Hat sich Judith Butler neu positioniert?

Von Matthias Küntzel

Hamburg, 7. September 2012

Am 11. September 2012 will die Stadt Frankfurt den mit 50.000 EUR dotierten Adorno-Preis an die amerikanische Professorin Judith Butler vergeben. Diese Entscheidung führte in Deutschland, Israel und den USA zu zahlreichen Protesten und spaltete das akademische Milieu in Deutschland in zwei Lager.

Im Zentrum der Proteste steht Butlers Haltung zum Nahostkonflikt: Ihre Versuche, Hamas und Hisbollah in ein „progressives“ Licht zu rücken sowie ihr Aufruf, Israel zu boykottieren – eine Haltung, die auch bei denen, die die Preisvergabe an Butler gutheißen, auf Unbehagen stößt.

Judith Butler hat auf die Empörung, die ihre Nominierung auslöste, mit zwei Texten geantwortet – Stellungnahmen, die sich deutlich voneinander unterscheiden.

Butlers ersten Beitrag veröffentlichte am 30. August 2012 die ZEIT mit der Überschrift „Ich bin tief verletzt“. Darin beklagt die designierte Preisträgerin die „verleumderischen und haltlosen Vorwürfe“ ihrer Gegner, die sie und andere als „antisemitisch“ beschimpften, um jede Kritik an Israel zu unterdrücken. „Meine tatsächliche Position wird von meinen Verleumdern nicht gehört.“

Zwei Tage später, am 1. September 2012, veröffentlichte die „Frankfurter Rundschau“ Butlers zweites Papier, das sie mit dem Titel „Fangen wir an, miteinander zu sprechen“ versah. „Also ja, ich verstehe durchaus die Kritik an meiner Position“, räumt Butler darin überraschend ein. „Ich weiß natürlich auch, dass es in Deutschland besondere Gründe gibt, Israel-Kritiker des Antisemitismus zu verdächtigen.“ Dieser Text, den sie bislang nur auf Deutsch, nicht aber auf Englisch veröffentlichte, warnt vor der Gefahr, „dass jede Kritik an Israel in einem deutschen Kontext den virulenten Antisemitismus zu neuem Leben erweckt.“

Während Butler in ihrem ersten Text den fälschlichen Vorwurf des Antisemitismus als ein Mittel beschreibt, um Israelkritik zu verhindern, erweckt ihr zweiter Text den Eindruck, dass jener Vorwurf so fälschlich gar nicht sei, da „jede Kritik an Israel“ den Judenhass neu beleben könne. Mehr noch:

Butler lobt hier „die antideutsche Linke“, da diese „eine deutliche Kritik an dem entwickelt (habe), was gemeinhin anti-imperialistische Linke genannt wird.“ Diese Kritik sei „sehr wichtig, weil sie deutlich macht, auf welch verquere und versteckte Weise sich Antisemitismus äußern kann.“ Hingegen hätten die deutschen Anti-Imperialisten „bei ihrer Analyse des deutschen Nationalismus und seinen impliziten wie expliziten Formen des Antisemitismus versagt.“

Butler betont, „wie sehr der fortbestehende Antisemitismus die Existenz des Staates Israel in seiner gegenwärtigen Form und mit seiner gegenwärtigen Politik als politische Notwendigkeit rechtfertigt.“

Butler ruft dazu auf, „alle Formen des Geschichtsrevisionismus … energisch und öffentlich als Antisemitismus zu bekämpfen“ und sich „in aller Deutlichkeit (zu) vergegenwärtigen, wo überall Antisemitismus existiert“, um „gegen ihn mit allem Nachdruck vor(zu)gehen, ganz gleich wo er in Erscheinung tritt.“

Man reibt sich die Augen und fragt sich, wie solch eine Positionsverschiebung zwischen Donnerstag und Samstag, zwischen ZEIT und “Frankfurter Rundschau” bei ein und derselben Autorin möglich ist.

Die Antwort hat vermutlich mit der Protestwelle zu tun. Judith Butler wird an amerikanischen Universitäten nicht selten wie ein Popstar umschwärmt. Gewiss war sie von dem Grad an Empörung, den ihre Nominierung als Adorno-Preisträgerin provozierte, überrascht.

