Moltkes Rückkehr

Über die Rolle von Generalinspekteur Klaus Naumann bei der Neuformierung der Bundeswehr

Von Matthias Küntzel

konkret, August 1993

Der Chef des deutschen Generalstabs hat sich 1993 eine Blöße gegeben, die über den ideologischen Standort der Bundeswehrführung mehr verrät, als dem Verteidigungsminister lieb sein kann. Endlich erlebe man das Ende einer Zeit, frohlockte er vor Generalstabsoffizieren, die nicht 1945 oder 1917 begonnen habe, sondern: “Zu Ende geht eine Periode, die in der Französischen Revolution 1789 ihren Anfang hatte. ... Sie geht zu Ende, weil Ideologien, die nur leben können, wo sie mit der Mischung von Lüge und Wahrheit arbeiten können, in einer durch moderne Kommunikation vernetzten Welt keinen Platz mehr haben.”

Der postmodern intonierte Abgesang auf 1789ff kann seine Nähe zu der prämodernen Ideologie nicht verbergen, die deutsche Soldaten 1870, 1914 und 1940 gen Paris getrieben und immer gegenüberstellt hatte: Dort den egalitären Universalismus der bürgerlichen Revolution, mit der das Unheil seinen Anfang genommen habe. Hier das deutsche völkische Prinzip, welches der Geschichte durch Beseitigung der “Ideen von 1789” zu ihrem Recht verhülfe. Dort der oberflächliche Rationalismus der “Westmächte”, hier die gemüthafte Tiefe deutscher Kultur. Dort also der “Ausländer” und hier Wolfgang Schäuble, der erklärt: “Wir schöpfen unsere Identität nicht aus dem Bekenntnis zu einer Idee, sondern aus der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Volk.”

Der Soldat, der das Zeitalter der bürgerlichen Revolution zu Grabe tragen will, heißt Klaus Naumann. Er ist Generalinspekteur der Bundeswehr und damit de facto Chef des neuen deutschen Generalstabs, wie er selbst gerne betont. Naumann ist die treibende Kraft hinter Rühes neuer Reichswehr, die er nach eigenem preußischen Vorbild formt.
Unter dem Eindruck der Budapester Ereignisse von 1956 hatte er, Jahrgang 1939, den, wie er sagt, “sittlichen Entschluß” gefaßt, Berufssoldat zu werden. 1986 wurde er Planungschef des Bonner Führungsstabs der Streitkräfte, kurz darauf des Kanzlers engster Militärberater. Als “note-taker” war Naumann dabei, als Gorbatschow und Kohl in “Vier-Augen-Gesprächen” die deutsche Einheit besiegelten. Auf seine Einflüsterungen soll der damals gegen Genscher durchgesetzte Plan zurückgegangen sein, Ostdeutschland dem Schutz der NATO, die dort stationierten Soldaten jedoch einem nationalen deutschen Oberkommando zu unterstellen. Kohl persönlich hatte später in einer “reichlich schroffen” Intervention gegen die Personalplanung der Hardthöhe die Ernennung von Naumann zum ersten Generalinspekteur der vereinten Nation durchgesetzt. “Jetzt wird es ungemütlich in der Bundewehr”, soll am 1.8.1991 bei der Amtsübergabe-Zeremonie ein General gestöhnt haben. In der Tat. Der Münchener ist der erste Generalinspekteur, dem selbst die Zeit “das Zeug zum Fanatiker” attestiert.

