„Die Araber und der Holocaust“ von Gilbert Achcar

Rezensiert von Colin Meade und

Von Matthias Küntzel

Hamburg, den 19. August 2012

Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gilt die nazideutsche Politik in fast allen Teilen der Welt als Synonym für eine besonders verbrecherische Politik. Nicht so jedoch in der arabischen Welt, wo positive Gefühle gegenüber Hitler und dessen Politik der Judenvernichtung seit Jahrzehnten zum Mainstream-Diskurs gehören. Schon deshalb – aber auch aufgrund der aktuellen arabischen Aufstände – verdient das Thema des jüngsten Buches von Gilbert Achcar – “Die Araber und der Holocaust” – größte Aufmerksamkeit.

Im ersten Teil seines Buches beschäftigt sich Achcar mit den “Arabischen Reaktionen auf den Nationalsozialismus und den Antisemitismus, 1933-47”. Der Autor widmet die Hälfte dieser Darstellung der Entstehung der islamistischen Bewegung (“Reaktionäre und/oder fundamentalistische Panislamisten”) im arabischen Raum. Weitere Unterkapitel beschäftigen sich mit der Haltung der übrigen damals noch existierenden arabischen Strömungen: den “westlich orientierten Liberalen”, den “Marxisten” und den “Nationalisten”.

Im zweiten Teil behandelt der Autor die “Arabischen Einstellungen gegenüber den Juden und dem Holocaust in der Zeit von 1948 bis heute”. Hier sind die Kapitel in die Epochen “Die Nasser-Jahre (1948-67)”, “Die PLO-Jahre (1967-1988)” und “Die Jahre des islamischen Widerstands (1988 bis heute)” unterteilt. Ein ebenso geradliniger wie logischer Aufbau, möchte man meinen und nimmt das Buch mit Interesse zur Hand.

Bei der Lektüre stellt man jedoch fest, dass zutrifft, was die beiden Historiker Prof. Stephen Howe und Prof. Jeffrey Herf über das Buch sagen: dass “Achcar ein Mensch ist, der mit dem, was er in seinem eigenen Buch geschrieben hat, auf Kriegsfuß steht”[1]; dass er auf seinen eigenen Buchseiten “ein Kombatant, ja selbst ein Opfer jenes Krieges ist”, den er beschreibt.[2]

Man könnte es auch so formulieren: In diesem Buch versucht ein Autor aus dem Lager der politischen Linken, die Dogmen des westlichen Antizionismus vor der Realität des arabischen Antisemitismus zu schützen.

Uber das Verhältnis zwischen Nazismus und Pan-Islamismus

Achcar ist vermutlich der erste antizionistische Autor, der die ideologische Verwandtschaft zwischen dem Nationalsozialismus und dem Pan-Islamismus der Dreißiger- und Vierzigerjahre beschreibt und kritisiert.

Er verweist auf “die Sympathien, die islamische Fundamentalisten allgemein für den Nationalsozialismus hegten, sowohl während des Nazi-Regimes als auch im Nachhinein” und bestätigt, was andere Autoren vor ihm geschrieben haben: Dass der ägyptische Religionsgelehrte Rashid Rida, ein Freund des Nationalsozialismus, der wichtigste geistiger Mentor der islamistischen Bewegung gewesen war.[3] Rida “rechtfertigte seine Sympathie für den Nationalsozialismus, indem er diesen als Instrument zur Durchsetzung des göttlichen Willens auslegte, Ketzerei und Irrglaube wie auch falsche Versionen des Islam hinwegzufegen und so den Weg für den endgültigen Triumph der mohammedanischen Offenbarung zu ebnen.”[4]

Der Grund für jene Affinität zwischen Pan-Islamismus und Nationalsozialismus “ist simpel”, schreibt Achcar: “Nicht in Großbritannien, sondern in den Juden wurde der gemeinsame Feind gesehen.”[5] Kritisch geht Achcar auch mit den drei prominentesten Schülern Rishad Ridas zu Gericht.