Es gab die Petitions- und Kundgebungskampagne der Frankfurter Organisation „Zionistische Linke“, die mit den klassischen – der Preisträgerin wohlbekannten – Instrumenten der Linken gegen die Preisverleihung mobilisierte; etwas, was Judith Butler vermutlich bislang noch nicht erlebte. Es folgte der Protest der Wissenschaftlerorganisation SPME Germany, der international Wellen schlug.

Dann machte das schroffe Statement von Stephan J. Kramer, dem Generalsekretär des Zentralrats der Juden in Deutschland, Schlagzeilen, der Butler als „bekennende Israel-Hasserin“ bezeichnete, die „Israel in den Würgegriff eines Boykotts legen will“, gefolgt von einer Stellungnahme des Frankfurter Kulturdezernenten, Felix Semmelroth (CDU), der Kramers Protest gegen die Preisträgerin nicht zurückwies, sondern sie als „einsichtig und verständlich“ bezeichnete.

Butler erlebte, wie sich der WELT-Journalist Jacques Schuster, der eine Veranstaltung des Berliner Jüdischen Museums mit ihr leiten wollte, von diesem Projekt verabschiedete. Butlers „Gedanken zum Boykott“ Israels seien mehr als “befremdlich”, teilte Schuster der Leiterin des Jüdischen Museums mit. “Sie sprengen die gemeinsame Grundlage, auf der wir stehen könnten… Ich glaube nicht, dass mit Frau Butler in Fragen des Zionismus und Israels ein abgewogenes Gespräch möglich ist.”

Sie erfuhr vom Schreiben des israelischen Botschafters in Deutschland an den Frankfurter Bürgermeister, das die Preisverleiher für ihr Versäumnis kritisiert, „die Moralphilosophin an ihrer eigenen Moral zu messen“ und nahm zur Kenntnis, dass der Zentralrat der Juden in Deutschland und die Jüdische Gemeinde in Frankfurt der Preisverleihung demonstrativ fernbleiben wollen.

All das mag die veränderte Tonlage und die veränderte Prioritätensetzung, durch die sich Butlers zweite Stellungnahme auszeichnet, erklären. Gehen diese Abwandlungen aber auch mit einer tatsächlich veränderten Einstellung einher? Die Probe aufs Exempel liefert Butlers Umgang mit Hisbollah und Hamas.

Eine „akademische Antwort“?

Judith Butler wird seit 2006 mit Hisbollah und Hamas in eine Verbindung gebracht. Damals fand im Kontext des Libanonkrieges an der Universität Berkeley, in der Butler lehrt, ein „Teach-In Against War“ statt.

Zwei Studentinnen standen damals auf und fragten, ob Butler die Auslöschungsdrohungen von Hisbollah und Hamas als eine reale Bedrohung Israels betrachte oder als einen Medien-Hype und ob es richtig sei, dass sich die Linke im Kampf gegen den Kolonialismus nur zögerlich hinter beide Gruppen stelle. Die Fragen und die berühmt gewordene Antwort Butlers sind auf Youtube dokumentiert.

„Ja, ich glaube, es ist extrem wichtig, Hamas und Hisbollah als soziale, progressive Bewegungen zu verstehen, die zur Linken gehören, die Teil der globalen Linken sind“, erwiderte sie damals. „Dies hält diejenigen von uns, die an gewaltloser Politik interessiert sind, nicht davon ab, die Frage aufzuwerfen, ob es neben der Gewalt noch andere Optionen gibt. … Dies ist eine kritische wichtige Auseinandersetzung. Ich bin überzeugt, dass dies in die Konversation innerhalb der Linken eingeführt werden sollte.“

Butler hat sich, wie wir hier sehen, von Terror und Gewalt nicht wirklich distanziert, sondern lediglich gefordert, „neben der Gewalt“ auch gewaltlose Politikansätze ins Gespräch zu bringen.

Nun kann in der Hitze der Debatte jeder Rednerin und jedem Redner ein Fehler unterlaufen. Es wäre für Judith Butler ein leichtes gewesen, ihre oben zitierte Äußerung zurückzunehmen.

