Sind wir alle Charlie?

Das Pariser Blutbad und seine Folgen

Von Matthias Küntzel

Deutschlandradio Kultur, 14. Januar 2015

Die Ermordung einer ganzen Zeitungsredaktion und von Juden in einem Kosher-Kaufhaus traf uns bis ins Mark. Plötzlich stand die Freiheit des Lachens und des Denkens auf dem Spiel. Plötzlich wurde klar, dass sich der Krieg der Islamisten gegen unsere Lebensweise richtet und gegen alle, die diese schätzen.

Deshalb demonstrierten am Wochenende Millionen unter dem Motto Je suis Charlie. Bei den al-Qaida-Anschlägen von London und Madrid war dies noch anders. Damals hatten viele die Außenpolitik der betroffenen Regierungen für den Terror verantwortlich gemacht; damals blieben die Proteste verhalten.

Und noch etwas ist neu. Bis letzte Woche konnten sich die Islamisten auf ihre Taktik der Einschüchterung verlassen. So versetzte zum Beispiel die Todesfatwa gegen den britischen Autor Salman Rushdie Tausende in Schrecken. Die Hinrichtung des Islamkritikers Theo van Gogh schärfte die Schere der Selbstzensur.

Über die dänischen Mohammed-Karikaturen wurde zwar monatelang gesprochen. Dennoch fehlte den meisten deutschen Medien der Mut, sie auch nur zu dokumentieren. Anders die Zeitung Charlie Hebdo, die die Freiheit der Satire auch damals verteidigte. Ihre Auslöschung sollte auch die Letzten dazu veranlassen, sich den Islamisten zu beugen.

Doch was geschieht? Plötzlich werden die verfemten Karikaturen massenhaft und in aller Welt gedruckt. Plötzlich bekunden Europäer mit hochgehaltenen Stiften und Je suis Charlie – Plakaten ihre Solidarität. Plötzlich wird der Widerstand gegen den Islamismus global. Ist dies nur ein Aufflackern von Betroffenheit ohne Folgen? Das jedenfalls ist zu befürchten.

Oder erleben wir den Anfang einer realen Anti-Appeasement-Bewegung mit Folgen für die Politik? In diesem Fall eröffneten sich neue Chancen und Perspektiven.

Dann würde vielleicht erkannt, dass es sich bei den Tätern nicht nur um frustrierte Vorstadtjugendliche oder „Extremisten“ handelt, sondern um islamistischen Weltanschauungskrieger, die von Predigern und Propagandisten aufgestachelt werden, bis sie für ihr Gesellschaftsmodell über Leichen gehen.

Dann würde der Antisemitismus der Islamisten, wie er bei der Wahl der Opfer im Kosher-Kaufhaus zutage trat, wohl endlich ernst genommen, anstatt die Morde an Juden herunterzuspielen oder sie gar als vermeintliche Reaktion auf den Nahostkonflikt zu entschuldigen.

Dann würde man schließlich nicht länger so tun, als handele es sich bei der Hamas um ein israelisches, bei der Hisbollah um ein libanesisches, bei ISIS um ein amerikanisches und beim Pariser Blutbad um ein französische Problem. Dann würde man begreifen, dass wir es mit einem globalen Krieg zu tun haben, der seine Energien aus dem Koran und dessen Jenseitsverheißung schöpft; mit einer strategischen Herausforderung, die die gesamte freie Welt militärisch, aber besonders auch politisch bewältigen muss.

Doch auch unabhängig von der Frage, ob die Je suis Charlie-Kampagne einen Wendepunkt markiert, ist Kritik am Islam heute nötiger denn je. Die wie ein Mantra wiederholte Beschwichtigung, die Morde der Islamisten hätten mit Religion nichts zu tun, ist absurd.

Hier wird der political correctness zuliebe die Unwahrheit gesagt. Natürlich ist nicht jeder, der sich auf den Koran beruft, Islamist. Doch beruft sich jeder Islamist, leider nicht zu Unrecht, auf den Koran.

Islamkritik ja – aber nicht so, wie Pegida es will. Die Meinungsfreiheit ist kein abendländisches, sondern ein universales Recht, für das die Muslime vieler Länder auf die Straße gehen. Die Kluft verläuft nicht zwischen Muslimen und Nichtmuslimen, sondern zwischen denen, die den Tod und denen, die das Leben lieben. Die historischen Demonstrationen des letzten Wochenendes waren auch hierfür ein Beweis.

Am 14. Januar 2015 als „Politisches Feuilleton“ von DeutschlandRadio Kultur gesendet. Der Beitrag kann hier nachgehört werden.