Da ist erstens Amin el-Husseini, der Mufti von Jerusalem, der “die antisemitische Lehre der Nazis zweifellos übernommen” hat. Seine Haltung, konstatiert Achcar, “deckt sich, bis hin zu Husseinis Lob der ,Endlösung‘, völlig mit dem Antisemitismus der Nazis.”[6] Diesen Standpunkt behielt el-Husseini bis zu seinem Tod im Jahre 1974 bei. Achcar betont, dass el-Husseini weder aus seiner “Begeisterung für Hitler” noch aus seinen Glauben an die “Vorstellungen der Nazis von einer jüdischen Weltverschwörung”[7] je einen Hehl gemacht hatte.

Da ist zweitens Hassan al-Banna, der Gründer und Führer der Muslimbruderschaft. Achcar berichtet über “die Übereinstimmung in den Ansichten und die enge Zusammenarbeit zwischen der Muslimbruderschaft und Mufti.”[8] Einerseits operierten die Moslembrüder “mit dem Segen des Muftis und konnten sich dessen Beliebtheit zunutze machen”. Andrerseits “unterstützten” die Muslimbruder “den Mufti zu Lebenszeiten unverbrüchlich… und (betrachteten ihn) als legitimen Führer des antizionistischen Kampfs.”[9]

Völlig zu Recht weist Achcar darauf hin, dass der Antisemitismus der Moslembrüder das Ende der Nazi-Herrschaft überlebte: “Am 2. November 1945, … organisierten das Junge Ägypten und die Muslimbrüder Angriffe auf jüdische Geschäfte und Einrichtungen …, die ersten der Art.”[10]

Da ist drittens Iss-ul-Din al-Qassam, der erste palästinensische Djihadist mit Verbindungen zu den saudischen Wahabiten und das Idol der Hamas bis zum heutigen Tag. Auch in Bezug auf Qassam und dessen Anhänger betont Achcar “die Gesinnungsgleichheit zwischen wahabitischem Fundamentalismus und Nationalsozialismus hinsichtlich ihres Antisemitismus.” Achcar beschreibt eine Aktion der Qassamiten, mit der diese am 15. April 1936 die so genannte Arabische Revolte auslösten:

“Es war abends um halb neun. An einer aus Fässern errichteten Absperrung auf einer Bergstraße der Region Nablus wurden Fahrzeuge angehalten. Die Absperrung wurde von drei bewaffneten Männern bewacht: Einer beobachtete die Straße, ein anderer hielt die Passagiere der gestoppten Fahrzeuge mit der Waffe in Schach, und der Dritte nahm ihnen ihr Geld ab. Dann wurden die Opfer gefragt, ob sich Engländer oder Juden unter ihnen befänden. Der Lastwagenfahrer und sein Begleiter, beide Juden, wurden an Ort und Stelle erschossen. Ebenfalls anwesend war ein Mann, der ,der Bande bewies, dass er Deutscher, Hitleranhänger und Christ ist und auf die Ehre Hitlers schwor, die Wahrheit zu sagen. Die drei ließen ihn ,Hitler zuliebe‘ laufen … mit 35 Pfund Sterling in der Tasche.”[11]

Im zweiten Teil seines Buches kommt Achcar auf die aktuelle Bedeutung jener pan-islamistischen Bewegung zurück:

“Die Banner mit Begriffen wie ,national‘, ,Volk‘ oder ,sozialistisch‘, die über früheren Kämpfen wehten, sind fast spurlos verschwunden; an ihre Stelle sind die Parolen der fundamentalistischen islamischen Bewegungen getreten. Zugleich hat der Antisemitismus in seiner traditionellen ebenso wie in seiner islamisierten Variante wie auch die damit einhergehende Holocaust-Leugnung … enorm zugenommen.”[12]

Als Beispiel zitiert Achcar die Charta der Hamas: “Insbesondere die Artikel 7 und 22 [der Charta] stellen eine komprimierte Fassung der islamisierten antisemitischen Hetze dar, in der sich Rashid Rida bereits in den Jahren unmittelbar vor seinem Tod 1935 ergangen hatte.”[13]

Achcar erklärt somit seinen Lesern, dass erstens ein nazi-ähnlicher Antisemitismus sehr viel früher in die Region gekommen war, als der Staat Israel und dass zweitens die Verbindung zwischen Islamismus und Nationalsozialismus nicht nur taktischer Natur gewesen ist, sondern speziell in der Frage des Antisemitismus auf gemeinsamen Überzeugungen basierte.