Sie wählte jedoch einen anderen Weg. Sie bestand auf ihrem Fehler und behauptete, im Prinzip zutreffend geantwortet zu haben, jedoch falsch verstanden und später das Opfer einer Kampagne geworden zu sein.

Diese Rechtfertigungsstrategie blitzt auch in ihrem Papier vom 1. September 2012 wieder auf: „Mein Fehler in Berkeley“, erklärt sie hier, „war möglicherweise, dass ich als Professorin eine akademische Antwort gab, statt unmissverständlich zu erklären, was ich von der Gewalt auf palästinensischer Seite halte.“

Aktive Ignoranz

Zu einer Distanzierung von den politischen Zielen der Hisbollah und der Hamas hat sich Butler bis heute nicht durchringen können; erst recht nicht zu einer Kritik des unverblümten Judenhasses, der die Programme beider Bewegungen durchzieht.

Immerhin rief sie am 1. September dieses Jahres sich selbst und ihr deutsches Publikum zu einer veränderten Herangehensweise auf: „Wir sollten uns in aller Deutlichkeit vergegenwärtigen, wo überall Antisemitismus existiert, und gegen ihn mit allem Nachdruck vorgehen, ganz gleich wo er in Erscheinung tritt.“

Sie selbst praktiziert im selben Artikel jedoch das Gegenteil. Zwar erwähnt sie „rechtsgerichtete Extremisten“, „bekennende Nazis“ und „in Deutschland die NPD“, die wegen ihrer Judenfeindschaft anzugreifen seien. Doch erneut verliert sie über den Antisemitismus und die Holocaustleugnung von Hisbollah und Hamas kein Wort.

Es ist aber diese Auslassung, die – mehr als alles Gesagte! – die Kontinuität ihre Haltung charakterisiert.

Ich glaube nicht, dass Judith Butler aus Zeitmangel die Hamas-Charta, ein Schlüsseldokument des islamischen Antisemitismus, ignoriert. Ich vermute, dass sie sich mit diesem Dokument, das ihr Weltbild in Frage zu stellen droht, nicht befassen will. Wir haben es mit „aktiver Ignoranz“ zu tun.

Mit dieser Haltung macht sie Judenfeindschaft aber stark: Sie akzeptiert den Judenhass der Islamisten, indem sie darüber schweigt. Sie dämonisiert gleichzeitig Israel, indem sie in ihren englischsprachigen Veröffentlichungen eben das verschweigt, was sie vor dem Hintergrund der Debatte in Deutschland erstmalig erwähnt: dass der fortbestehende Judenhass „die Existenz des Staates Israel … mit seiner gegenwärtigen Politik als politische Notwendigkeit rechtfertigt.“

„Aktive Ignoranz“ gegenüber der Judenfeindschaft und dem Terror der Islamisten zeichnet aber auch die „Boycott, Divestement, Sanctions“- Kampagne gegen Israel aus, der sich Butler verbunden fühlt.

Sie muss sich daher entscheiden. Sie kann entweder „den Antisemitismus in der Vielfalt seiner Erscheinungen“ erkennen und bekämpfen. Oder sie kann die BDS-Kampagne weiter unterstützen: Das eine schließt das andere aus.

Ich halte es für falsch, die Unterschiede zwischen Butlers Donnerstagspapier und ihrem Samstagspapier zu nivellieren. Die Tatsache, dass sie sich veranlasst sah und sich darum bemühte, auf die Protestwelle zu reagieren, spricht nicht nur für die Qualität der Proteste, sondern auch für sie. Gleichwohl steht der Verdacht, sie habe ihr Fähnchen lediglich nach dem Wind gedreht, im Raum.

Sie könnte diesen Verdacht widerlegen, in dem sie sich in ihrer Preisrede am 11. September von der Boykott-Kampagne gegen Israel unzweideutig distanziert. Nur dann stimmten ihre Worte und Forderungen mit ihrem Handeln überein. Falls sie sich hierzu aber außerstande sieht, sollte sie den Rat ihres amerikanischen Kollegen Richard Landes beherzigen. „Judith Butler, Sei a Mensch: Renounce the Adorno Prize“.