Normalität und Wahn

Vom Hass auf die "Auschwitz-Keule" und der rot-grünen Republik

Von Matthias Küntzel

konkret, Februar 1999

“Ich bin völlig normal. Denn selbst, als ich diese Vernichtungsaufgabe durchführte, war mein Familienleben durchaus normal.” (Rudolf Höß)

Walsers Rede hat in Verbindung mit dem Bonner Machtwechsel einen Erdrutsch ausgelöst: unplanbar, unkontrollierbar, irreversibel. Alles hat sich seither verändert, auch wenn sich nichts verändert hat.
An die Stelle vergangenheitspolitischer Beschwichtigungen ist Selbstgerechtigkeit und nackter Stolz getreten, an die Stelle eines beeinträchtigten Gewissens das ungebrochene Triumpfgefühl einer neuen Stunde Null. Die europäischen Nachbarn sollten sich tunlichst daran gewöhnen, “daß Deutschland sich nicht mehr mit dem schlechten Gewissen traktieren läßt”, gibt Uwe-Karsten Heye, der neue Bonner Regierungssprecher bekannt. Mit der “Instrumentalisierung unserer Schande für gegenwärtige Zwecke” ist es vorbei!
Es ist die Gnade der noch späteren Geburt, die den auftrumpfenden Parolen den missionarischen Impetus verleiht: Die 68er sind an der Macht. Und haben sich diese nicht mit der Geschichte und mit ihrem Elternhaus in vorbildhafter Weise auseinandergesetzt? Kein Wunder also, “daß sie sich jetzt freier, souveräner fühlen können als ihre Vorgänger”, schreibt der ehemalige Pflasterstrand- und heutige Spiegel-Autor Reinhard Mohr.
Von deutscher Freiheit und Souveränität handelte auch die Rede, die Martin Walsers zwischen Regierungsbildung und Regierungserklärung in der Paulskirche verlas.
Die stehenden Ovationen von 1.200 Zuhörern, darunter die höchsten Repräsentanten der Politik, der implizite Beifall Schröders, wie auch der explizite Naumanns und Herzogs sowie die tausendfach sich anschließenden Huldigungen an den Schriftsteller machen deutlich, daß sich in Walsers Text tatsächlich, wie Reinhard Mohr es formulierte, “ein Gefühl Bahn gebrochen hat, das nur noch ausgesprochen werden mußte.”
Es gab nur einen, der keinen Beifall leistete, sondern Prtest erhob. Dieser Protest blieb singulär. Nichts kennzeichnet deutlicher die veränderte Situation: Über Wochen hinweg war es einzig Ignatz Bubis, der gegen Walser als Opposition noch in Erscheinung trat.
Seinem Alarmruf “Geistige Brandstiftung!” folgte hier das feixende Ressentiment: Endlich hat der Kerl sich selbst überführt! – und dort die sentimentale Geste der Entmündigung: Wie soll er bei diesem Lebenslauf objektiv sein! Anhaltendes Schweigen hingegen bei Bündnisgrünen, Sozialdemokraten, “demokratischer Öffentlichkeit” und PDS.
Die Friedenspreisrede habe “eine Grundsatzdebatte der neuen Berliner Republik provoziert”, konstatiert nicht ohne Berechtigung die FAZ. “Die Debatte hat fast ahnungslos im Sommer mit dem von Michael Naumann hervorgerufenen Streit um das Holocaust-Mahnmal begonnen. Jetzt geht es im Kern um jene ,Normalität’, die der neue Bundeskanzler innen- und außenpolitisch reklamiert.” Schröder ist der einzige Regierungschef der Welt, der mit der Beteuerung, normal zu sein, hausieren geht. Schon deshalb, gilt als sicher, daß mit dieser “Normalität” etwas nicht stimmt. Ein Blick auf Walsers Texte bestätigt diesen Verdacht.

Der Dichter ….