Er lässt darüber hinaus keinen Zweifel, dass der Kampf gegen Israel heute von eben jenen islamistischen Gruppen getragen wird, deren Judenfeindschaft heute wie damals Nazi-ähnliche Züge aufweist.

Für “die Feinde des Philistertums, mit einem Wort alle denkenden und alle leidenden Menschen”[14] liegen die Schlussfolgerungen dieser von Achcar referierten Erkenntnisse auf der Hand: Israel hat als jüdischer Staat nicht nur ein Recht auf Existenz, sondern insbesondere auch ein Recht auf Selbstverteidigung gegen die antisemitisch motivierten Angriffe aus der Region.

Doch genau an dieser Stelle beginnt Achcars Krieg “mit dem, was er in seinem eigenen Buch geschrieben hat.” So, als hätte ihn der herrische Befehl eines Zentralkomitees ereilt, dementiert Achcar noch im selben Text seine oben skizzierten Erkenntnisse und versteift sich stattdessen auf politische Agitation: Der zweite Teil seines Buches dient in erster Linie dem Zweck, eine gemeinsame antizionistische Kampffront mit den Antisemiten und den Holocaustleugnern der Hisbollah und der Hamas zu rechtfertigen – ein Vorgang, der wegen seiner Vergeblichkeit lächerlich anmutet, gleichzeitig aber auch als Beispiel intellektueller Selbstaufgabe schockiert.

Feindbild Israel

Bei Lichte betrachtet ist es außerordentlich ungewöhnlich, dass 70 Jahre nach dem Holocaust ein erklärter Antifaschist wie Achcar einzig und allein der jüdischen Nation das Recht auf einen eigenen Staat verweigert. Gleichwohl wird die antizionistische Mission, der sich Achcar verschrieben hat, in dessen Buch weder begründet noch erklärt: Der Autor konzipierte sein Werk für einen begrenzten Leserkreis und setzt bei diesem das Einverständnis, dass der jüdische Staat kein Existenzrecht besitze und bekämpft gehöre, voraus.

“Israel (ist) der einzige koloniale Siedlerstaat europäischen Ursprungs”, behauptet er apodiktisch und “der letzte verbleibende Konfliktherd des europäischen Kolonialismus.”[15] Der jüdische Staat sei nicht nur “allein für die palästinensische Katastrophe [von 1948] … verantwortlich”, sondern “versucht, muslimische und christliche heilige Stätten zu zerstören, lässt die Palästinenser verarmen, zerstört ihre Landwirtschaft und ihre ökonomischen Lebensgrundlagen und behandelt die eigenen palästinensischen Bürger schlecht etc.”[16]

Gleichzeitig lehnt Achcar selbst noch die Zweistaatenlösung ab. Eine Akzeptanz des UN-Teilungsplans von 1947 durch die Palästinenser “wäre einer unehrenhaften Kapitulation gleichgekommen”[17], weshalb die halbherzigen palästinensischen Befürworter jener Lösung bei ihm entweder Opportunisten (im Falle des PLO-Politikers Abu Iyad) oder Verräter sind. So verspottet Achcar über den gegenwärtigen PLO-Chef Mahmoud Abbas, er sei “der beste palästinensischen Freund Israels und der Vereinigten Staaten.”[18]

Gewiss – auch ein politisch voreingenommener Autor kann ein gutes Buch schreiben, solange er sich an die Fakten hält. In diesem Fall aber liefert das antizionistische Weltbild die Struktur, die er dem empirischen Material erbarmungslos überzustülpen sucht – was in diese Struktur nicht hineinpasst, wird abgeschnitten. Das antizionistische Weltbild aber zeichnet sich durch ein simples Schwarz-Weißmuster aus: Während die Israelis die Täter sind, die für alles Schlechte in der Region verantwortlich gemacht werden, sind die Palästinenser und deren islamistische Vorhut die Opfer, deren Politik und deren Antisemitismus zu entschuldigen Gilbert Achcar nicht müde wird.

