Die Initiatoren des Krieges gegen Jugoslawien sitzen in Bonn, nicht in Washington

Von Matthias Küntzel

Jungle World, April 1999

Warum wird Jugoslawien kaputtgebombt? Hinsichtlich der deutschen Interessenlage ist diese Frage noch am leichtesten zu beantworten: Dieser Krieg ist die Fortsetzung der deutschen Jugoslawienpolitik mit anderen Mitteln. Diese ist stets einem Sonderweg gefolgt.

Die anderen NATO-Mächte suchten über Jahre hinweg die territoriale Integrität eines multiethnischen Jugoslawiens zu verteidigen und den auf die Region ausstrahlenden Konflikt zwischen Serben und Kosovo-Albanern zu dämpfen, indem sie nicht nur Druck auf Belgrad , sondern auch auf die UCK ausübten. Die Bundesregierung hingegen setzte auf Grundlage ihrer völkisch ausgerichteten Destablisierungspolitik von Anfang an auf Eskalation. Die Verhandlungspolitik “des Westens” wurde unterminiert und bekämpft, und als eine “Fehleinschätzung der Situation, die auf europäischen Vorstellungen von zivilem Dialog und Konsens-Kultur gründet”, kritisiert, wie die FAZ am 11.3.98 schrieb. Anders gesagt: Im Umgang mit den finsteren Serben ist nicht der “ziviler Dialog”, sondern, wie in Weltkrieg I und II, brachiale Gewalt angesagt.

Im Mai 1998 lehnte Bonn aus diesem Grund die Unterbindung des Waffentransfers von Albanien zur UCK ab, da eine derartige Maßnahme darauf hinauslaufe, “das serbische Unterdrückersystem gegen die Kosovo-Albaner zu unterstützen.” (FAZ, 28.5.98) Als erste und damals einzige Macht forderte Deutschland (genauer: Volker Rühe und Joschka Fischer; Klaus Kinkel hatte sich distanziert) im Juni 1998 den NATO-Militärschlag gegen Milosevic. “Rühes forsches Verlangen sorgte für erhebliche außenpolitische Verwirrung”, berichtete der Spiegel. “Ausgerechnet die Deutschen preschen in dieser heiklen Frage vor, monierten mehrere Amtskollegen Kinkels in der Außenministerrunde beim EU-Gipfel in Cardiff.” (Heft 26/98) An anderer Stelle wurde das deutsche Vorpreschen hingegen ausdrücklich gelobt. Die Bundesregierung habe “für ein beherztes Eingreifen plädiert, als Washington seinen Balkan-Radar abgeschaltet hatte.” Damit habe Deutschland “Bündnisfähigkeit und, dagegen ist nichts einzuwenden, seinen Führungswillen bewiesen”, schrieb anerkennend am 26.9.98 die FAZ.
Für die Umsetzung dieses Führungswillens erwies es sich als vorteilhaft, daß der mit Abstand wichtigste Posten im NATO-Apparat, der Vorsitz des NATO-Militärausschusses, von dem ehemaligen Generalinspekteur der Bundeswehr, Klaus Naumann, bekleidet wird. Eben jener Militärausschuß wurde im Juni 1998 mit der Ausarbeitung von Einsatzmöglichkeiten beauftragt, die die Gewaltanwendung beider Konfliktparteien beenden sollten. “Allzu wörtlich haben die Planer ihren Auftrag aber offenbar nicht genommen”, analysierte später der Leiter des Hamburger Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, Reinhard Mutz. “Denn die Einsätze, die sie vorschlagen, ... wären einseitig gegen einen der beiden Kontrahenten gerichtet. ... Die Kontrolle der albanischen Grenze fehlt bezeichnenderweise im Katalog der NATO-Optionen. Minister Rühe hatte sie schon im Vorfeld für politisch unerwünscht erklärt.” (Streitkräfte und Strategien, 8.8.98)
Die von Naumann vorgeschlagenen Einsätze liefen entweder auf die Stationierung von 53.000 NATO-Soldaten zur “Friedenssicherung” im Kosovo oder auf den Einsatz von 200.000 NATO-Soldaten im Bodenkrieg hinaus. (FAZ, 14.8.98) Während General Naumann offen für den Bodenkrieg Partei ergriff, wurde der Einsatz dieser Truppen von anderen NATO-Staaten hinter verschlossenen Türen in Frage gestellt: “Hinter den martialischen Kulissen jedenfalls wühlt ein international besetzter Chor schon wieder nach den Noten für das Hohelied auf Gewaltverzicht und friedliche Einigung”, mokierte sich Constanze Stelzenmüller in der ZEIT. (8.10.99)
Unausgesprochen oder ausgesprochen lief die deutsche Orientierung darauf hinaus, den Willen der Serben mit Gewalt zu brechen, um entweder die Unabhängigkeit des Kosovo oder aber die Errichtung eines Protektorats der Westmächte im Kosovo durchzusetzen. Von dieser Warte aus betrachtet kann der bisherige Verlauf des NATO-Krieges nicht als ein Debakel, sondern nur als ein Erfolg bewertet werden.