“Ich liefere mich der Sprache aus, überlasse ihr die Zügel, egal wohin sie mich führe” – so hatte es der Friedenspreisträger in seiner Rede formuliert. Ignatz Bubis nahm diesen Gedanken auf: Wenn Walser seinen Antisemitismus formuliere, denke “es” in ihm, auch wenn er sich darüber nicht unbedingt bewußt sei. “Was” denkt im Unterbewußtsein des “Mediums” Walser und der ihm applaudierenden Öffentlichkeit? Und welchen Mustern der Abwehr werden die Zügel überlassen?

1. Muster: deutsche Wahrheit. Walser hatte aus der Zeitung erfahren, daß während des tagelangen Pogroms in Rostock-Lichtenhagen die “sympathisierende Bevölkerung vor brennenden Asylantenheimen Würstchenbuden aufstellt” und kommentiert diese Meldung so: Er jedenfalls könne derartige Sätze “einfach nicht glauben”. Es übersteige seine Phantasie, “das, was da gesagt wird, für wahr zu halten.” Hingegen stelle sich bei ihm eine Ahnung ein: “Die, die mit solchen Sätzen auftreten, wollen uns weh tun, weil sie finden, wir haben das verdient.” Walser hat hier ein Drehbuch erfunden und an die Stelle der Wahrheit gesetzt. Nur das wird als Wahrheit akzeptiert, was in seiner Wahrnehmungsdisposition sich einfügen läßt. Wer anders hinschaut, will den Deutschen wehtun und ist infolgedessen unser Feind.
Wahr ist nur, was ich sehen will: Dieses Wahrnehmungsmuster hat eine lange Tradition. Noch bevor 1918 die Tinte unter dem Vertrag von Brest-Litowsk getrocknet war – ein Vertrag, der auf deutsche Veranlassung das europäische Rußland zerlegte und durchgängig von der Formel “Wehe den Besiegten” durchdrungen war – begannen die Deutschen den weitaus milderen Versailler Vertag wahnhaft als das erniedrigenste und grausamste Diktat zu bejammern, das einem Land jemals auferlegt worden sei. Auch auf dieser Inszenierung baut Walsers Weltbild auf: Da Hitlerdeutschland, wie er betont, durch das “Versaillesdiktat” entstanden sei, sei “der zweite Krieg eine Folge des ersten gewesen. Aber der Sieger reagiert wieder nicht viel vernünftiger, als der zu Züchtigende war: Deutschland wird geteilt.” Und wer dies anders sieht, ist unser Feind.

2. Muster: Deutsche Kälte. Das eigentliche Opfer ist immer der Deutsche selbst. Ob verzückt oder schwermütig: Man redet über sich selbst. Das Fehlen eines Mitgefühls mit den Getöteten und Überlebenden des Holocaust, die Weigerung, auch nur bis zur äußersten Umgrenzung des Vernichtungslagers zu gehen und über den Zaun zu schauen, ist für die Walser-Debatte konstitutiv. Sind die Juden im Unterschied zu uns, ruft Walser in seinem FAZ-Gespräch mit Bubis aus, “nicht immerhin vor einem bewahrt geblieben, nämlich mitzumachen”? Und dann wollen sich diese Privilegierten auch noch über uns, die wir das Schlimmste durchmachen mußten, beschweren? Die egomanische Verstocktheit des ehemaligen Flakhelfers wurde auch an anderer Stelle offenbar. So trumpfte Walser gegenüber dem Auschwitz-Überlebenden Bubis auf: Er, der Schriftsteller, habe sich, “um überleben zu können”, bereits zu einem Zeitpunkt mit Auschwitz befasst, “da waren Sie Herr Bubis, noch mit ganz anderen Dingen beschäftigt”. Also halten Sie bitte gefälligst das Maul.

