von Matthias Küntzel

Mena-Watch, 19. Mai 2021

2004 führte Palästinenserpräsident Jassir Arafat den „Nakba“-Tag ein, der seither alljährlich am 15. Mai mit Demonstrationen und militanten Auseinandersetzungen begangen wird. 2021 wurde dieser Tag auch in Deutschland zelebriert, fiel er doch zeitlich mit dem neuen Gaza-Krieg zusammen. „Die Palästinenser begehen heute den Nakba-Tag, der an die Flucht und Vertreibung der Palästinenser erinnert“, berichteten die „Tagesthemen“. Neue Gewaltausbrüche zeichneten sich ab, hieß es bei n-tv.de, „weil die Palästinenser am heutigen Nakba-Tag der Vertreibung von Hunderttausenden Menschen infolge der israelischen Staatsgründung 1948 gedenken.“

Was aber dieses Datum, den 15. Mai 1948, tatsächlich bedeutsam macht, blieb in all diesen Meldungen unerwähnt.

Es war in der Frühe dieses Tages, dass die arabischen Armeen den Teilstaat Israel, den Ben-Gurion am Vortag im Einklang mit den Beschlüssen der Vereinten Nationen gegründet hatte, überfielen: vom Norden rückten syrische und libanesische Truppen, vom Osten jordanische Streitkräfte und vom Süden ägyptische Einheiten vor, um die Existenz Israels auszulöschen.

Hätte sich die arabischen Führer damals anders entschieden und den Teilungsbeschluss der Vereinten Nationen akzeptiert, hätte man am diesjährigen 15. Mai 2021 womöglich den 73. Jahrestag der Gründung eines arabisch-palästinensischen Staates begehen können.

Warum wird bis heute die israelische Staatsgründung für das Elend der Geflüchteten und Vertriebenen verantwortlich gemacht? Warum scheut man davor zurück, diesen Angriffskrieg, der nicht Israel, wohl aber die Idee eines „palästinensischen“ Staates auf Jahrzehnte zunichtemachte, als die Katastrophe betrachtet, die er tatsächlich war?

Die Antwort hat mit der Geschichtsschreibung der PLO zu tun, die das internationale Verständnis von den Ursprüngen des Nahostkonflikts seit vielen Jahrzehnten prägt. Sie betrachtet den Überfall arabischer Armeen auf das gerade gegründete Israel als einen legitimen, ja als einen geradezu selbstverständlichen Akt.

Die zeitgenössischen Dokumente zeigen jedoch, dass das nicht stimmt, dass dieser Krieg bis zur letzten Minute hoch umstritten war.

Wir sind nicht verrückt!

Zwar lehnte die Arabische Liga den Teilungsbeschluss für Palästina, den die Vereinten Nationen im November 1947 mit Zweidrittel-Mehrheit beschlossen hatten, ab. Zwar erklärte sie sich bereit, Guerilla-Aktivitäten gegen einen jüdischen Teilstaat in Palästina zu unterstützen. Einen Einmarsch regulärer arabischer Armeen schloss sie jedoch wiederholt und entschieden aus.

„Wir werden niemals daran denken, in einen offiziellen Krieg einzutreten“, hatte noch Anfang Mai 1948 General Muhammad Haidar, Ägyptens Verteidigungsminister, erklärt. „Wir sind nicht verrückt. Wir werden unseren Männern und Offizieren erlauben, sich freiwillig für den Dienst in Palästina zu melden, und wir werden ihnen Waffen geben, aber nicht mehr.“

In der Tat gab es viele gute Gründe, die 1948 gegen einen groß angelegten Palästina-Krieg sprachen.

Erstens war dies eine Kampfansage an die Vereinten Nationen, deren Teilungsbeschluss in wochenlangen Sitzungen besonders sorgfältig vorbereitet war. „Es wäre ein gefährlicher und tragischer Präzedenzfall, wenn ein Beschluss der UN-Vollversammlung durch Gewalt hinfällig gemacht würde“, hatte die UN-Palästinakommission im Februar 1948 erklärt.

Zweitens war dies ein Affront gegen beide Supermächte – die USA und die UdSSR. Beide hatten sich für den Teilungsbeschluss engagiert, beide lehnten den arabischen Krieg entschieden ab. „Jeder Versuch, mit Gewalt die Entschließung der Vollversammlung zu ändern [sei] als Angriffsakt anzusehen“, warnten die USA im April 1948. Noch vehementer verteidigte die Sowjetunion den Teilungsplan. 1948 machte sie die arabische Welt dafür verantwortlich, die UN-Resolution „zertrümmert“ und „das neue Problem arabischer Flüchtlinge im Nahen Osten“ geschaffen zu haben. Erst Jahre später änderte der Kreml seine Position. Gegen den erklärten Willen beider Supermächte einen Krieg zu initiieren – das war verwegen und riskant.

