Die Saudis schlagen zurück

Der Atomdeal mit Iran provoziert die arabische Welt

Von Matthias Küntzel

Jungle World, Nr. 3, 21. Januar 2016

Stürmisch begann das neue Jahr in der Golfregion. Am Morgen des 2. Januar ließ das saudische Regime 47 „Terroristen“ hinrichten, darunter den radikalen Führer der saudi-arabischen Schiiten, Nimr al-Nimr. Eine innere Angelegenheit sei das, so das Regime, doch im Iran sah man es anders. Aufgestachelt von radikalen iranischen Webseiten sammelte sich eine Meute vor der saudischen Botschaft in Teheran und setzte sie in Brand. Die iranischen Polizeitruppen, sonst im Straßenkampf nicht gerade zimperlich, hielten sich zurück.

Von nun an ging es Schlag auf Schlag: Die saudi-arabische Regierung beendete mit Verweis auf den Vorfall die diplomatischen Beziehungen zum Iran. Bahrein und der Sudan schlossen sich an und brachen ihre Beziehungen ab. Die Vereinten Arabischen Emirate und Kuwait zogen ihre Botschafter ab. Gleichzeitig fror das saudische Regime die Wirtschaftsbeziehungen ein. Es beendete den Handel und Flugverkehr und verbot seinen Bürgern Reisen in den Iran.

Am 4. Januar verurteilte der UN-Sicherheitsrat den Angriff auf die saudische Vertretung in Teheran, ohne die Hinrichtungen zu erwähnen. Wenige Tage später bestätigte der Golf-Kooperationsrat die saudische Position. Auch wenn sich Irans Präsident Hassan Rouhani von dem Sturm auf die Botschaft nachträglich distanzierte, war der Iran zwischenzeitlich isoliert.

Nicht allerdings in Deutschland: Hier konzentrierte sich die Wut auf die saudische Politik. Riad habe mit der Tötung von al-Nimr „einen Flächenbrand ausgelöst“, beklagte Thomas Roth in den „Tagesthemen“.[1]

Saudi-Arabien sei „ein Land, das seine eigene Bevölkerung massenhaft hinrichtet“, befand Claudia Roth von den Grünen, während Julia Klöckner, die Vize-Vorsitzende der CDU, von „wahllosen“ Hinrichtungen sprach2 und Henner Fürtig, der Direktor des Instituts für Nahoststudien beim „German Institute for Global and Area Studies“ (GIGA), die Saudis bezichtigte, die weltweit meisten Hinrichtungen gemessen an der Bevölkerungszahl durchzuführen.[3]

Diesen traurigen Titel hält aber nach wie vor das iranische Regime, das 2015 sechsmal mehr Menschen (957) hinrichtete als Saudi-Arabien (157), was die saudischen Verbrechen freilich nicht relativiert.[4]

al-Nimr: Ein Parteigänger Teherans

43 der 47 Männer, die das sunnitische Königsreich exekutierte, waren Sunniten. Dies ist ein Umstand, der zur gängigen Annahme vom „Religionskrieg“ zwischen Schiiten und Sunniten nicht recht passt. Es handelt sich um 43 al-Qaida-Kader, die wegen Mord verurteilt wurden, also, so die Bundesregierung, um „Personen, die auch nach unserem Rechtsverständnis als Terroristen qualifiziert werden könnten“.[5]

Vier der 47 Getöteten waren Schiiten, darunter Scheich Nimr al-Nimr, den die Saudis im Oktober 2014 wegen Aufwiegelung, Ungehorsam und Waffenbesitz zum Tode verurteilt hatten. Dieses Urteil war gewiss ein Skandal und al-Nimrs Hinrichtung ein politisch motivierter Mord. Gleichwohl gilt, dass al-Nimr nicht der Menschenrechtsaktivist und Gewaltverächter war, als den ihn die iranische Führung dem Westen gegenüber rühmt.[6]

In den Achtzigern war al-Nimr überzeugter Khomeinist und einer der Führer der Hisbollah-Bewegung im Hedschas, die bewaffnet gegen die Herrscher Saudi-Arabiens, Bahreins und Kuwaits kämpfte.[7] Auch wenn er nach einem Amnestieangebot der Saudis seine Worte mäßigte, blieb er Teheran verbunden. „Wir unterstützen Iran von ganzem Herzen und werden dies auch weiterhin mit allem, was uns zur Verfügung steht, tun“, sagte al-Nimr im Juli 2008. „Iran hat das Recht, … die zionistische Entität zu zerstören … und sich die nukleare Fähigkeiten zum Zweck der Selbstverteidigung zu erwerben.“[8]