Naumann gehört zu jenem Typ von Offizier, der die Kleiderordnung seiner Männer im Manövergebiet morgens um vier persönlich zu überprüft. “Ihm scheint nichts zu viel zu werden”, schreibt die Zeit, “und das erwartete er auch von anderen, die mit ihm dienen.” Feldverpflegung und soldatische Gemeinschaft hat dieser Mann auch dann im Sinn, wenn das bürgerliche Deutschland sein Familienfest begeht.
Heiligabend 1991: Familienvater Naumann zieht es zu den wachhabenden Unteroffizieren an den vorgeschobensten Posten der Bundeswehr, dem Panzerstützpunkt Engersin an der polnischen Grenze. Der sentimentale Mythos wird im Folgejahr dupliziert. Advent 1992: Klaus Naumann reist zur Weihnachtsfeier, welche die Soldaten der “Maultier-Kompanie der Gebirgsjägerbrigade 23” bei ihren 130 Mulis im Stall veranstalten. Mit ihm die Generalstabschefs der Neun an Deutschland grenzenden Staaten, die sich eingedenk der neuen Machtverhältnisse in Europa genötigt sehen, der Einladung ihres übergeschnappten Kollegen zur “Stall-Weihnacht” Folge zu leisten. Heiligabend 1992: Klaus Naumann bei einer Dienstpremiere in Kambodscha. “Zum erstenmal seit 1944 verbringen deutsche Soldaten im Einsatz das Weihnachtsfest draußen im Felde”, erklärt er vor seiner Abreise nach Pnom Phen. Ob die nächste Bescherung noch am Horn von Afrika stattfinden wird, oder schon in Moldawien, ist noch offen. Dem General ist im Moment nicht die Geographie wesentlich, sondern der Gestus: Egalität der Uniformen, Gemeinschaft des Führers mit seinen Soldaten, dankbare Pflichterfüllung und freudig ertragene Entbehrung sind ihm Voraussetzung für einen deutschen Sieg. “Ich bin ein Gewissenstäter”, bekannte er freimütig und fuhr fort: “Für den Binnenbetrieb möchte ich einen Slogan finden, der der Bundeswehr eine Siegermentalität gibt. Das, was die Amerikaner nach dem Trauma des Vietnam-Kriegs mit der Begriff der ,Army of Excellence’ nach vorne gerissen hat – so etwas ähnliches müßten wir erfinden.”

Nach vorne gerissen hat Naumann die Rekrutenschinderei. Die Vorgesetzen aller Dienstgrade werden von ihm angehalten, “die Denkmuster der Vergangenheit zu überwinden”. Diese Aufforderung zielt nicht auf den Mustersoldaten, der für seine schwarzen Kumpel von Belet Huen medienstark nach Wasser gräbt und als Blauhelmengel kambodschanische Kinder mit Heftpflaster versorgt. Überwunden werden soll, was die Kriegsführung hemmt: “Speck und Rost”, “Bequemlichkeit und Routine”, “Weinerlichkeit und Verzagtheit”. Und wer im neuen Preußen nicht sputet, fliegt raus: “Offiziere, die an Privilegien mehr denken, als an Pflichterfüllung, sollen die Bundeswehr verlassen.” Entsprechend seiner Vorgabe “hart, fordernd und kriegsnah” werden erstmals ab Herbst 1993 neue Ausbildungsrichtlinien umgesetzt. Der im Frühjahr dieses Jahres verabschiedete Erlaß über die “Innere Führung” gibt Auskunft: “Die Soldaten sind auf den Einsatzfall so realistisch wie irgend möglich vorzubereiten”. Das meint: “Heranführen an die physische und psychische Leistungsgrenze”; “Erleben des Waffeneinsatzes in der Duellsituation”; “Härte und Entbehrungen bis an die Grenze der eigenen Leistungsfähigkeit”.

