La fontaine nucleaire

Über Oskar Lafontaines Version einer europäisierten Force de Frappe

Von Matthias Küntzel

konkret, Februar 1996

Schäuble schmunzelte, die Opposition machte auf Kohl. In allen Grundfragen der deutschen Außenpolitik sei er mit der Bundesregierung einig, hatte Scharping 1994 erklärt. 1995 reihte sich der Parteichef der Grünen ein. Zwischen der demokratischen Linken und der demokratischen Rechten, so Fischer, gebe es über die Grundzüge der deutschen Außenpolitik keinitik überhaupt keine Differenz.
Und nun Oskar Lafontaine. “In der Außenpolitik, zumal in der Ablehnung deutscher Militäreinsätze ist er Überzeugungs-Nichttäter geblieben”, kommentierte wohlwollend die “Süddeutsche Zeitung”, sekundiert von “konkret” und “Junge Welt”, die davon sprachen, “daß Lafontaine als Linker gewählt wurde”, “als einer der wenigen exponierten Politiker gegen eine militarisierte deutsche Außenpolitik ein(stehe)” und somit “seiner eigenen Geschichte treu” geblieben sei.
Dürfen wir uns also auf ein – zumindest gut inszeniertes – Oppositionsspektakel einstellen, das zu goutieren uns Jürgen Elsässer vorausblickend empfahl? Wird 1996 die “Kommission Außenpolitik”, die Lafontaine bis Februar dieses Jahres beim SPD-Parteivorstand eingerichtet haben will, für Stimmung, Stunk und Stolpersteine sorgen? Seiner eigenen Geschichte ist sich der SPD-Chef in der Tat durchaus treu geblieben. Aber auf eine andere Weise, als es der “Junge Welt”-Kommentator erhofft.

