Ex nunc oder ex tunc?

Die Bundesrepublik bestreitet weiterhin die Nichtigkeit des Münchener Abkkommens von Anfang an und belastet damit die Beziehungen zu Tschechien

Von Matthias Küntzel

junge Welt, Juni 1996

Kohl: Münchener Diktat von 1938 war rechtmäßig

“Niemals würde die tschechische Öffentlichkeit zustimmen, daß das Münchener Abkommen auch nur einen Tag gültig war”, hatte der Prager Historiker Jan Kren in einem “Spiegel”-Gespräch erklärt und damit den neuralgischen Punkt des deutsch-tschechischen Verhältnisses benannt. Denn eben dies wird von der Bundesregierung anders gesehen. Für sie hat das Münchener Diktat von 1938 nicht nur einen Tag lang, sondern bis in die Gegenwart eine rechtliche Gültigkeit behalten. “Bundeskanzler Helmut Kohl sagte 1992 in Prag mit Blick auf das Münchener Abkommen, wer sich gute Nachbarschaft wünsche, müsse akzeptieren, daß Deutschland in dieser Frage nur in einem gewissen Maße nachgeben könne”, hatte Kren in jenem Interview hinzugefügt. (Spiegel 23/96 vom 3.6.96)

Das am 28. September 1938 von Hitler, Daladier, Mussolini und Chamberlain unterzeichnete Abkommen besiegelte das Ende der Tschechoslowakei: Die sudetendeutschen Gebiete sowie “das restliche Gebiet vorwiegend deutschen Charakters” wurden dem Deutschen Reich zugeschlagen und ab dem 1. Oktober von der Wehrmacht besetzt. Alle Nichtdeutschen mußten innerhalb von 10 Tagen verschwinden, weitere 60.000 Jüdinnen und Juden und sowie SympathisantInnen linksstehender Parteien wurden verjagt. Die Tschechoslowakei verlor 20% ihres Territoriums, 25% ihrer Bevölkerung sowie 70% ihrer Schwerindustrie. Dem Abkommen waren Truppenaufmärsche und ein nationalsozialistisches Ultimatum vorausgeangen. Darin hatte Hitler mit Krieg gedroht, falls nicht alle von Deutschland beanspruchten Gebiete bis zum 1. Oktober an das Reich abgetreten seien. Von Frankreich und Großbritannien wurde dieses Ultimatum in der Hoffnung, deutsche Ansprüche durch Entgegenkommen besänftigen zu können, akzeptiert. Bekanntlich ging diese Rechnung nicht auf: Am 15. März 1939 marschierten Hitler’s Truppen in Prag ein und besetzen die “Rest-Tschechei”.

Die bundesdeutsche Rechtsposition zum Müncher Abkommen räumt ein, daß das Abkommen mit dem Überfall auf Prag nachträglich (“ex nunc”) annulliert worden sei. Die Nichtigkeit des Abkommens von Anfang an (“ex tunc”) wird jedoch beharrlich abgelehnt. Man sei “der Ansicht”, so Edmund Stoiber, “daß das Münchener Abkommen rechtswirksam zustandegekommen ist.” (FAZ, 9.6.92)
Stoibers Einverständnis mit dem Münchener Diktat ist keine bayerische Spezialität, sondern deutscher Konsens, den auch sozialdemokratisch geführte Regierungen stets mitgetragen haben.
Beispielsweise im Kontext des deutsch-tschechischen Nachbarschaftsvertrages von 1973.
Für die tschechische Seite, so der ehemalige westdeutsche Verhandlungsführer Egon Frank, sei das Abkommen “der erste widerrechtliche Akt der deutschen Reichsregierung gewesen, mit dem eigentlich der Zweite Weltkrieg begonnen habe. Sie verlangten deshalb Anerkennung der Ungültigkeit des Abkommens ,von Anfang an’.” Demgegenüber habe die von Willy Brandt und Walter Scheel geführte sozialliberale Bundesregierung “die These vertreten, daß der Vertrag ursprünglich rechtens zustande gekommen sei, daß Adolf Hitler ihn 1939 mit dem Einmarsch in die Tschechoslowakei zerrissen habe und die Bundesregierung heute aus dem Abkommen keinerlei territoriale Rechte ableite.” (Frank, Entschlüsselte Botschaft, Stuttgart 1981) Die Unterhändler einigten sich auf einen faulen Kompromiß. Egon Frank: “Das Münchener Abkommen wurde im Vertrag für ,nichtig nach Maßgabe dieses Vertrages’ erklärt, das heißt eingeschränkt nichtig, also nicht nichtig.”
In der Tat. Artikel II des Vertrages macht klar, daß die von den Nazis vorgenommenen Eindeutschungen der ehemals tschechischen Sudetenbewohner ebensowenig angetastet wurden, wie die sich daraus ableitenden deutschen Ansprüche auf das im ,Protektorat Böhmen und Mähren’ arisierte Vermögen.