3. Muster: Deutscher Opfer- und Verfolgungswahn. Walser ist der typische “sie”-Mann: “Sie” halten ihm etwas vor, “sie” flüstern hinter seinem Rücken, “sie” sind die bösartigen Ränkeschmiede, die dafür sorgen, daß er nicht frei sprechen kann oder gar auswandern muß. Das Idiom des von allen Seiten verfolgten Märtyrers ist bei Walser zentral. Von einer ganzen Armee von “Meinungssoldaten”, die ihn, den Schriftsteller, “mit vorgehaltener Moralpistole in den Meinungsdienst nötigen” und Auschwitz als “jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule” mißbrauchen, fühlt Walser sich bedroht. Wahnhaft das Verbrechen auf die Juden und ihre Mittelsmänner projizierend, wird Auschwitz als eine Keule imaginiert, mit der man einen Deutschen, ja das ganze deutsche Volk “erschlagen” kann. Was sich in eindeutig betrügerischer Absicht als “Erinnerung an Auschwitz” ausgebe, fügte Ulrich Raulff, der verantwortliche FAZ-Feuilletonredakteur, hinzu, sei in Wirklichkeit nur eine “rhetorische Waffe, die offen herumliegt und von jedermann nach Belieben abgedrückt werden kann.” Der Jude macht mit dieser Waffe peng, und der Deutsche ist tot. In einer nicht minder pathologischen Phantasie eines Leserbriefschreibers an die FAZ wird die deutsche Tat “Auschwitz” mit einer Megaspinne gleichgesetzt, die es gezielt auf Deutschland abgesehen habe, “kreist doch Auschwitz um Deutschland und spinnt es gleichsam mit Fäden ein”.
Rudolf Augstein geht einen Schritt weiter und spricht offen aus, wer die Deutschen einkreisen und vernichten will: “Die New Yorker Presse und die Haifische im Anwaltsgewand”, kurz: jene “Stimmungsmache, der schon Konrad Adenauer Anfang der fünfziger Jahre mit dem Worten Ausdruck verliehen hatte: ,Das Weltjudentum ist eine jroße Macht.’” Bei Augstein wird, was auch immer passiert, in Bedrohungsphantasien integriert. “Man ahnt”, raunt Augstein über das projektierte Holocaust-Mahnmal in Berlin, “daß dieses Schandmal gegen … das sich neu formierende Deutschland gerichtet ist.” Es handele sich hierbei um “die von außen diktierte … Absage an die allmählich wiedergewonnene Souveränität unseres Landes.” Augstein revitalisiert hier die neurotische Vision einer Weltpresse, die von einem spinnenähnlichen Monster gegen Deutschland ins Feld geführt wird. Dies aber ist in der Tat der Stoff, aus dem die Nazi-Ideologie gemacht worden ist.

4. Muster: deutsche Abwehraggression. Walser bestätigt die Kernaussage des Sekundären Antisemitismus, wonach die Deutschen den Juden Auschwitz nie verzeihen werden. Ignatz Bubis wurde von ihm in dem von der FAZ arrangierten “Dialog” geradezu ins Kreuzverhör genommen, weil dieser 1992, während des mehrtägigen Pogroms, nach Rostock-Lichtenhagen geeilt war. “Wenn Sie dort auftauchen”, beschwerte sich Walser, “dann ist das sofort zurückgebunden an 1933”. “Nur hierzulande”, fährt Walser fort, würden Pogrome wie in Rostock-Lichtenhagen “zurückgebunden ans Nazitum. Und das können die Leute nicht mehr ertragen und das wollen sie nicht andauernd hören und darauf haben sie ein Recht.” Da mochte Bubis noch so sehr beteuern, den deutschen Vernichtungsrassismus niemals in einen Zusammenhang mit Auschwitz gebracht zu haben. Für Walser zählt nicht, was Bubis sagt, sondern was Bubis ist. Ein Jude. Und da uns jeder Jude an Auschwitz erinnert, soll er die Klappe halten, die Platte putzen und Orte, an denen der Mob pogromiert, gefälligst meiden. Das können die Deutschen “nicht mehr ertragen, darauf haben sie ein Recht.” Treitschkes Schlachtruf “Die Juden sind unser Unglück!” wird auf diese Weise paranoid aktualisiert. Der Jude ist dem deutschen “Glück”, da schon seine bloße Existenz an das singuläre Verbrechen erinnert, im Weg.

