Die Menschheit muss Selbstmordattentate ächten

Umfragen in muslimischen Ländern belegen, dass die Mehrheit der Bevölkerung Selbstmordattentate ablehnt. Als ihr Erfinder gilt Ajatollah Khomeini. Die Taten sind Verbrechen gegen die Menschheit

Von Matthias Küntzel

DIE WELT, 24. März 2016

Das Grauen, das Europa nach den Brüsseler Terroranschlägen erfasst, beginnt schon mit dem Selbstmordattentäter selbst. Er hat in sich den Instinkt abgetötet, der eigentlich allen Lebewesen gemeinsam ist: den Überlebensinstinkt. Wer aber entschlossen ist, sein Leben zu opfern, lässt sich durch nichts abschrecken und ist zu jedem Verbrechen bereit.

Bisher war Krieg eine räumlich und zeitlich begrenzte Ausnahmesituation. Der Selbstmordterrorist hebt diese Begrenzungen auf. Sein Tatort ist der Flughafen, die U-Bahn, der Konzertsaal, das Café, die Moschee oder der Markt – Orte, an denen sich Menschen sammeln.

Seine Kriegsführung ist heimtückisch: Die Flughafenattentäter von Brüssel hatten sich perfekt als Touristen getarnt, um diejenigen zu töten, die sie arglos in ihre Mitte ließen.

Das scheinbar Sinnlose folgt einem klaren Konzept. „Selbstmordattentate bringen dem Feind das größtmögliche Grauen bei relativ geringen Verlusten für die islamistische Bewegung“, schrieb Ayman al Zawahiri, der Führer von al-Qaida, in seinem 2001 erschienenen Buch „Knights under the Prophet’s Banner“. Am besten seien Anschläge, die möglichst viele Zivilisten töten: „Das verbreitet bei den Völkern des Westens den größten Schrecken. Das ist die Sprache, die sie verstehen.“

Eine perfide Kriegsform

Inzwischen wurden Selbstmordattentate längst zu einem Fluch für die islamische Welt, fallen ihnen doch in erster Linie Muslime zum Opfer. Sie sind gleichzeitig die schlimmste Bedrohung der freien Welt: Sie nötigen die Gesellschaften, entweder die Freiheit zu opfern, um Sicherheit zu schaffen – oder in Unsicherheit und Angst zu leben.

All die Rufe nach bessere Überwachung und geheimdienstlicher Operation, die man jetzt wieder hört, all die Versuche, den Islamischen Staat mit Luftschlägen zu treffen, greifen deshalb zu kurz, solange dies eine nicht gelingt: Die Kriegsform des Selbstmordattentats als ein Verbrechen gegen die Menschheit so zu ächten, wie man einst den Einsatz der ABC-Waffen geächtet hat.

Anders als vielfach angenommen, ist der islamistisch motivierte Selbstmordattentäter eine historisch neue Figur. Vor vierzig Jahren hat es ihn noch nicht gegeben.

Von 1979 bis 1989 führten die Islamisten, unterstützt von den USA, ihren Krieg gegen die Sowjets in Afghanistan. In diesem Zeitraum fand kein einziges Selbstmordattentat statt, widerspricht doch dieses Kampfmittel dem Koran. Erstens verbietet auch der Islam das Menschenopfer für Gott, zweitens ist die Selbsttötung strikt untersagt und drittens ist die Tötung von Unschuldigen, die sich zufällig am Ort des Massakers aufhalten, verboten. „Begeht nicht Selbstmord“, heißt es etwa in Sure 4, Vers 29 und 30 des Koran. „Wer dieses tut (…), den werden Wir brennen lassen im Feuer.“ (Nach der Übersetzung von Max Henning in der Reclam-Ausgabe des Koran.)

Muslimbrüder und Märtyrerkult

Gewiss: Es finden sich im Koran zahllose Verse, die die Gläubigen aufrufen, nicht das diesseitige Leben, sondern allein das „jenseitige“ zu lieben. Darauf aufbauend entwickelten die 1928 in Ägypten gegründeten Muslimbrüder ihren Märtyrerkult: Für sie war und ist „der Tod für die Sache Gottes ihr erhabenster Wunsch.“

Und doch war ihr Aufruf, den Tod im Zuge des Djihad gegen Ungläubige nicht zu fürchten, von der heutigen Praxis des suizidalen Massenmords, bei dem die Täterin und der Täter den Selbstmord willentlich vorbereiten, weit entfernt.

Es bedurfte der Beihilfe der islamistischen Schiiten, um die Kluft zwischen Märtyrerverherrlichung und Selbstmordkultur zu schließen.

1982, im Krieg zwischen dem Irak und dem Iran, schickte Irans Revolutionsführer Khomeini erstmals Tausende iranischer Kinder in den sicheren Tod: Er veranlasste sie, die Minenfelder mit ihren jungen Körpern zu räumen, um, so die Propaganda, ins Paradies zu kommen.