Arabischer Antisemitismus: Israels Schuld

Können Sie sich vorstellen, dass ein Autor der politischen Linken den historischen Antisemitismus der Nazis hauptsächlich deswegen kritisiert, weil die Nazis mit diesem Antisemitismus den erforderlichen Kampf gegen jüdische Machenschaften diskreditieren und erschweren? Wir nicht! Wir müssen jedoch mit Bedauern konstatieren, dass sich Achcar, sofern es um den gegenwärtigen arabischen Antisemitismus geht, eben dieser Argumentation bedient.

Zwar lehnt auch Achcar den arabischen Antisemitismus ab. Er kritisiert ihn aber nicht in erster Linie deshalb, weil er auf die Tötung von Juden zielt und den Nahostkonflikt verschärft. Sondern er kritisiert den Antisemitismus, weil dieser den Kampf gegen Israel erschwere. Die Araber sollten erkennen, so sein Plädoyer, “dass die antisemitische Hetze und die blödsinnigen Holocaust-Leugnungen die israelischen Interessen nicht untergraben, wie ihre Urheber glauben, sondern der antiarabischen Propaganda Israels sogar Nahrung liefern.”[19]

Während es sich Achcar im ersten Teil seines Buches zur Aufgabe gemacht hat, den historischen Antisemitismus der Islamisten zu beschreiben und zu kritisieren, kanzelt er im zweiten Teil seines Buches jeden, der den gegenwärtigen Antisemitismus der Islamisten beschreibt und kritisiert, als willentlichen oder unwillentlichen Agenten Israels ab.

So bezeichnet er das Middle East Media Research Institute MEMRI, das die “antisemitische Hetze” dokumentiert, als “quasi eine Unterabteilung des israelischen Propagandaapparats” und Professor Robert Wistrich, den vielleicht bekannteste Antisemitismusexperten der Welt, als “einen weiteren am antiarabischen Propagandakrieg beteiligten Professor.”[20]

Achcar wirft MEMRI oder Prof. Wistrich keineswegs vor, falsch zu übersetzen, falsch zu berichten oder falsch zu interpretieren. Er kritisiert die Wahl ihres Themas, das der israelischen Propaganda angeblich a priori helfe. Nach dieser Logik kann nur derjenige der Propagandafalle entgehen, der den arabischen Antisemitismus ignoriert oder ihn entschuldigt.

Achcar hat sich für die zweite Variante entschieden. Er weicht der Hässlichkeit des arabischen Antisemitismus nicht aus, sondern schiebt sie Israel in die Schuhe:

“Die antisemitischen Äußerungen, die heutzutage aus der arabischen Welt kommen, (sind) meist kultureller Rückständigkeit geschuldete Phantastereien, in denen sich die tiefe Frustration einer unterdrückten Nation äußert. Die Verantwortung dafür ist in der Tat der Mehrheit ,der Juden‘ Palästinas und später dem ,jüdischen Staat‘ Israel zuzuschreiben.”[21]

Würde er sich aber jene “phantasiebeladenen Ausdrucksformen” genauer anschauen – er lehnt diese Aufgabe, wie wir oben gesehen haben, als “Propaganda” ab – , würde er schnell merken, dass es hier um Vernichtungsphantasien geht – um Phantasien, die auf die Vernichtung der Juden oder des jüdischen Staates zielen. Diese Phantasien haben mit politischen Konflikten nichts zu tun. Sie können nicht als “Reaktion” auf irgendetwas entschuldigt werden, das stattgefunden haben mag oder auch nicht.

Achcar, der wenige Seiten zuvor noch die vom Nationalsozialismus beeinflusste Geschichte dieses Antisemitismus beschrieben hat, möchte nunmehr von möglichen Zusammenhängen zwischen dem “europäischen” und dem “arabischen” Antisemitismus nichts mehr wissen: Die eigentliche Frage sei

“die Frage nach der tatsächlichen Bedeutung des Antisemitismus in der heutigen arabischen Welt. Und diese Frage zieht eine andere nach sich, bei der es um die Definition von Antisemitismus selbst geht: Inwieweit ist die Abneigung dem Antisemitismus im engeren Sinn zuzuschreiben? Ist der für europäische Rassisten früher wie heute typische, auf Hirngespinste gegründete Judenhass … gleichzusetzen mit dem Hass, den manche Araber empfinden, die empört sind über die Besetzung und Verwüstung arabischen Landes … ?”[22]