Es ist ein spezifischer und doch zugleich bekannter Blick auf die Welt und auf sich selbst, der sich in Walsers Klagegesang offenbart. Sein Aufbegehren gegen die “Moralkeule Auschwitz” ist durchzogen von den Denkmustern einer deutschen Ideologie, die der Nationalsozialismus nicht erfunden, sondern radikalisiert und praktisch umgesetzt hat: deutscher Opfermythus und die Falsifikation der Geschichte für den nationalistischen Zweck, die wahnhafte Vorstellung, von bösen Kräften verfolgt zu sein bei gleichzeitiger Unfähigkeit zur Empathie. Walsers Text bezeugt die Aktualität der 1959 von Horkheimer und Adorno formulierten Warnung: “Die Abwehr der Erinnerung an das Unsägliche, was geschah, bedient sich eben der Motive, welche es bereiten halfen.” (Horkheimer/Adorno)
Der Beifall für Walser beweist nicht nur, wie weitverbreitet das blinde Einverständnis mit derartigen Denkmustern ist. Wer sich nach seiner Rede als “befreit” bezeichnete, machte darüber hinaus deutlich, wie groß seine Sehnsucht nach einer Autorität gewesen ist, die jenen Mustern erneut öffentliche Legitimation verschafft.
Bisher hatte das öffentliche Erinnern an den Nationalsozialismus derartigen Legitimationsprozessen zuweilen noch eine heilsame Grenze gesetzt. Seit dem Antritt der rot-grünen Regierung ist es damit jedoch vorbei. Die von Gerhard Schröder reklamierte neue Unbefangenheit dient dem Ziel, die disziplierenden Wirkung der “Moralkeule Auschwitz” außer Kraft zu setzen.

