Die Schatten verscheuchen

Boualem Sansal ruft zu einer neuen Debatte über Islam und Islamismus auf

Von Matthias Küntzel

iz3w, Mai/Juni 2014, Ausgabe 342

“Wer die Dinge beim falschen Namen nennt, trägt zum Unglück der Welt bei” – mit dieser Sentenz von Albert Camus beginnt das neue Buch Allahs Narren des algerischen Schriftstellers Boualem Sansal. Die Sprachgewalt seiner Romane hat den frankophonen Schriftsteller weit über die Grenzen Frankreichs hinaus bekannt gemacht. Dazu bei trug aber auch der Umstand, dass er über seine Erfahrungen mit dem Islamismus unverblümt schreibt. Sansal lebt in der Nähe von Algier und hat den Aufstieg und Schrecken des Islamismus persönlich erlebt.

Für seine Unerschrockenheit zahlt Sansal einen Preis: Bis heute sind seine Bücher in Algerien verboten. 2012 wurde ihm der “Preis des arabischen Romans” wieder aberkannt, weil er die Kühnheit besaß, an einem israelischen Literaturfestival teilzunehmen. In Deutschland wurde Sansal 2011 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels geehrt. Gleichwohl eckt er nun auch hierzulande mit einer Textvorlage an.

Die Körber-Stiftung kneift

Im Herbst 2013 sollte sein neues Buch – ein Essay über den Aufstieg des Islamismus – in einer Buchreihe der renommierten Körber-Stiftung erscheinen. Die von dem Hamburger Unternehmer Kurt Körber gegründete Stiftung befasst sich – auch in Zusammenarbeit mit dem Auswärtigen Amt – mit Kernfragen der deutschen Außenpolitik. Die Räume für die Lesereise waren bereits gemietet.

Dann cancelte die Stiftung das von ihr selbst in Auftrag gegebene Werk, weil Sansal einige von der Stiftung beanstandete Passagen über den Islam nicht abmildern wollte; weil er sich weigerte, “die Dinge beim falschen Namen zu nennen”. Die Stiftung stehe “in einem Dialog mit den Islamisten und vielleicht haben sie in meinem Buch etwas gefunden, von dem sie dachten, dass es ihre Beziehungen zu den islamistischen Partnern beschädigen könnte”, resümiert Sansal.[i]

Es ist schon bemerkenswert: Erst machte der Börsenverein des deutschen Buchhandels Sansal zu seinem Preisträger, um “für die Demokratiebewegung in Nordafrika ein Zeichen zu setzen”. Dann gibt die Körber-Stiftung dem weltberühmten Schriftsteller wegen seiner Islamkritik einen Korb. Der Merlin-Verlag sprang kurzfristig ein und das Buch erschien im November 2013 unter dem Titel “Allahs Narren. Wie der Islamismus die Welt erobert”.

Die Buchpremiere fand in Anwesenheit des Autors in der Scheune eines weltverlassenen Ortes statt – in Gifkendorf bei Lüneburg, dem Sitz des Merlin-Verlages. Hier traf ich Boualem Sansal und kam mit ihm ins Gespräch. “Welche Punkte wollte die Körber-Stiftung in Ihrem Buch nicht haben?”, fragte ich ihn. Er antwortete: “Eigentlich ging es um die Wortwahl. Eines der Probleme bestand darin, dass sie manchmal da, wo ich ,Islam‘ geschrieben hatte, das Wort ,Islamismus‘ haben wollten. Ich habe aber nicht nur über den Islamismus, sondern auch über den Islam geschrieben. Das aber ist in Europa zur Regel geworden: Man hat Angst vom Islam zu reden und benützt stattdessen die Bezeichnung ,Islamismus‘.”

Die Angst, vom Islam zu reden, thematisiert Sansal auch in seinem Buch: “Die bloße Erwähnung dieses Begriffs würgt jede Diskussion im Keim ab oder lässt sie auf Phrasen und Gemeinplätze des politisch Korrekten zusteuern.” Sansal führt diese Form der Selbstzensur auf den Einfluss der Islamisten zurück. So erinnert er an Autorinnen und Autoren, die man zum Tode verurteilte, weil sie Ansichten vertraten, die als Angriff auf den Islam gewertet worden waren: Salman Rushdie, Robert Redeker, Taslima Nasreen, Wafa Sultan, Theo Von Gogh und andere mehr.