Al-Nimr grenzte sich von der Mehrheit der schiitischen Saudis, die ihre Zukunft in einem reformierten Saudi-Arabien sehen, stets ab. Er beschwor die Märtyreridee und kämpfte für die Abtrennung der mehrheitlich von Schiiten bewohnten Ostprovinz Saudi-Arabiens – einer Provinz, in der die wichtigsten saudischen Ölquellen liegen. Er unterstützte, ohne selbst zum bewaffneten Aufstand aufzurufen, das militant-schiitische Lager der Region.[9]

Al-Nimrs Bedeutung für Irans Expansionspolitik erklärt, warum Revolutionsführer Ali Khamenei nach dessen Hinrichtung von „göttlicher Rache“ sprach, die das saudische Königshaus nun treffen werde. Sie erklärt, warum sein Tod wütende Proteste radikaler Schiiten nicht nur in der saudischen Ostprovinz, sondern auch im Libanon, in Bahrain, in Pakistan, in Jemen sowie in den irakischen Städten Bagdad, Basra, Najaf und Kerbala auslöste; Proteste, die in der Zerstörung der saudischen Botschaft in Teheran gipfelten.

Der Sturm auf eine Botschaft aber war immer schon ein Akt der Kriegserklärung. Das freie Geleit des Botschafters ist erstes Gebot der Zivilisation. Wer hiergegen verstößt, setzt Gewalt an die Stelle von Diplomatie und Chaos an die Stelle des internationalen Rechts. Was hat es zu bedeuten, dass sich Irans Machthaber dieses Mittels erneut bedienten?

Revolutions- oder Nationalstaat?

„Der Iran muss sich entscheiden, ob er ein Nationalstaat oder eine Revolution ist“, erklärte am 9. Januar 2016 der saudische Außenminister Adel al-Jubeir.[10] Was immer man von ihm sonst halten mag: hier hatte al-Jubeir Recht. In diesem Punkt unterscheidet sich das iranische außenpolitische Selbstverständnis vom saudischen fundamental.

Der Iranist Kaveh L. Afrasiabi spricht von einem „Quasi-Staat“ Iran: Charakteristisch für Teheran sei „eine duale Aktionslogik, bei der sich die disparaten Interessen von Revolutionismus und Nationalstaatlichkeit vermischen“. Deshalb verweigere „sich das Quasi-Regime der gewöhnlichen Diplomatie.“[11]

Das aber zeichnete auch die Verhandlungen über den Atomdeal aus: Während Außenminister Mohammed Javad Zarif in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ beteuerte, dass der Iran „von der Konfrontation weg wolle“, bezeichnete Revolutionsführer Khamenei die USA als „ewigen Feind“ und setzte die Atomverhandlungen mit einer Art der Kriegsführung gleich: „Jeder Schritt, ob vorwärts oder zurück, ähnelt einer Entscheidung auf dem Schlachtfeld.“[12]

Während sich Irans Vertreter bei den Atomgesprächen um einen staatsmännischen Anstrich bemühten, tat Teheran alles, um als „Revolutionsstaat“ den Status Quo im Libanon, Syrien, Irak, Bahrein und Jemen mittels schiitischer Milizen zu destabilisieren und zu überwinden.

Der Westen aber ließ den Revolutionsgarden über Jahre hinweg freie Hand, um den Atomdeal nicht zu gefährden.[13] Und nicht nur das. Er erkannte Iran als nukleare Schwellenmacht an, zeigte sich bereit, an die 100 Milliarden Dollar als Gegenleistung für das vorläufige Einfrieren seines Atomprogramms an den Iran freizugeben und akzeptierte Teherans syrischen Klienten Baschar al-Assad.

Allmählich wurde es dem saudischen Regime, dem in der Region ehemals engsten Verbündeten der USA, zu bunt. „Indem sie provokant den bekanntesten schiitischen Geistlichen des Landes töten, ziehen sie ihre eigene rote Linie gegenüber Iran, weil sie zweifeln, dass die USA das tun“, äußerte Dennis Ross, ein ehemaliger Berater des amerikanischen Präsidenten.[14]

Die rote Linie der Saudis gilt der Ausrichtung der iranischen Außenpolitik. Erst, „wenn der Iran sich wie ein normales Land verhalte und internationale Normen respektiere“, würden die Beziehungen „wieder normalisiert“, erklärte der saudische Außenminister, nachdem er die diplomatischen Beziehungen mit Teheran eingestellt und die Flüge nach Iran gekappt hatte.[15]

Kante zeigen! – ein solche Politik hat nicht nur Israel seit langem vom Westen und besonders von Deutschland gefordert; vergeblich, wie wir wissen. Es kennzeichnet aber das Paradox unserer Zeit, dass man ausgerechnet einem Land wie Saudi-Arabien, einem der grausamsten und reaktionärsten Regimes der Welt, diese rote Linie zugutehalten muss, während der Westen weiter im Appeasement-Modus verharrt.