In den frühen 80ern hatte sich Lafontaine als eloquentester Kämpfer gegen die NATO-Nachrüstung profiliert und innerparteilich den Atomraketen-Befürworter Helmut Schmidt äußerst erfolgreich isoliert. Schon damals war seine Kritik an den Atomwaffen aber in erster Linie eine Kritik an der Hegemonie der USA. Nicht zufällig stieß seine Forderung, Deutschland solle wie Frankreich die Militärstruktur der NATO verlassen, in der Friedensbewegung auf Sympathie. Seine Anlehnung an die gaullistische Position hatte den nationalistischen Impuls dieser Bewegung sowohl aufgegriffen, wie auch verstärkt. Zwar hatte dieses Land und sozialdemokratischer Führung die Pershing II-Aufrüstung maßgeblich initiiert. Dem SPD-Aufsteiger und seinen Gefolgschaften war dennoch die BRD nur die “vorgeschobene Atomrampe einer Supermacht” und Deutschland der “atomare Schießplatz” der USA und der UdSSR. Die beiden Großmächte mit ihren finsteren Ambitionen hatte Lafontaine zum Problem, die Emanzipation und Selbstbehauptung Europas hingegen zur Lösung erklärt.
Seinen Euro-Chauvinismus hatte der progressive Saarländer antiamerikanisch begründet, zugleich aber mit einer antinationalen Rhetorik garniert, in welcher der überholten Idee des Nationalstaats die “Europäisierung Europas” als die fortschrittliche Alternative gegenübergestellt worden war. Sein flotter Internationalismus (“Was verstehen Sie unter Vaterland?” Lafontaine: “Da müssen Sie Kohl fragen.”) kam in der Linken immer schon gut: 1989/90, als er als Kanzlerkandidat der Vereinigungseuphorie widersprach, 1995 als er in Mannheim mit seiner verquasten Berufung auf die “Internationale” und Schiller’s Ode an die Freude (“Alle Menschen werden Brüder”) den DM-Nationalismus seines Hannoveraner Kollegen untergrub.
Schon 1983 hatte sich seine Kritik am souveränen Nationalstaat jedoch als die Kritik an der nationalen Verfügungsgewalt über Atomwaffen entpuppt: “Wenn technisches Gerät in seiner Auswirkung den ganzen Erdball in Mitleidenschaft zieht, dann kann dieses technische Gerät nicht in der alleinigen Verfügung eines souveränen Staates bleiben”, hatte er 1983 in seinem Buch Angst vor den Freunden formuliert.
Hier deutete sich bereits an, was unter dem Lafontain’schen Internationalismus zu verstehen ist: Die Melange aus Euro-Nationalismus und deutschem Machtanspruch in einem progressiv erscheinenden Gewand. In seinem 1988 erschienene Buch Die Gesellschaft der Zukunft wurde diese Orientierung akzentuiert. Wohlwollend wurden hier der CDU-Nationalist Alfred Dregger sowie die Gaullisten Peyrefitte und Messmer als Fürsprecher der Verteidigung Europas “mit europäischen Mitteln” zitiert. “Allerdings können sich die Bundesdeutschen nicht davor drücken, die Frage zu beantworten, wie der künftige Oberbefehl in Europa gestaltet werden soll”, schrieb Lafontaine. “Ich bin nicht für eine französische, sondern für eine europäische Lösung: Im Falle eines deutsch-französischen Zusammengehens sollte der Oberbefehl alternieren. Die französische Atomstreitmacht kann dabei außer Betracht bleiben, da die Entscheidung darüber bis zu einer politischen Einigung Europas einzig und allein dem französischen Präsidenten vorbehalten ist.”
Klare Worte also auch hier. Französische Atomwaffen sind ihm nicht Gegenstand der Kritik, sondern “europäisches”, sprich: deutsch-französisches Potential. Der von ihm propagierte Verzicht auf
Nationalstaatlichkeit erweist sich als Supranationalismus unter einem 50%-Kommando der BRD.
In seinem jüngsten, 1990 erschienen Buch Deutsche Wahrheiten hatte Lafontaine schließlich die letzte verbliebene Bastion seines Antimilitarismus geschliffen und sich von seiner Abschreckungskritik emanzipiert: Dem “Gleichgewicht des atomaren Schreckens” sei zu verdanken gewesen, daß der Krieg um Europa verhindert worden sei. “Die Abschreckungsstrategie”, so Lafontaine, “ist wirksam, weil man davon ausgeht, daß der potentielle Gegner überleben will.” Wie Lafontaine früher höchstpersönlich erläuterte, wird mit diesem Standpunkt jedes Konzept einseitiger Abrüstung ad absurdum geführt: “Würde die Verstärkung des Abschreckungspotentials die Sicherheit tatsächlich erhöhen”, hatte er 1988 noch in “Gesellschaft der Zukunft geschrieben, dann wäre es unsinnig, die Abschreckungsfähigkeit durch Abrüstungsschritte vermindern zu wollen, denn Abschreckung ist um so wirksamer, je größer das Risiko für den Gegner ist.” Der neue SPD-Chef als Kronzeuge gegen sich selbst.
Ist ihm bei dieser Orientierung der Beifall seiner Partei gewiß ? Infiziert von den Bewegung gegen die NATO-Nachrüstung hatte die SPD der 80er Jahre gegen Atomwaffen immerhin eine Allergie entwickelt, die mit Populismus allein kaum geheilt werden kann.
So hatte 1988 der SPD-Politiker Hermann Scheer in einem als “intern” gekennzeichneten Papier zur “Handlungsorientierung sozialdemokratischer Außenpolitik” die beiden in der SPD vorhandenen “prinzipiell unterschiedliche Ansätze der Selbstbehauptung Westeuropas” durchaus noch beim Namen genannt. Zum einen könne “Selbstbehauptung” bedeuten, “künftig wegfallende amerikanische Militärpotentiale einschließlich der Nuklearwaffen durch eigene westeuropäische Potentiale zu ersetzen.” Diese Linie bezeichnete Scheer als den “reaktionären Weg zur Selbstbehauptung Europas, den wir verhindern müssen.” Der alternative Ansatz sehe vor, “eine schrittweise Entmilitarisierung der Blockstrukturen mit Hilfe von Abrüstungsschritten und eines vertrauensbildenden Strukturwandels der Streitkräfte” in die Wege zu leiten, wofür die SPD sich zu engagieren solle. “Weil wir diesen Unterschied noch nicht klar herausgearbeitet haben, können gegenwärtig unter einem von uns mitgeprägten Begriff (der “Selbstbehauptung Europas”, Anm. MK) auch reaktionäre Blüten treiben, ohne daß das in der Öffentlichkeit in aller gebotenen Deutlichkeit erkannt wird.” Bedarf es der Erwähnung, daß das Papier Hermann Scheers, weil es die SPD-internen Differenzen relativ offen thematisierte, sofort wieder in der Versenkung verschwand?
Vermutlich war Scheers Behauptung von den zwei gleichberechtigt konkurrierenden SPD-Ansätzen schon 1988 eine Beschönigung gewesen. Es gehört zwar zu den spezifischen Aufgaben sozialdemokratischer Opposition, sich auch für jenen Teil der Bevölkerung als Interessenvertretung in Empfehlung zu bringen, der (aus welchen Gründen auch immer) jedwede Aufrüstung und Atomwaffenteilhabe kritisiert. Und zweifelsohne gibt es (im Unterschied zu den Unionsparteien) sowohl in der SPD-Bundestagsfraktion wie auch im Ollenhauerhaus ParteipolitikerInnen, deren Ablehnung jeglicher Atommachtambition Glaubwürdigkeit beanspruchen kann. Von einer SPD-internen oder gar öffentlichen Auseinandersetzung um die von Scheer angesprochene Alternative kann heute dennoch weniger denn je die Rede sein. Gerade weil in der SPD-Basis und ihrem Umfeld die offene Zustimmung zum “reaktionären” Westeuropa-Konzept keineswegs als gesichert erscheint, wird in der Chefetage der SPD auf Rhetorik einerseits und einer stillen Akzeptanz des Regierungskurses andrerseits gesetzt.