Naumann ist moderner Preuße. Er wirbt für mehr “Dienst- und Opferbereitschaft in unserer Gesellschaft”. Und er mobilisiert mit seiner Aufforderung, der erste tote Soldat solle “bei uns nicht zu Streit führen, sondern uns in der Gemeinsamkeit von Trauer, Mitgefühl und Respekt einen”, schon heute für den nationalistischen Tag X. Zugleich ist er der erste deutsche General, der an der Nationalen Verteidigungsakademie Israels einen Vortrag hält, in der Gedenkstätte Yad Vashem – in vollem Wix – einen Kranz niederlegt und seinen Truppenführern zuhause einen Appell “zur Vorbeugung von Ausländerfeindlichkeit und Radikalismus in der Bundeswehr” präsentiert. Blinder Gehorsam und politischer Diskurs bilden für ihn eine Einheit. Ihm soll der deutsche Soldat nicht nur Befehlsempfänger, sondern zugleich Überzeugungstäter sein. Nicht “Fremdenhaß” soll unsere Rekruten zu Mördern machen, sondern “ihr Wissen um die Notwendigkeit des Auftrags”. Sie sollen nicht einfach so für ihr Vaterland sterben, sondern “im Rahmen ihrer staatsbürgerlichen Verantwortung”. Weil Naumann also diskussionfreudig ist sowie “brilliant im Vortrag, leise im Ton” (Die Woche) wurde er in Bissingers Wochenzeitung als “General Querulant” ausgesprochen liebevoll portraitiert.
Seine Brillianz hatte er mit einem Slogan unter Beweis gestellt, der wie kein anderer dazu beigetragen hat, die liberale Journaille mit der neuen “Siegermentalität” zu versöhnen. Gemeint ist der Satz von der “Re-Nationalisierung” deutscher Sicherheitspolitik, die angeblich drohe, falls Deutschland sich in Jugoslawien, Somalia oder Ungarn nicht engagiert.

Ebenso perfide wie perfekt hat Naumann in diesem Wort den Inhalt seiner Tätigkeit – die Re-Nationalisierung deutscher Kriegspolitik – in sein Gegenteil verkehrt: – Die “nationale Führungsfähigkeit” der Bundeswehr hat er auf allen Ebenen wiederhergestellt. So hat man für die Armee eine vollständige nationale Kommandostruktur mit Hauptquartier in Koblenz und den Kommandoposten Nord (Münster), Süd (Ulm) und Osten (Potsdam) etabliert und an der Spitze der Hardthöhe einen “Führungsrat” unter Einschluß des Generalstabschefs aufgebaut. – Der Charakter der deutschen NATO- und WEU-Mitgliedschaft wurde grundlegend verändert: War in der Vergangenheit die Bundeswehr eine Funktion der NATO, verhält es sich im Selbstverständnis der Hardthöhe heute umgekehrt. Der Wert der Bündnisse wird danach bemessen, ob sie für “deutschen Wertvorstellungen und Interessen” (so die neue Bundeswehr-Richtlinie) instrumentierbar sind oder nicht. Wenn ihre Existenz noch verteidigt wird, dann deshalb, weil das Kräfteverhältnis eine andere Option jetzt und in absehbarer Zukunft nicht erlaubt. Man wolle vorläufig festhalten an der “Bündnisbindung an die Nuklear- und Seemächte der Nordatlantischen Allianz” heißt es in der neuen Richtlinie, “da (sprich: solange) sich Deutschland als Nichtnuklearmacht und kontinetale Mittelmacht mit weltweiten Interessen allein nicht behaupten kann.” – Neu durchgesetzt hat Naumann für die Bundeswehr eine Offensivstrategie, die der General als “Strategie aktiv ordnender, nicht reaktiver Konfliktverhinderung” bzw. als “ganzheitlichen Ansatz von Schützen und Gestalten” und als “Lehre aus der Tragödie von Bosnien” zu verkaufen versteht. Der darin erfahrene CDU-Politiker Alfred Dregger brachte die dahinterstehende Überlegung auf den Punkt: Man müsse “zur rechtzeitigen Intervention in einer friedensgefährdenden Krise” und “zu einer strategischen Gegenkonzentration in der Lage sein, noch bevor die Krise in eine bewaffnete Auseinandersetzung mündet.” – “Zukünftig muß militärisches Krisen- und Konfliktmanagement im erweiterten geographischen Umfeld” erfolgen, schreibt die Richtlinie und meint: global. Insbesondere im Hinblick auf die osteuropäische Krisenregion “drängt Kohl darauf, der Bundeswehr Kampfeinsätze zu ermöglichen. Sie sollen dabeisein können, falls sich demnächst die Nato im Uno-Auftrag im Osten zwischen die Fronten wirft”, hieß es im Spiegel, wobei hinter dem “zwischen” wohl ein Fragezeichen gesetzt werden darf: In der als deutsche Einflußzone betrachteten Region werden “unparteiliche” Bundeswehreinsätze nicht möglich sein.