... seine Verehrer

“Sich souveräner fühlen können” – mit dieser Ambition ist das Wesentliche des Wandels zwischen 1989 und 1998 benannt. Gewiß hatte der Abzug des letzten russischen Soldaten eine vollständige außenpolitische Handlungsfreiheit erbracht. In Bonn aber regierten noch die Repräsentanten der alten Bundesrepublik, die schon aufgrund der alliierten Vorbehaltsrechte zu einer Politik des Ausgleichs mit den jüdischen Gemeinden verpflichtet waren. Bereits kurz nach dem Mauerfall änderte sich jedoch der Stil. Der damalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Heinz Galinski, wurde offen brüskiert. Seinen Appell, zumindest eine Erwähnung von Auschwitz und der sich daraus ergebenden Verantwortung in die Präambel des deutsch-deutschen Einigungsvertrages aufzunehmen, wurde nicht einmal mit einer Antwort bedacht. Dennoch stellte man die auf Ausgleich bedachte Politik nicht grundsätzlich in Frage gestellt, wie die Parteinahme von Helmut Kohl für das Holocaust-Denkmal bewies. Diese Politik war eigennützig motiviert: Juden, die sich mit der deutschen Politik versöhnten, dienten nicht nur dem Ausland gegenüber als personifizierte Werbung für Deutschland, sondern fungierten zugleich als ein Aktivposten im deutschen Verdrängungshaushalt: Wenn selbst das Opfer der Deutschen sich mit der Täternation versöhnt, kann das Verbrechen so schrecklich oder irreparabel wohl nicht gewesen sein.
Auf beide Formen der Entlastung glaubt man seit 1998 verzichten zu können. Schon die Ablehnung des Holocaust-Denkmals im Bundestagswahlkampf der SPD kam einer Aufkündigung der auf Ausgleich mit den jüdischen Gemeinden bedachten Politik gleich. Michael Naumann, treibende Kraft dieser Entwicklung, wurde auch von den Bündenisgrünen nicht kritisiert, sondern hofiert. Bereits vor der Bundestagswahl hatte rot-grün die Politik des Bundeskanzlers erinnerungspolitisch rechts überholt.
Seither ist “die Links-rechts-Mechanik, die das Getriebe der Erinnerungspolitik bildete … außer Kraft gesetzt”, meldete triumphierend die taz. “Auf diesem Feld der Ideologien und Geschichtsbilder… sind die alten Scheide- und Frontlinien tatsächlich verschwunden”, bestätigte anerkennend auch die FAZ.
Stattdessen entwickelte sich ein nationales Bewußtsein und ein Begriff von Normalität, der die unangenehmen Realitäten der Geschichte a priori auszublenden sucht. Sein spezifischer Charakter wird erkenntlich, wenn man ihn mit dem Normalitätsverständnis des israelischen Historikers Saul Friedländer konfrontiert: “Warum sollte nicht eine vollkommen normale Gesellschaft eingedenk dieser ganz ungewöhnlichen Vergangenheit zunächst und vor allem die Opfer ihrer eigenen Politik betrauern?”
In erster Linie die Opfer der eigenen Politik betrauern? Wenn es diese Form der Normalität wäre, die die rot-grüne Regierung für sich in Anspruch nimmt, hätte Walsers Rede Abscheu statt Beifall und Empörung statt Verehrung provozieren müssen.
Das rot-grüne Verständnis von Normalität hat hiermit nichts zu tun, weil das Fortwirken der Geschichte in der Gegenwart ausgeblendet bleibt. Geschichte aber kehrt, je heftiger sie abgewiesen wird, desto traumverlorener zurück. Die Weigerung, dies zu sehen, verleiht der selbstbewußten Attitüde der neuen Regierung eine irrationale Tönung und der beschworenen Normalität den Charakter einer Inszenierung. So wird, wer genau hinsieht, mit einer untergründigen Gegenwärtigkeit des Holocaust beinahe täglich konfrontiert. Vergasungsphantasien sind ein Kernbestandteil des deutschen Unterbewußtseins und Auschwitz-Drohungen, etwa in Fußballstadien, an der Tagesordnung. Dadurch, daß selbst jede Ahnung eines Zusammenhangs mit der Leiche im Keller, die Auschwitz heißt, unterdrückt, aggressiv zurückgewiesen und tabuisiert wird, wird die Verbindung zwischen dem Verbrechen und seiner Spätwirkung jedoch keineswegs unterbrochen, sondern verstärkt.
Da mag die doppelte Staatsbürgerschaft bürokratisch noch so perfekt vorbereitet sein:
Der neuen Regierung, die so emsig bemüht ist, sich von den Folgen der Nazi-Zeit zu erlösen, wird es dennoch wie dem Kind ergehen, das zu spät in die Schule kam und dem Glatteis die Schuld daran gab: Bei jedem Schritt vorwärts sei es zwei Schritte zurückgerutscht. “Wie bist du dann überhaupt hergekommen?”, fragte der Lehrer. “Ganz einfach: ich gab es auf und versuchte nur noch, nach Hause zurück zu gehen.” Wer vom deutschen “zu Hause”, von Auschwitz also, mit sinnloser Kraft fortkommen will, fällt bei jedem Schritt “vorwärts” zwei Schritte zurück, während nur das umgekehrte Verfahren – der eigenständige Schritt “nach Hause” – die Chance eröffnet, real einen Schritt nach vorn zu tun.
Wenn dies keine makabre Pointe ist: Das erste rot-grüne Regierungsbündnis hat damit begonnen, die Geschichtsvergessenheit und die sekundär-antisemitische Intention aller anderen bisherigen BRD-Regierungen zu überbieten. Ein Kompliment für die Qualität der Auseinandersetzung der deutschen Linken mit der Vernichtungspolitik der eigenen Vorfahren ist dies nicht.

.... und die Widersacher

Wenn der Blick zurück tabuisiert wird, ist es mit der Rück-Sicht ebenfalls vorbei: Die Juden in Deutschland sind die ersten, die die Folgen des neuen Kurses zu spüren bekommen, stellen doch gerade sie für die ersehnte “Unbefangenheit” eine Bedrohung dar. Naumann kanzelt den Auschwitz-Überlebenden Ignatz Bubis als “unfair” und “zutiefst ungerecht” ab. Gerhard Schröder plädiert in der Talkshow auf SAT 1 für ein Holocaust-Mahnmal, zu dem die Menschen “gerne” gehen. Weil sie in den Vergasungen eine Quelle deutscher Allmachtsphantasien vermuten, denen man “gerne” frönt?