Wie jene stille, aber wirksame “Nationalfront” zwischen Regierung und Opposition funktioniert (während sich die Kommentatoren zeitgleich über die Lafontain’sche “Volksfront” das Maul zerreißen), ist zuletzt am Beispiel der deutschen Teilhabe am Militärsatelliten Helios II sichtbar geworden.
Das unter französischer Federführung anvisierte Weltraumprojekt dient dem Ziel, auf die US-amerikanische Aufklärung (vulgo: Spionage) nicht länger angewiesen zu sein und eine von den USA unabhängige, auch nukleare Zielplanung vornehmen zu können. Im Dezember 1995 fiel der Beschluß der Bundesregierung, die Infrastruktur der französischen Atomstreitmacht aus Bundesmitteln zu subventionieren und sich mit vorläufig 3,5 Milliarden DM in dieses Projekt einzukaufen. Dieser durchaus bedeutsamen Weichenstellung waren, wie die International Herald Tribune berichtete, energische Interventionen der USA mit dem Ziel, Helios II zu verhindern, vorausgegangen. US-Präsident Clinton hatte persönlich an Helmut Kohl appelliert, von dem Programm die Finger zu lassen. Der US-Konzern Lockheed Martin Corp. wurde veranlaßt, Satelliten, über die ansonsten die USA ein Monopol besitzen, zu Dumpingpreisen an Deutschland zu verkaufen. John Deutch, der Chef der CIA wurde nach Bonn und Pullach geschickt, um seine deutschen Geheimdienstkollegen von den Vorteilen des us-amerikanischen Angebots zu überzeugen. Vergeblich. Die Bundesregierung entschied sich für die Nuklearachse Bonn-Paris. Und die Sozialdemokratie? Ob auch nur ein einziger deutscher SPD-Abgeordneter die Helios II-Entscheidung kritisiert habe, wollte ich von der Pressestelle der SPD-Bundestagsfraktion wissen. Die Leiterin der Pressebüros, Frau Jäckewitz: “Da gibt es nichts.”
Allzu erstaunlich ist das sozialdemokratische Schweigen allerdings nicht. Für den “gemeinsamen westeuropäischen Aufklärungssatelliten” hatte sich die SPD-Bundestagsfraktion bereits 1987 stark gemacht. “Ohne verläßliche eigene Kapazitäten auf den Gebiet der weltraumgestützten Nachrichtenbeschaffung”, so damals Horst Ehmke, “wäre Europa in einem sicherheitspolitischen Kernbereich weiterhin gänzlich von den Vereinigten Staaten abhängig.” Dann schon lieber die autonome “europäische” Kriegsführungskapazität.
Eine ebenso heimliche wie wirkungsvolle Zustimmung zeichnet sich bei der von Deutschland forcierten Debatte um die “Europäisierung” der Force de Frappe (konkret 10/95) bereits ab.
Der Mannheimer SPD-Parteitag hatte dem Projekt einer “europäischen Atomstreitmacht” zwar explizit eine Absage erteilt und somit die Basis und ihr Umfeld beruhigt. Sozialdemokratische Abgeordnete, wie z.B. Heidi Wieczorek-Zeul, hatten vor dem Bundestag darauf gedrungen, daß die Bundesregierung “klar und unmißverständlich die Europäisierung französischer Atomwaffen zurückweis(en)” solle. In dem realen Meinungsbildungsprozess der SPD dominiert jedoch auch hier eine andere Position. Zum einen zeigen sich einflußreiche Repräsentanten wie Karsten Voigt, Freimut Duve oder Günter Verheugen an Fortschritten bei der deutsch-französischen Atomwaffenkooperation überaus interessiert. Zum andern wird der Tatbestand, daß es der Bundesregierung, so die Formulierung Wieczoreck-Zeuls, “nicht nur um eine indirekte Teilhabe an Atomwaffen, sondern auch um eine direkte Gestaltung Deutschlands in einer europäischen Atomstreitmacht geht”, öffentlich eben nicht zu einem Gegenstand von Opposition oder auch nur Aufklärung gemacht, sondern durch beredtes Schweigen gedeckt.