Drittens waren viele arabische Führer mit dem Teilungsplan weitaus weniger unzufrieden, als es nach außen hin den Anschein hatte. So sprachen sich im Privatgespräch nicht nur Emir Abdullah, der Herrscher Transjordaniens für den Teilungsplan aus, sondern auch die Premierminister Ägyptens und des Irak. Auch für den Generalsekretär der Arabischen Liga, Abd al-Rahman Azzam „gab es aus seiner Sicht nur eine Lösung und zwar die Teilung“, heißt es in einem zeitgenössischen Bericht der Jewish Agency.

Viertens aber wurden die Araber in Palästina nicht gefragt. Sie weigerten sich in ihrer großen Mehrheit, in das Kriegsgeschehen hineingezogen zu werden. In seiner Studie Army of Shadows liefert der israelische Historiker Hillel Cohen zahllose Beispiele für die Hartnäckigkeit, mit der sich palästinensische Araber den Kriegsaufrufen von Amin el-Husseini, dem berüchtigten Mufti von Jerusalem, widersetzten, mit der sie Nichtangriffspakte mit den Juden ihrer Umgebung schlossen oder gar die jüdischen Abwehrkämpfe unterstützten. Hier war kein Volk, das geschlossen gegen Unrecht kämpfte, sondern eine gespaltene Bevölkerung, die hauptsächlich in Ruhe gelassen werden wollte und besonders dem Mufti misstraute.

Die Muslimbruderschaft peitscht ein

Es gab somit auch aus Sicht der Araber viele gute Gründe, auf den Angriff auf den israelischen Teilstaat zu verzichten. Warum fand dieser am 15. Mai 1948 dennoch statt?

Hier nun kommt die berüchtigte „Arabische Straße“ ins Spiel; die Mobilisierung fanatischer Judenhasser, die auf einen Krieg gegen Israel drängten. Wichtigster Antreiber dieser Mobilisierung war die 1928 in Ägypten gegründete Muslimbruderschaft, die die Nazis bis zum September 1939 mit Geldern unterstützt und in gemeinsamen antisemitischen Schulungsveranstaltungen ausgebildet hatten.

Die Muslimbruderschaft verfügte 1948 über mehr als eine Millionen Mitglieder und stellte damit die damals größte antijüdische Massenbewegung der Welt. Sie feierte den Mufti als Vollender einer Hitler’schen Ambition. „Dieser Held“, umjubelten sie Amin el-Husseini nach seiner Rückkehr 1946 nach Ägypten, „[kämpfte] mit der Hilfe Hitlers und Deutschlands […] gegen den Zionismus. Deutschland und Hitler sind nicht mehr, aber Amin el-Husseini wird den Kampf fortsetzen.“

Die Muslimbrüder schufen „eine Atmosphäre, in der Krieg das einzige logische und natürliche Verfahren zu sein schien“, schreibt der Nahosthistoriker Thomas Mayer. Kein arabischer Führer konnte sich dieser Kriegsstimmung widersetzen und gleichzeitig hoffen, am Leben, geschweige denn an der Macht zu bleiben. Dem Druck der Straße gab am 12. Mai 1948 auch Ägypten nach, der wichtigster Staat der arabischen Welt. Drei Tage später begann der Einmarsch seiner Truppen mit den bekannten katastrophalen Folgen für jüdische und muslimische Palästinenser.

Beginnt die Debatte?

Heute stellen einzelne arabische Akteure die Fehlentscheidung von 1948 in Frage. So zum Beispiel Nabil `Amr, ein ehemaliger Minister der Palästinensischen Autonomiebehörde.

„Sieben Jahrzehnte, nachdem die Araber und Palästinenser den Teilungsplan abgelehnt haben, stellt sich die Frage, ob sie hierbei richtig oder falsch gehandelt haben“, schrieb er im April 2019. „Diejenigen, die auf Übereinkünfte und auf das Prinzip ,Sichere, was du erreichen kannst!‘ setzen, betrachten dies als einen schmerzlichen Fehler.“

Bereits im Sommer 2018 strahlte der arabische Nachrichtensender Al-Arabija unter dem Titel „Die Nakba“ eine zweiteilige Dokumentation aus, die um Objektivität bemüht war und deshalb bei Anhängern der üblichen Lesart auf Empörung stieß. Gleichwohl steckt eine ernsthafte Aufarbeitung der Fehlentscheidung von 1948 noch in den Kinderschuhen.

Wenn die Hamas heute ihren Religionskrieg gegen Israel intensiviert, dann auch deshalb, um diese Spurenelemente einer rückblickenden Reflexion zu tilgen, bevor sie sich entfalten können. Für sie ist der „Nakba“-Tag kein Grund zur Besinnung, sondern Gelegenheit, eben jenen unreflektierten Hass auf Israel und die Juden, der den Krieg von 1948 auslöste, weiter zu schüren.

[Die hier skizzierten Details der Jahre 1947/1948 erläutere ich ausführlich und mit Quellenangaben in Teil IV meines Buches „Nazis und der Nahe Osten“.]

Die Originalveröffentlichung findet sich hier.

Bild: Demonstration zum “Nakba-Tag” am 15. Mai 2021 in Melbourne, Australien. Quelle: Flickr · Autor: Matt Hrkac · Lizenz: CC BY 2.0