Zwar ist es richtig, dass sich die Umstände des arabischen Antisemitismus von den Umständen des Nazi-Antisemitismus erheblich unterscheiden. Umso mehr frappiert jedoch der Gleichklang der Parolen, der Karikaturen und der Phantasien. Doch eben jene Ähnlichkeiten will Achcar offenkundig nicht sehen. Oder kann er sie nicht sehen? Verhindert die von ihm praktizierte Dämonisierung Israels, dass er den Israel-bezogenen Antisemitismus der Islamisten erkennt? “Den Wahn erkennt natürlich niemals, wer ihn selbst noch teilt”, schreibt hierzu Sigmund Freud. [23]

Achcar bringt selbst noch für die Verbreitung der “Protokolle der Weisen von Zion” Verständnis auf:

“Es besteht durchaus ein qualitativer Unterschied zwischen einer irreführenden antisemitischen Auffassung, die davon ausgeht oder andere glauben machen will, dass die Führer der Juden oder der ,jüdischen Rasse‘ sich gegen den Rest der Welt verschworen haben, einerseits und einer ebenso irreführenden, aber nichtrassistischen Auffassung andererseits, die in einer Verschwörungstheorie eine tröstliche Erklärung für den Erfolg der Zionisten sucht.”

Mehr noch: Achcar beschwert sich, dass andere Autoren “die notwendige Unterscheidung zwischen der antisemitischen und der antizionistischen Lesart der russischen Fälschung” nicht vornehmen.[24]

Da aber in den “Protokollen” nie von “Zionisten”, stets aber vom “Judentum” die Rede ist, das die Weltherrschaft an sich zu reißen suche, ist sein Versuch, die islamistischen Propagandisten der “Protokolle” vom Vorwurf des Antisemitismus reinzuwaschen, obszön. Genauso gut könnte er eine “antizionistische Lesart” von Hitler’s Mein Kampf empfehlen. Immerhin ist Mein Kampf in der arabischen Welt ebenfalls weit verbreitet und zudem auch explizit antizionistisch orientiert: “Der Zionismus” schreibt hier Adolf Hitler, denkt “gar nicht daran, in Palästina einen jüdischen Staat aufzubauen.” Die Juden wollten lediglich eine “dem Zugriff anderer Staaten entzogene Organisationszentrale ihrer internationalen Weltbegaunerei.”[25]

Bei Achcar dient auch die Verharmlosung der “Protokolle” einem politischen Zweck: Er möchte Gambal Abdul Nasser und den “sozialistisch und antiimperialistisch gefärbten arabischen Nationalismus der 1950/60er Jahre” verteidigen. Nun ist jedoch bekannt – und Achcar räumt dies ein – dass Nasser die “Protokolle” nicht nur durch ägyptische staatliche Stellen verbreiteten ließ, sondern dass er deren Lektüre sogar ausdrücklich empfahl und behauptete, dass “dreihundert Zionisten, die sich alle untereinander kennen, das Schicksal des europäischen Kontinents bestimmen.”[26]

Gleichwohl nimmt er Gamal Abdel Nasser gegen den Vorwurf des Antisemitismus in Schutz: “Hier (liegt) einfach nur Ignoranz vor.” Für Achcar liegt der Skandal nicht darin, dass 15 Jahre nach dem Holocaust ein weltberühmter Staatsführer Hitlers antisemitisches Lieblingsbuch anpreist. Sondern er liege darin, “dass Nasser 1958 noch derart unwissend über die Entstehungsgeschichte dieses Textes sein konnte.”[27]