Was aber, wenn man den General und seinen neuen Streitkräfte mit der wesentlichsten, der NS-Frage, konfrontiert?
Deutsche Normalität: Ein Generalstabschef bringt es fertig,
a) Bundeswehr-Hilfseinsätze in der GUS durch uniformierten Soldaten damit zu begründen, daß hierdurch “Erinnerungen an frühere deutsche Uniformen in den Hirnen der sowjetischen Menschen gelöscht” werden könnten;
b) vor der israelischen Gedenkstätte Yad Vashem sein Haupt in Erinnerung an frühere deutsche Uniformen zu beugen,
c) seine Verbundenheit mit eben jenen Uniformen durch Teilnahme an einem Treffen von Bundeswehr-Einheiten mit ehemaligen Gebirgsjägern der Wehrmacht unter Beweis zu stellen um gleichzeitig
d) den Rechtsradikalimus in der Bundeswehr, dem diese Uniform Programm ist, an den Pranger zu stellen.
Deutsche Normalität: Bekanntlich hat die deutsche Wehrmacht allein in Jugoslawien mehrere Zehntausend Männer unter dem Vorwand der Sühne an die Wand gestellt und deren Frauen, Kinder, sowie Greise durch Gaswagen ermorden lassen. Entsprechende Wehrmachtsberichte (“Das Ausheben der Gruben nimmt den größten Teil der Zeit in Anspruch, während das Erschießen selbst sehr schnell geht – 100 Mann, 40 Minuten.”) liegen vor. Zu einer “Bewertung” der Taten der Wehrmacht sehe man sich aber “noch nicht” in der Lage, heißt es in der vor wenigen Wochen verabschiedeten neuen Dienstvorschrift über die “Innere Führung”:

“3. Richtlinien für die Tradition stehen in enger Beziehung zu den Grundlagen und Grundsätzen der Inneren Führung. Zum Zeitpunkt des Erlasses dieser Dienstvorschrift ist die Bestandsaufnahme und Bewertung wesentlicher Teile der jüngeren deutschen Geschichte noch nicht abgeschlossen. Unstrittig ist jedoch, daß die mit der Vereinigung Deutschlands aufgelöste Nationale Volksarmee wegen ihres Charakters als Partei- und Klassenarmee eines kommunistischen Systems keine Tradition für die Bundeswehr stiften kann.”

Hinter diesen Sätzen steht das Bemühen um eine Neubewertung der Nazi-Armee, welche die in der alten Bundesrepublik noch für notwendig gehaltene Abgrenzung überwindet. Der ursprünglich vorgelegte Entwurf für einen Traditionserlaß war von Naumann zurückgezogen worden. Nicht wegen der in ihm enthaltenen Passage, in der es über die NS-Jahre heißt, daß “soldatische Haltung von Soldaten und Truppenteilen, die in dieser Zeit ehrenhaft gehandelt und tapfer gekämpft haben, die Achtung und den Respekt der Bundeswehr (verdienen)”. Sondern weil man darin an anderer Stelle “eine Bindung der Tradition der Bundeswehr an die Wehrmacht als Institution” weiterhin abgelehnt hatte. Auf eben diese Bindung zwischen Wehrmacht und Bundeswehrmacht wollen Naumann, will die Bundesregierung nicht länger verzichten. Da heute als Ausbildungsziel das kriegstüchtige Heer vorgegeben sei, müsse “das Studium der Feldzüge des Zweiten Weltkrieges zum Selbstverständnis der Mehrzahl der Offiziere gehören”, schreibt die bundeswehrnahe Zeitschrift “Europäische Sicherheit”. Voraussetzung dafür aber sei, “zu einem fairen Miteinander mit der Generation unserer Väter und Großväter” zu finden, “wie es in anderen Nationen eine Selbstverständlichkeit ist.” Die Bundeswehr dürfe sich nicht “von den Wurzeln (lösen), die ihre aus der Wehrmacht hervorgegangenen Gründer mit Sorgfalt und vorbildlichem persönlichem Engagement in den Boden gesenkt haben, denn es handelt sich dabei zugleich um die Wurzeln, die sehr viel tiefer in die Vergangenheit deutscher Geschichte und Militärgeschichte hinabreichen.” (Europäische Sicherheit 2/92)