Dieser Modus besagt, dass den Frieden diejenigen gefährden, die das iranische Regime reizen, anstatt Konflikten mit ihm aus dem Weg zu gehen.

Rainer Hermann, Berichterstatter der FAZ, brachte diese Haltung auf den Punkt: „Solange sich das Haus Saud von der Obsession leiten lässt, Iran in die Schranken weisen zu müssen, laufen alle Versuche, den Nahen Osten zu befriedigen, ins Leere.“[16] Wer also Teheran überhaupt noch Schranken auferlegen möchte, anstatt sich dem Regime zu beugen, sei somit, so Hermann, nicht nur ein bisschen gestört („obsessiv“), sondern er verhindere auch einen Frieden, der nur noch als ein iranischer gedacht werden kann.

Ein Teil der arabischen Welt scheint indes seine Angst zu überwinden. Das mag kurzfristig „Dialoge“ erschweren, blockiert aber mittelfristig die Gewalt. Denn Rainer Hermann hat unrecht, das Gegenteil ist wahr: Je größer die Handlungsfreiheit des iranischen Regimes, desto größer die Katastrophen in der Region. Oder umgekehrt: Je effektiver die Revolutionsgarden in ihre Schranken gewiesen werden, desto größer die Aussicht auf Frieden.

[1] Tagesthemen, 4. Januar 2016.

[2] Teheran bemüht um Eingrenzung der Eskalation, in: Deutschlandfunk, 3. Januar 2016.

[3] „Zu einem dritten Golfkrieg wird es nicht kommen“, Henner Fürtig im Gespräch mit Christoph Heinemann, in: Deutschlandfunk, 4. Januar 2016.

[4] UANI-Statement and Fact Sheet on Executions in Iran, auf: http://unitedagainstnucleariran.com/press-releases/uani-statement-and-fact-sheet-executions-iran . Im Iran leben 2,5 mal so viel Menschen (77,45 Mio.) wie in Saudi-Arabien (28,83 Mio.).

[5] So Staatssekretär Schäfer vom Auswärtigen Amt anlässlich der Regierungspressekonferenz vom 4. Januar 2016.

[6] Mohammed Javad Zarif, Saudi Arabia’s Reckless Extremism, in: New York Times (NYT), 10. Januar 2016.

[7] Joseph Braude, On the execution of Saudi Schi’ite cleric Nimr al-Nimr, Foreign Policy Research Intsitute, 2. Januar 2016, auf: http://www.fpri.org/geopoliticus/2016/01/execution-saudi-shiite-cleric-nimr-al-nimr

[8] www.rasid.com, July 14, 2008, zitiert in: MEMRI, Recent Rise in Sunni-Shi’ite Tension (Part III): Sectarian Strife in Saudi Arabia, Inquiry & Analysis Series Report No. 482, December 16, 2008.

[9] Joseph Braude, a.a.O. .

[10] Ahmed Al Omran, Saudi Arabia Steps Up War of Words With Iran, Wall Steet Journal (WSJ), 9. Januar 2016.

[11] Kaveh L. Afrasiabi, After Khomeini: New Directions in Iran’s Foreign Policy, Boulder, Colo. 1994, S. 29f.

[12] Mohammad Javad Zarif, What Iran Really Wants: Iranian Foreign Policy in the Rouhani Era, Foreign Affairs, May/June 2014 und Khamenei: I Told the Negotiating Team that the Nuclear Talks Have Red Lines that Must Not Be Crossed, iran Daily Brief, November 20, 2013.

[13] Siehe mein Jungle Word-Dossier vom 26. November 2015 zu diesem Thema auf http://www.matthiaskuentzel.de/contents/der-bock-als-gaertner .

[14] Dennis B. Ross, The Saudis Are Rightly Concerned About Iran, in: NYT, 5. Januar 2016.

[15] Außenminister stellt Handel mit Iran ein, in: Deutschlandfunk, 4. Januar 2016.

[16] Rainer Hermann, Kriegserklärung, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 4.1. 2016.

Die Jungle World – Veröffentlichung dieses Artikels findet sich hier .