“Das alles hat dazu geführt”, schreibt Sansal, “dass man heutzutage auf den Islamismus ausweicht, wenn man eigentlich über den Islam sprechen will. Und um das, was man nur andeuten kann, klarer zum Ausdruck zu bringen, wirft man sich zum Verteidiger eines toleranten, friedfertigen Islam auf, der einem Werbe-Idyll entsprungen scheint.”

Zwar sei zwischen Islam und Islamismus zu unterscheiden, betont Sansal, man dürfe den Islamismus aber nicht isoliert betrachten, sondern müsse den Zustand des “im Lauf der Jahrhunderte von Feudalregimes und religiösen Fanatikern” geprägten Islam und dessen Weigerung, sich den Anforderungen der Gegenwart zu stellen, mit in Rechnung stellen.

Zum Beispiel beim Topos der Todesliebe. Zu den Aussagen, die die Körber-Stiftung nicht durchgehen ließ, gehört Sansals Bemerkung, dass “es ja auch der Traum eines jeden Muslims (ist), für den Islam zu sterben”. “Ist das nicht eine starke Übertreibung?”, fragte ich ihn. “Nein, nein, das ist Realität”, erwiderte Sansal. “In der islamischen Kultur ist es das Schönste, für Allah zu sterben. Gläubige Muslime sind zum Bespiel sehr glücklich, wenn ein Angehöriger auf dem Weg nach Mekka gestorben ist. Dann wird nicht geweint, sondern gefeiert. Wenn man beim Ramadan stirbt, ist es dasselbe. In beiden Fällen ist man für Allah gestorben.”

Die Körber-Stiftung wollte Sansals Bemerkung nicht einmal zur Diskussion stellen. Als er mit der Abfassung seines Textes begann, konnte er nicht ahnen, dass ausgerechnet sein Auftraggeber ein Musterbeispiel für das in seinem Buch kritisierte Versagen europäischer Intellektueller abgeben würde. Deren “Trend zum ,politisch Korrekten‘” habe “katastrophale Auswirkungen”, beklagt Sansal und führt als Beispiel den französischen Premier Francois Hollande an. Dieser habe bei seinem triumphalen Einzug in Mali nicht ein einziges Mal von “islamistischem Terrorismus” gesprochen. Indem er aber “den islamistischen Terrorismus nicht beim Namen nennt, begeht Hollande … Verrat an der Bevölkerung Malis, die unter ihrem Regiment gelitten und ihrerseits nicht im mindesten gezögert hat, das Kind beim Namen zu nennen; und er begeht Verrat an den Muslimen, die sehr genau wissen, was ihrer Religion und ihrem Land schadet und was nicht.”

Alptraum in Algerien

Im ersten Kapitel seines Buches erinnert Sansal an das “revolutionäre, von Entwicklungseuphorie beseelte sozialistische, bis ins Mark materialistische Algerien” der 1960er Jahre, in das erstmals auch einige Muslimbrüder aus der arabischen Welt einwanderten. “Wir empfingen sie freundlich, amüsierten uns wohl auch ein wenig über ihre beflissene Frömmigkeit, ihr süßliches Getue und den brausenden Donnerhall ihrer Predigten voller Magie.”

Wenige Jahre später hatte sich der Islamismus, so Sansal, “über das Netz der Märkte und Moscheen” im Lande breit gemacht. Das Regime wich zurück: Mit “empörender Eilfertigkeit” habe es “das Land in einen Zustand mentaler Rückständigkeit abgleiten” lassen: “Es war auch das Aus für den revolutionären Geschlechtermix in unseren Studentenwohnheimen.”

Nach dem schockierenden Wahlsieg der “Islamistischen Heilsfront” (FIS) und der Annullierung dieser Wahlen Ende 1991 begann der zehnjährige Bürgerkrieg, die sogenannten décennie noire. Jetzt erst begriff man, berichtet Sansal, dass die Islamisten “weder Regeln noch Skrupel” kannten und sich den “Anschein primitiver Gewalt und Geistesverwirrtheit” gaben, “um ein Höchstmaß an Angst und Schrecken zu verbreiten.” Ihr Ziel habe darin bestanden, eine unaufhaltsame Dynamik zu erzeugen, die sie “den Dschihad gegen die Juden und die Kreuzfahrer” nannten.

“Diese Ausdrücke hatten wir noch nie gehört”, schreibt Sansal, “waren wir doch die Slogans der Sozialistischen Internationale gewöhnt, und so brachen wir angesichts der apokalyptischen Gewalt, die ihnen innewohnte, prompt in flammende Begeisterung aus oder verfielen in absolute Schreckstarre. Fürwahr, eine Welt ging zu Ende, und eine andere begann.” Wie aber konnte der Islam, fragt Sansal, nachdem er bereits vom Schirm der Geschichte verschwunden schien, “innerhalb von nur zwei oder drei Generationen, mit solcher Urgewalt und solcher alles mit sich reißender Selbstsicherheit erneut auf der Weltbühne auftauchen?”