Warum aber haben sich die historischen Gegenspieler der deutschen Ambition, Frankreich, Großbritannien und die USA, der von Klaus Naumann gezeichneten Linie im Januar 1999 plötzlich angeschlossen? Und warum haben sich die USA an die Spitze eines Prozesses gestellt, der unausweichlich den Bodenkrieg und die unumkehrbare Abspaltung des Kosovo zur Folge haben wird?
In diesem Krieg geht es nicht allein um die Frage der Sezession. Die Schlachtfelder des Kosovo sind zugleich das Kampffeld für die Austragung von innerimperialistischen Konflikten.
Der ebenso mörderische wie unvermeidliche Kampf um die Neuverteilung von Einfluß und Macht tritt in Jugoslawien in eine neue Runde ein. Übergreifend geht es der NATO und insbesondere den USA darum, die russische Position in Ost- und Südosteuropa weiter zurückzudrängen und die eigene Machtstellung in der gesamten Region zu erhöhen. NATO-Osterweiterung und Kosovo-Krieg sind insofern miteinander verknüpft.
Hinter den Kulissen der NATO tobt zugleich ein Machtkampf zwischen den Großmächten der Allianz. Die Zuspitzung der Widersprüche zwischen der EU und den USA beleuchtet beispielhaft ein IHT-Kommentar des renommierten Journalisten William Pfaff:
“Der bekannte Spruch aus den 40ern besagt, daß der Zweck der NATO darin bestand, die Amerikaner drinnen, die Russen draußen und die Deutschen unten zu halten. Es liegt in der Natur der heutigen Verhältnisse, daß der letzte Zweck weiterlebt, sofern man ,Deutschland’ mit ,Europäische Union’ übersetzt. Angesichts der Tatsache, daß die EU auf dem Sektor der Ökonomie und des Handels immer härter und wettbewerbsbetonter auftritt”, heißt es bei Pfaff weiter, “liefert die andauernde Vorherrschaft der USA auf dem Feld der europäischen Sicherheit ein nützliches Gegengewicht. ... Die derzeitigen Unstimmigkeiten über die neue Auftragsdefinition der NATO sind der unausgesprochene und erstaunlich diskret behandelte Ausdruck dieser neuen Konkurrenzbeziehung zwischen Westeuropa und den USA.” (International Herald Tribune, 23.2.99)
Auch innerhalb der Europäischen Union gehen die Meinungen über den Kosovo-Krieg weit auseinander. Im Gegensatz zur deutschen Position standen beispielsweise Frankreich und Großbritannien der Bombardierung Belgrads noch drei Wochen vor Kriegsbeginn höchst skeptisch gegenüber. Dies geht aus einem IHT-Beitrag von Josef Fitchett hervor, der es am 5.3.1999 als “unwahrscheinlich” bezeichnete, “daß die NATO von den europäischen Regierungen eine Zustimmung für Luftschläge erhalten” werde. Offiziell hätten sich zwar “London und sogar auch Paris” hinter die Kriegsoption gestellt. Sie hätten damit aber lediglich “einen öffentlichen Streit mit Washington über ein theoretisches Problem vermeiden wollen, dessen Umsetzung in die Praxis sie ohnehin nicht erwarteten.”
Könnte es sein, daß sich Frankreich und Großbritannien im Verhandlungspoker von Rambouillet verkalkuliert hatten? Wollten die USA mit der Übernahme der Führung im Kosovo-Krieg und der Kontrolle seiner von Deutschland ausgelösten Dynamik die Europäische Union bzw. deren deutsche Vormacht “unten halten”? Hatten die USA im Vorfeld der Bombardierung das Risiko des Angriffs auf Jugoslawien geringer bewertet, als das Risiko einer Glaubwürdigkeitskrise der NATO, die deren Auseinanderfallens beschleunigen könnte?
Wie dem auch sei: Aus der Sicht der USA, deren Interesse an einer Erhaltung der jugoslawischen Integrität schemenhaft zumindest auch in der Phase der Ramboillet-Verhandlungen noch zu erkennen war, kann der bisherige Verlauf des NATO-Krieges nicht als ein Erfolg, sondern nur als ein Debakel bewertet werden. Ironischerweise könnte es zudem gerade die Aktivierung der NATO für diesen Krieg sein, die der von Deutschland nicht nur geliebten Allianz einen Garaus macht.

Während die USA auf den ersten Blick bei den Angriffen auf Jugoslawien der Hauptkriegstreiber zu sein scheint, macht die genauere Analyse deutlich, daß die Initiatoren der derzeitigen Zerschlagung Jugoslawiens nicht in Washington, sondern in Bonn oder Berlin zu finden sind. Während die USA ihre nationale Interessen ebenso nüchtern wie brutal formulieren und diskutieren, basiert die deutsche Kriegs- und Interessenspolitik auf einer völkischen Ideologie und der wahnhaften Projektion von “KZ”- und “Auschwitz”-Phantasien auf den jeweiligen Feind. Diese wirkungsmächtigen Differenzen zu betonen hat mit einer Parteinahme für die Politik der USA als angeblich kleinerem Übel nichts zu tun. Diese verbietet sich in diesem Krieg von selbst. Ebenso abenteuerlich und verkehrt ist allerdings die Parteinahme für jene “deutschen Kriegsgegner”, die Deutschland als opportunistischen Mitläufer oder gar Opfer des Kosovo-Krieges stilisieren, um ihren Nationalismus erneut antiamerikanisch ausagieren zu können. Zwischen der Losung “Hauptfeind USA!” und der Carl Schmitt-Parole vom “Interventionsverbot für raumfremde Mächte” liegt in diesem Land nur ein Schritt.

Matthias Küntzel

(aus: Jungle World, 14. April 1999)