In Kontext dieser Kontroverse wurde die traditionelle Rolle der Juden in Deutschland als eine zu beachtende moralische Instanz mit perfiden Konstruktionen delegitimiert. Ein Beispiel mag an dieser Stelle genügen:
Bubis’ Anteil am Holocaust, behauptete Klaus von Dohnanyi sei “nicht größer und nicht kleiner als derjenige der heute bald sechzigjährigen nichtjüdischen Deutschen, die nach Adolf Hitlers Tod geboren wurden.” Auf diesen Gedanken muß ein Mensch erst einmal kommen. Seine Botschaft lautet: Die Juden sollen doch bitte ihre Klappe halten, anstatt uns als moralische Instanz weiterhin auf den Wecker zu gehen.
Einer jungen Studentin namens Kathi-Gesa Klafte hatte Dohnanyi mit diesen Worten “aus der Seele” gesprochen. Ihre Stellungnahme hat der “Spiegel” unter der Überschrift “Eine deutsche Studentin wehrt sich gegen Schuldzuweisung” publiziert. Dies Papier ist ein Dokument der Abwehraggression: “Den Antisemitismus schürt, wer die angeblichen Unterschiede zwischen ,den Deutschen’ und ,den Juden’ ständig herbeiredet”, heißt es dort. Wenn sich die Juden weiterhin “anmaßen, ... Vorwürfe machen zu dürfen”, sind sie es, die ”,die neue Judenfeindlichkeit’ herbeireden und niemand sonst.” (Spiegel 53/9)
Der Fluch über die “Anmaßung” der Juden kennzeichnet nicht nur die antisemitisch durchtränkte Atmosphäre, die in der Folge des Walser-Papiers entstand. Er ist zugleich unausgesprochener Bestandteil einer Regierungspolitik, die an die Vergangenheit nicht länger erinnert werden will. Dies aber ist das Motiv, das dem Sekundären Antisemitismus zugrundeliegt.
Was immer diese Regierung an guten und weniger guten Reformprojekten auf die Wege leiten wird: Der Erdrutsch, den ihre fatal-deutsche Vergangenheitspolitik ausgelöst hat, wird nicht wieder aufzuhalten sein. Er hat binnen weniger Wochen dafür gesorgt, den Sekundären Antisemitismus wenn nicht zum Regierungsprogramm, so doch zur diskursbeherrschenden Ideologie zu erheben.

Unkontrollierbar und irreversibel wurde der deutsche Antisemitismus potenziert. Hiergegen hatten die jüdischen Gemeinden keine Chance: Ohne Bubis’ Gegenwehr hätten Walsers Tiraden einen neuen antisemitischen Konsens unbemerkt konturiert. Doch auch seine Gegenwehr feuerte den deutschen Antisemitismus zwangläufig mit an.
Der unversöhnliche Jude, für den Bubis über einen Zeitraum hinweg gehalten wurde, nur weil er dem common sense widersprach, ist Haßobjekt per excellence: Er “wird ein Monument und Denkmal des Tatbestandes, daß der Greuel nicht ungeschehen und der Schaden nicht eingegrenzt werden kann”, hat der US-amerikanische Psychiater Dori Laub erklärt.”Diese Haltung stellt ein widerspenstiges Hindernis gegenüber jeder hochfliegenden Entschädigungsphantasie dar, die der Täter haben könnte, um seine Seelenruhe aufrechterhalten zu können. Das unversöhnliche, rächende Opfer muß aus dem Gesichtsfeld entfernt werden, sei es durch schiere Nichtbeachtung oder, falls notwendig, durch aktive Elimination.”(1)

1) vgl. Dr. Dori Laub. Yale University, German Testimony Work, July 1997, ich danke Brigitta Huhnke für die Zurverfügungstellung des noch unveröffentlichtes Manuskript und Frank Behn für Anregung und Kritik.

(aus: konkret 2/1999)