Auch hier ist dieser Tatbestand so erstaunlich nicht. Das sozialdemokratische “Streben nach einer europäischen Atommacht” (so SPD-Sprecher Mattick 1973 vor dem Bundestag) hat seit Anfang der 60er Jahre auf der Führungsebene Tradition. Entsprechend wurde auch unter der Bundeskanzlerschaft eines Willy Brandt die sozialdemokratische Zustimmung zum Atomwaffensperrvertrag unter de Vorbehalt gestellt, daß dieser Vertrag einer Euro-Bombe nicht im Wege stehen dürfe. “Der Vertrag hält die europäische Option offen. Deshalb werden wird dem Vertrag zustimmen”, hatte im Februar 1974 in der Ratifizierungsdebatte des Sperrvertrags der Sprecher der SPD, Alfons Pawelczyk, erklärt.
Zehn Jahre später avancierte Oskar Lafontaine auf dem Ticket des Antiamerikanismus zum Darling der deutschen Friedensbewegung. In der Ablehnung der “Fremdbestimmung” durch US-amerikanische Waffen bliebt das Begehren nach Selbstbestimmung über eigene, europäische Waffen stets virulent.In Sachen Euro-Chauvinismus ist der Saarländer seinen alten Überzeugungen treu geblieben. Nicht nur das. Anders als seine Vorläufer ist Lafontaine der erste Parteichef seit Willy Brandt mit einem ausgeprägt außen- und militärpolitischem Programm. Seine Reise nach Paris unmittelbar nach dem Mannheimer Parteitag ist ebensowenig Zufall, wie sein Entschluß, den SPD-Parteivorstand um eine außenpolitische Kommission zu bereichern. Verändert haben sich seit den 80ern jedoch die Rahmenbedingungen. Was in den 80ern unter der Chiffre der “Europäisierung Europas” mit oppositioneller Attitüde verkauft werden konnte, ist in den 90ern Regierungsprogramm. Die 1990 von Lafontaine erhobene Forderung: “Wir brauchen nicht nur europäische Kommissionen, wir brauchen auch europäische Divisionen!” ist mit der Aufstellung des 50.000-Mann umfassenden “Euro-Korps” erfüllt. Die Neuverteilung der Rollen im Rahmen einer “europäisierten” Nato hat längst begonnen. Gemeinsam mit Frankreich werde Deutschland “die Neue Nato entwickeln”, wird Volker Rühe im November 1995 in der FAZ zitiert. “Ziel der Strukurreform sei ,ein verändertes Bündenis’, das die veränderten politischen und strategischen Bedingungen, insbesondere die ,europäische Sicherheits- und Verteidigungsidentität und gleichberechtigte transatlantische Partnerschaft’ widerspiegele. Beide Länder wollten in den nächsten Monaten aufs engste zusammenarbeiten.”
Die Einflußminderung der USA ist freilich der einzige Bereich, worin Bonn und Paris sich wirklich einig sind. Jenseits dieses Zweckbündnisses tobt die Konkurrenz und der Kampf um den Macht für die Nation. “Die Franzosen”, so die 1990 geführte Klage von Lafontaine, “weigern sich … noch immer, europäischen Geist auch in der Sicherheitspolitik walten zu lassen. Die deutsch-französischen Brigaden sind nur ein schwacher Ersatz für eine wirkliche sicherheitspolitische Zusammenarbeit. Die Bereitschaft, im Bereich von Währungs- und Wirtschaftspolitik zu kooperieren, steht die vermeintliche oder wirkliche Autarkie der französischen ,Force de frappe’ gegenüber.”
In der Methodik, wie diese Autarkie schrittweise beendet werden kann, könnten Bundesregierung und neue SPD-Führung zwar differieren (“kunstvolle Diplomatie” sei wirksamer als “plumpe Ultimativtaktik” hatte Helmut Schmidt einst erklärt), in diesem Ziel aber stimmen sie überein. Den von Lafontaine erwähnten Zusammenhang zwischen deutscher Finanz- und Atomwaffenpolitik hatte die “International Herald Tribune” 1992 wie folgt analysiert: “Das wiedervereinigte Deutschland versucht leise Einfluß über die französische Nuklearstrategie zu erhalten, um dafür im Gegenzug Frankreich bei der deutschen Finanzpolitik mitreden zu lassen. Das ist der unausgesprochene Kern der europäischen Integrationspolitik, ein bislang nicht zur Kenntnis genommenes Beispiel einer neuen Nuklearpolitik.” (IHT, 27.1.92)
Hierüber wird in den internationah von einem plumpen Biedermeier, sondern von Oskar, dem genialen “Überzeugungs-Nichttäter”, dem charistmatische “Internationalisten” und unverrückbaren “Antimilitaristen” geführt. Die SPD hat sich verändert. Und Schäuble schmunzelt noch mehr.

(aus: konkret 2/1996)