Triebkräfte des Islamismus

Um diese Frage zu beantworten, liefert Sansal einen Überblick über die unterschiedlichen Glaubensrichtungen und Rechtsschulen des Islam, um anschließend die treibenden Kräfte des Islamismus zu untersuchen. In dieser Auflistung kommt der Westen zwar nicht ungeschoren davon. So hätten die Krisen und Kriege des 20. Jahrhunderts den idealen Nährboden für den Islamismus geschaffen; und die Erfolge des Islamismus in Westeuropa hingen mit einer verfehlten Einwanderungs- und Integrationspolitik zusammen. Doch es fällt auf, in welchem Maß Sansal die muslimische Welt für das Erstarken des Islamismus verantwortlich macht.

“Alle modernen muslimischen Staaten”, behauptet Sansal, hätten “sich an einem bestimmten Punkt ihrer Geschichte als treibende Kraft bei der Ausbreitung des Islamismus erwiesen.” Sie hätten islamistische Prediger ins Land geholt, um die von Moskau unterstützten kommunistischen Bewegungen zu stoppen und die vom Westen inspirierten Rufe nach Demokratie zu übertönen – mit Erfolg, betont Sansal. Die herrschenden Regimes überdauerten “im Schatten eines Islams, den sie instrumentalisierten (sowie) eines Islamismus, den sie von vorn bekämpften und hintenherum ermutigten.”

Zusätzlich führt Sansal das “ohrenbetäubende Schweigen” der muslimischen Intellektuellen an, ein Schweigen, das “in gewisser Hinsicht die stärkste Triebkraft des Islamismus” sei. Eigentlich wollen junge Leute ihren Spaß haben, erklärte er in einem Interview, “aber sie gehen weder zum Fußball noch an den Strand, sie gehen in die Moschee. Und wir Intellektuellen haben zugeschaut, wie aus sozialen Veränderungen politische und philosophische wurden. Die Intellektuellen hatten keinen Mut, kein politisches Gespür.”[ii] In seinem Buch sieht Sansal hier eine “Melange aus Angst, Unterwerfung und Indifferenz” am Werk.

Der Kern des Problems

Sansal betrachtet die Zensur, die Selbstzensur sowie eine “allzu verbrämte Ausdrucksweise” als den Kern des Problems. Im Grunde sei die islamistische Ideologie nicht wirklich gefährlich. Man könne ihre Falschheit entlarven und sie zum Rückmarsch bewegen. Das aber setze ehrliche und offene Diskussionen voraus, sowie die Bereitschaft, “den Muslimen ohne Wenn und Aber das Recht auf freie Meinungsäußerung zu garantieren.” Doch gerade davon ist die arabische Welt heute weit entfernt, wie die Situation Ägyptens auch nach dem Sturz des islamistischen Staatspräsidenten Mursi zeigt.

Sansals Essay ist keine akademische Abhandlung und auch kein Beispiel für investigativen Journalismus, sondern die sprachgewaltige Auseinandersetzung eines arabischen Zeitgenossen mit einem der drängendsten Probleme unserer Zeit; ein Debattenbeitrag, der Urteilskraft und Unterscheidungsvermögen schärft. Deshalb ist diesem Aufruf zur Diskussion große Verbreitung zu wünschen. Nur wer die Dinge beim Namen nennt, schreibt Sansal, und sie “offen und bei Licht diskutiert, verscheucht die Schatten und lüftet den Schleier des vermeintlichen Mysteriums.”

Matthias Küntzel (www.matthiaskuentzel.de) ist Politikwissenschaftler und Publizist. Sein Buch über die Geschichte der Muslimbruderschaft von 1928 bis 2001 (Dschihad und Judenhass, Freiburg 2002) wird derzeit ins Arabische übersetzt.

Boualem Sansal: Allahs Narren. Wie der Islamismus die Welt erobert. Übersetzt von Regina Keil-Sagawe, Merlin Verlag, Gifkendorf 2013. 164 Seiten, 14,95 Euro.

[i] Brigitte Neumann, Gegen den politischen Islam, Deutschlandfunk, 27. Dezember 2013.

[ii] Sansal: “Den Islam den Islamisten wegnehmen!”, auf www.dw.de/sansal-den-islam-den-islamisten-wegnehmen/a-17196291