Die neubeschworene Siegermentalität der Bundeswehr hat ihre Wurzeln in der Vergangenheit der deutschen Militärgeschichte, die nicht nur von Hitler und Keitel oder Wilhelm II und Moltke dem Jüngeren geschrieben wurde, sondern auch von Bismarck und dessen Generalfeldmarschall von Moltke, die gegenüber den Erstgenannten den Vorzug aufweisen, für Deutschland nicht nur gekämpft, sondern auch gesiegt zu haben. Moltke, der preußische Generalstabschef, hatte als Sieger von Königgrätz und Sedan den Aufstieg Deutschlands zur europäischen Kontinentalmacht erst möglich gemacht. 1870/71 hatte er mit dem preußischen “Erbfeind” zugleich die “Ideen von 1789” besiegt und dafür gesorgt, daß im Spiegelsaal von Versailles das Deutsche Reich proklamiert werden konnte, welche unmittelbar darauf in Aktion trat: Als erste Maßnahme wurde gemeinsam mit Thiers in dem von Moltke empfohlenen “Blutbade in Paris” die Kommune vernichtet.
“Zuende geht eine Periode, die in der Französischen Revolution 1789 ihren Anfang hatte.” Ist es nur Zufall, daß sich Klaus Naumann sein Bonner Dienstzimmer mit einem großen, goldgerahmten Bild geschmückt hat, das den Frankreich-Hasser Helmuth Graf von Moltke beim Kartenstudium in Versailles zeigt?

Während der 40-jährigen Periode, die dem Mauerfall vorausgegangen war, hatten die Deutschen, so Michael Stürmer, “Ferien von der Geschichte” gemacht. Heute ist der Urlaub vorbei, Geschichte wird wieder virulent. Solange die Siegermächte des Zweiten Weltkrieges den Deutschen auf den Füßen standen und die Blockkonfrontation die Aufmerksamkeiten in Anspruch nahm, hatte man die großen Streitpunkte innerhalb der bürgerlichen Ideologie auf Eis gelegt. Heute brechen sie wieder auf. Der Haß der rechten Intelligenz, der in den letzten Jahren im Blockgegner seinen Angriffspunkt hatte, ist dabei, seinen lange verdrängten historischen Gegenpol neu zu entdecken: Die Versprechungen der Französischen Revolution. Nicht die Tatsache der Nichteinlösung von “Freiheit Gleichheit Brüderlichkeit” wird kritisiert, sondern die Parole selbst. Nicht ihre Realisierung wird gefordert, sondern ihre Beseitigung propagiert. Dies ist der Kontext der Naumann’schen Diktion. Das Wort des Generalstabschefs über das Ende von 1789 signalisiert, daß Deutschland “zur Normalität” auch ideologisch zurückzukehren im Begriff ist, nicht nur im Feuilleton.
Fichtes “Reden an die Nation”, mit denen jener im 19. Jahrhundert deutsche Machtvergessenheit an den Pranger gestellt hatte, klingen verdächtig aktuell. In die “Tiefe” des deutschen Nationalcharakters hatte Fichte die positiven Kontrasteigenschaften des verachteten Zeitalters der “Selbstsucht”, wofür ihm die Revolution von 1789 stand, projiziert. Abgerechnet hatte er mit jener “weichlichen Führung der Zügel des Staates, die mit ausländischen Worten sich Humanität, Liberalität und Popularität nennt, die aber richtiger in deutscher Sprache Schlaffheit und ein Betragen ohne Würde zu nennen ist.” Nach der Niederschlagung Frankreichs begannen die deutschen Gründerjahre und vier Jahrzehnte “heillosen Friedens”. Als erneut Blei in der Luft lag, geriet u.a. auch Friedrich Naumann, nach dem die FDP ihre Stifung benennt, über Bismarcks Feldzug und die “Befreiung Mitteleuropas von Frankreich” ins Schwärmen. “Es waren wunderbare Tage, in denen Nord- und Süddeutschland gemeinsam über Frankreich siegten, das war die Überwindung jeder westlichen Vormundschaft, das Wagnis, frei zu sein nach einem halben Jahrtausend verwickelter Abhängigkeiten.” In den “Ideen von 1914”, den “Ideen von 1789” gegenübergestellt, wurde die deutsche Ideologie aktualisiert. Der Krieg sollte nicht schnöder Interessen wegen geführt werden, sondern erhielt, so Fritz Fischer, “eine höhere, schicksalhafte Notwendigkeit, die in der Gegensätzlichkeit deutschen Geistes, deutscher Kultur und deutschen Staatslebens zu den entsprechenden Lebenfsormen des feindlichen Auslandes begründet war.”