In den Zeiten des Kalten Krieges standen derartige Ansprüche nur auf dem Papier. Dies änderte sich mit dem Mauerfall. Die Verteidigung der Hitler’schen Sudentenpolitik von 1938, wie sie über Jahrzehnte in den Hinterzimmern der westdeutschen Diplomatie gepflegt worden war, geriet nun zum realpolitischen Instrument.
Der Versuch der tschechischen Regierung, das vereinigte Deutschland auf eine neue Formel festzulegen, die “die die Kontinuität der gemeinsamen Grenze seit 1918 bestätigen sollte”, schlug fehl. “Da eine solche Formulierung die Anerkennung der Nichtigkeit des Münchener Abkommens von Anfang an mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen impliziert hätte”, heißt es weiter in einer Denkschrift des Auswärtigen Amts zum deutsch-tschechischen Nachbarschaftsvertrag von 1992, “hat die Bundesregierung sie unter Hinweis auf die deutsche Rechtsposition zum Münchener Abkommen als nicht akzeptabel zurückgewiesen”. (Bundestagsdrucksache 12/2468) Naßforsch wird gegen die tschechischen Regierung der Vorwurf erhoben, daß sie es sei, die sich völkerrechtswidrig verhalte. Bei jeder Gelegenheit macht die Bundesregierung deutlich, “daß sie die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei und die entschädigungslose Einziehung deutschen Vermögens als völkerrechtswidrig betrachtet.” (Denkschrift des Auswärtigen Amts)
Das Verhältnis zum Münchener Diktat wirft ein Schlaglicht auf die Zukunft der deutschen Osteuropa-Politik: Wer sich weigert, die Unterschrift unter ein Abkommen für null und nichtig zu erklären, mit welchem das völkische Prinzip der deutschen Blutszugehörigkeit zur Annexionspolitik weitergetrieben wurde, droht implizit mit der Möglichkeit der Wiederholung und hat zentrale Elemente der nationalsozialistischen Außenpolitik bereits rehabilitiert: – Das völkische Element. Nach dessen Lesart war “München” die befreiende Korrektur des Versailler Vertrages, durch welchen die Sudetendeutschen 1919 in das “unnatürliche Kunstprodukt” Tschechoslowakei gepresst worden seien. “München” steht für das rassistische Verständnis von Nation, welches “originäre” Völker aus “ungewollten und widernatürlichen staatlichen Organisationen” (so der Staatsrechtler Rupert Scholz über das ehemalige Jugoslawien) zu befreien sucht. – Das Prinzip von Grenzrevisionen mithilfe der Losung der “Selbstbestimmung”. Mit dem Pochen auf die Rechtmäßigkeit des Münchener Diktats wird insbesondere gegenüber Polen und Tschechien die Option auf Annektion des jeweiligen “restliche(n) Gebiet(s) vorwiegend deutschen Charakters” (so die Sprachregelung in Artikel IV des Münchener Abkommens) als außenpolitische Druckmittel offen gehalten. Zwar sei es derzeit unklug, aus der deutschen Rechtsposition “territoriale Forderungen abzuleiten”, hieß es 1988 in einer Stellungnahme der sudentendeutschen Ackermann-Gemeinde. Es müsse diese Position jedoch “als Verhandlungsgegenstand – für was auch immer – zurückgestellt und in Reserve gehalten werden.” (H. Dähne, Das Münchener Abkommen, München 1988) – Das Prinzip des Großmachtdiktats gegenüber der Regierung einer kleineren Macht. Zweifelsohne ist die Abtretung der sudentendeutschen Gebiete nur aufgrund massiver Kriegsandrohnungen zustande gekommen. Wie das Diktat von München dennoch verteidigt werden kann, hatte der CDU-Politiker Zoglmann dem Deutschen Bundestag einst erklärt. Ihm sei, so Zoglmann, “aus den letzten vierhundert Jahren kein völkerrechtliches Abkommen (bekannt), das einen Verzicht auf wesentliche Teile des Staatsgebiets enthält, das nicht unter Drohung und Gewalt zustandegekommen wäre.”

Das Kohlsche Diktat gegenüber Prag kann auf Gewalt derzeit noch verzichten, auf das Mittel der Drohung allerdings nicht: Wenn Prag “sich gute Nachbarschaft wünsche”, – und man kann schließlich auch anders! – müsse es die deutsche Geschichtsschreibung schlicht und ergreifend “akzeptieren”. So jedenfalls wird Kanzler vom tschechischen Historiker Kren zitiert, der seinerseits vor dieser Drohung kuscht: “Niemals würde die tschechische Öffentlichkeit zustimmen, daß das Münchener Abkommen auch nur einen Tag gültig war”, hatte er in dem Spiegel-Gespräch erklärt, “aber sie hat gelernt, mit diesem Kompromiß zu leben.”
Was bleibt ihr auch für eine andere Wahl? Von der deutschen Öffentlichkeit ist eine Kritik der nationalsozialistischen Instrumente im Keller der deutschen Außenpolitik ebensowenig zu erwarten, wie von der Bonner Opposition, die sich durch solch Marginalien ihren Großmachtalltag schon lange nicht mehr vermiesen läßt.

Matthias Küntzel

(aus: junge Welt, 18. Juni 1996)