Der Märtyrer als Waffe

Im November 1982 kopierte der 15-jährige Schiit Ahmad Qusayr erstmals diese Methode und sprengte in der libanesischen Stadt Tyros sich selbst und einige Israelis in die Luft. Khomeini erklärte Qusayr zum „Helden des Islam“ und ließ ihm in Teheran ein Denkmal errichten, wie Josef Croiteru 2003 in seinem Buch “Der Märtyrer als Waffe” schrieb. Das Kampfmittel des suizidalen Massenmords war geboren.

Es vergingen mehr als zehn Jahre, bevor auch die sunnitischen Islamisten ihre religiös bedingten Skrupel überwanden und dem Beispiel Ahmad Qusayrs folgten: 1993 starteten die Al-Qassam-Brigaden der Hamas ihre erste Selbstmord-Operation.

Obwohl theologisch weiterhin umstritten setzte sich dieses Kampfmittel einige Jahre später, im Zuge der zweiten Intifada, durch. Mittelweile hat es sich epidemisch und global verbreitet: 2013 hatte es weltweit 305 Selbstmordattentate gegeben. 2014 waren es 592 Angriffe, eine Steigerung um 94 Prozent. (Amos Harel in “Ha’aretz”, 4.1.2015)

In Teheran ist man hierauf auch jetzt noch stolz. „Wir sehen heute, dass sich die Liebe zum Märtyrertum wie ein Lauffeuer alltäglich in jedem Land auf der Welt verbreitet“, erklärte im Februar 2015 Ali Shirazi, der Vertreter des iranischen Revolutionsführers Ali Khamenei bei den Revolutionären Garden. (MEMRI, Special Dispatch No 5996, 17.3.2015).

Teheran steht zunehmend allein da

Der vom Westen als moderat eingestuften iranischen Außenminister Javad Zarif bezeichnete „die Kultur des Opfers und des Märtyrertums“ als „den Eckstein der iranischen Macht“. (J. Zarif, Culture of sacrifice, martyrdom corner stone of Iran’s power, IRNA, 15. September 2014).

Mit dieser Haltung steht Teheran zunehmend jedoch allein, wie Umfrageergebnisse des renommierten PEW Research Centers zeigen. Während 2005 nur 11 Prozent der Jordanier Selbstmordattentate grundsätzlich ablehnten, waren es 2014 bereits 55 Prozent.

Bei den Libanesen stieg die Ablehnungsrate im gleichen Zeitraum von 33 auf 45 Prozent, bei den Pakistani Pakistan von 46 auf 83 Prozent und in Indonesien von 66 auf 76 Prozent.

Dementsprechend ging die Bejahung von Selbstmordattentaten in Jordanien von 57 Prozent in 2005 auf 15 Prozent in 2014 zurück. Im Libanon war es ein Rückgang von 39 auf 29 Prozent, in Pakistan von 25 auf drei Prozent und in Indonesien von 15 auf neun Prozent.

Sunnitische Welt geht auf Distanz

Darüber hinaus setzen sich derzeit wichtige Sprecher der sunnitischen Welt von diesem Kampfmittel ab. Zu ihnen gehört Muhammad Aal Al-Sheikh, ein bekannter saudischer Journalist, der im September 2015 in der regierungseigenen Zeitung „Al-Jazirah“ alle „vernünftigen Theologen“ dazu aufrief, gegen Selbstmordattentate anzugehen: „Wenn die religiösen Gelehrten des saudischen Königsreichs … es den Herrschern in der gesamten muslimischen Welt erlaubten, einen jeden zu beobachten, zu bestrafen und abzuschrecken, der Selbstmordoperationen unterstützt – dann würden wir nicht nur die Hände von ISIS und Al-Qaida binden, sondern auch den Islam gegen jene verteidigen, die mit ihm spielen und ihn geringschätzen.“ (MEMRI Special Dispatch No 6170, 30. September 2015)

Inzwischen rückte selbst Scheich Yusuf al-Qaradawi, einer der schlimmsten islamistischen Ideologen der Gegenwart, von seiner Zustimmung zu Selbstmordattentaten ab: „Es gibt für Märtyreroperationen keine Rechtfertigung mehr.“ (MEMRI, Special Dispatch No 6116, 28. Juli 2015)

Seine Begründung für diesen Meinungsschenk ist abwegig: Da die Palästinenser mittlerweile über weitreichende Raketen verfügten, seien sie auf Selbstmordattentate nicht länger angewiesen. Doch zeigt auch diese Korrektur, dass sich in relevanten Sektoren der islamischen Geistlichkeit etwas tut.

Bisher wird diese Entwicklung im Westen ignoriert. Damit muss Schluss sein. Stattdessen muss die Staatengemeinschaft diese Entwicklung aufgreifen und darauf hinwirken, dass das Selbstmordattentat zu einem Verbrechen gegen die Menschheit erklärt wird: vom Bundestag, der EU, den Vereinten Nationen und auch vom Internationalen Gerichtshof.

Es geht immerhin um den künftigen Zustand freier Gesellschaften. Dieser wird maßgeblich davon bestimmt sein, ob der Todeskult der Selbstmordattentäter zurückgedrängt und beseitigt werden kann, oder nicht.

Der Originalbeitrag der WELT findet sich hier .