“Zuende geht eine Periode, die in der Französischen Revolution 1789 ihren Anfang hatte.” Während der Generalstabchef sich von der Aufklärung verabschiedet, hört man sie wieder trapsen, die “Ideen von 1914”. Nicht nur bei Botho Strauß, Michael Stürmer oder der Dönhoff, sondern auffällig deutlich in einer Partei, die den Jahrestag der deutschen Einheit in ihrem Namen trägt. Lukas Beckmann, der Geschäftsführer vom Bündnis 90/Die Grünen, verficht deutsches Prinzip gegen den Rest der Welt, wenn er mit Waffenlieferungen “das Recht auf die Würde der Selbstverteidigung” in Bosnien-Herzegowina wiederherstellen will, während demgegenüber die kriminelle Gemeinschaft der Vereinten Nationen “objektiv Beihilfe zum Völkermord” leiste und verantwortungslose EG-Führer “das Ende der Weiterentwicklung Europas zu einer Wertegemeinschaft” besiegelten. “Dieser Krieg muß uns als Erzieher zu einem neuen sittlich-universalen Kulturgedanken dienen”, schrieb Paul Rohrbach 1915, was sein Adept, Achim Schmillen vom Bündnis 90, in der taz nur repetiert, wenn er “Krieg” als “ein existentielles Phänomen der Kulturentwicklung” abfeiert, dessen “gestaltende Kraft für die Beförderung von Zusammengehörigkeitsgefühl, gemeinsamen Werten und ethno-kultureller Identität” eine “unvoreingenommene Neuannäherung” heute notwendig mache. “Wir sind von der Geschichte dazu bestimmt”, rief Rohrbach 1915 seinem Publikum zu, “eine neue Form in der politischen Organisation der Völker, zugleich aber auch ein neues staatlich-sittliches Kulturprinzip zu schaffen.” Soviel weiß auch der Ideologe Udo Knapp: Deutschland sei das Land, erklärte er vor grünem Publikum, “das beispielhaft Politik für andere Länder macht.” Und weil die Position der Menschenrechte maßgeblich von Grünen angestoßen worden sei”, müßten heute gerade die Grünen “Ja zu Deutschland sagen, mit allen Konsequenzen!”. Als ein von der Aufklärung enttäuschter Mensch erhebt Knapp die Anti-Aufklärung zur Religion, wenn er in einer Polemik gegen H.E. Richter die “Wahrheiten des Menschseins jenseits aller Vernunft” anpreist, um ihnen jene “sauer aufgeplustete Moral” gegenüberzustellen, “aus der der Welt Frieden und soziales Glück in den Schoß fallen soll.” Daran, daß Knapp im selbigen Beitrag von “planetarischen Zwängen der Zivilisation” phantasiert, die gegen regionale Interessen unversöhnlich stünden, wird zugleich deutlich, daß auch das universelle Prinzip der Menschenrechte für einen ganzen Sack deutscher Interventionen den Vorwand abzugeben vermag – an der Seite einer französischen oder auch us-amerikanischen Bourgeoisie. Während diese Option immer realistischer wird, wächst in dem fruchtbaren gebliebenen Schoß der “zur Familie zurückgekehrten” Nation wieder das Neue, welches das Alte ist.

(aus: konkret, 8/1993; Nachdruck auf Englisch unter dem Titel The jackboot tramps again in: Searchlight, Dezember 1993)