Achcars Versuch, diesen Antisemitismus als eine Bildungslücke, eine Art “Versehen” weg zu definieren, zeigt, wie wenig er von diesem Thema versteht. Die antisemitische Verschwörungstheorie ist keine Bildungslücken und keine törichte Phantasie, sondern Richtschnur zum Handeln; eine Weltanschauung also, die die Politik eines Staates konkret bestimmt. “Unser Krieg gegen Israel”, erklärte Nasser 1965 in Anlehnung an seine Konspirationstheorie, “ist die Fortsetzung unseres Krieges gegen den Kolonialismus.” Achcar weigert sich nicht nur, diese Politik mit Nassers Befürwortung der “Protokolle” in eine Beziehung zu stellen, sondern lobt gar diese Äußerung als das Bemühen, “sich deutlich vom Nationalsozialismus zu distanzieren” und als “Ablehnung des Antisemitismus.”[28]

Arabische Holocaustleugnung: Israels Schuld

Gilbert Achcar geht in seinem Buch “Die Araber und der Holocaust” auf die konkreten Äußerungen arabischer Holocaustleugner – auf “all die Nichtigkeiten, die in der arabischen Welt über den Holocaust gesagt, geschrieben oder zumeist schlicht aus anderen Sprachen übersetzt wurden” -ausdrücklich nicht ein. Mehr noch: In der englischen Ausgabe seines Buches äußert sich geradezu verächtlich über jene, die dies tun: “Ich überlasse anderen die perverse Genugtuung, diese [Nichtigkeiten] zu katalogisieren.”[29]

Natürlich sind die konkreten arabischen Äußerungen über den Holocaust keineswegs nichtig, sondern real. Die Realität, so Achcars Credo, darf aber nur dargestellt werden, wenn sie dem “richtigen” politischen Zweck dient. In diesem Fall gelten Berichte über die Wirklichkeit als “pervers”, weil sie nach Meinung des Autors einem “falschen” politischen Zweck dienlich sein könnten.

Sein Interesse gilt nicht der Sache selbst, sondern dem Nachweis, dass Israel nicht nur für den Antisemitismus, sondern auch für die Holocaust-Leugnung verantwortlich ist; er ordnet den Anti-Nazismus seinem Antizionismus unter.

Und so sieht seine Beweisführung in der Frage der Holocaustleugnung aus: Angeblich habe Israel immer wieder versucht, eigenen Untaten mithilfe einer “Ausbeutung des Holocaust” zu überdecken, um Legitimitätskrisen zu überwinden. Als Beweis führt er das Jahr 1982 an. Damals habe Israels internationale Isolierung im Kontext des Libanonkrieges einen Höhepunkt erreicht. Man habe, um den eigenen Ruf wiederherzustellen, den Holocaust auf besonders massive Weise in Erinnerung gerufen. Es sei diese angebliche Propagandaoffensive gewesen, die die Holocaustleugnung in der arabischen Welt bewirkt habe. “Die Leugnung in der arabischen Welt … begann mit der Invasion des Libanon im Jahr 1982.”[30]

Es stimmt, dass 1982 Israels Premier Menachem Begin den damals in Beirut eingebunkerten Yassir Arafat mit Hitler verglich. Allerdings hatte sich Begin damit besonders in Israel diskreditiert. “Viele Israelis dachten, dass Begins Holocaust-Besessenheit zu dem unglücklichen Unterfangen [des Libanonkrieges] geführt habe”, schreibt Peter Novick, ein von Achcar geschätzter Autor.[31] Da wird man von einer israelischen “Propagandaoffensive” kaum sprechen können.

Noch unverständlicher ist Achcars ursprüngliche Darstellung, die Leugnung des Holocaust haben 1982 – oder, wie er in seiner Erwiderung auf diese Rezension andeutet, “1970 oder 1980” begonnen.

Die vorliegenden Dokumente beweisen, dass die Holocaustleugnung bereits seit 1943 ein Bestandteil der arabischsprachigen Rundfunkpropaganda der Nazis gewesen ist. Damals bereits hetzte Radio Zeesen in seinen arabischsprachigen Programmen gegen “die verfluchten Lügen der Juden” und stempelte die ersten Berichte über den Holocaust als “Lügen … der Juden ab, die versuchen, mittels ihrer Tränen die Sympathie der Welt zu erlangen.”[32]

Im Mai 1945 griff die in Jerusalem erscheinende Zeitung Filastin dieses Thema auf: “Die Juden haben die Anzahl ihrer Opfer in Europa mächtig übertrieben, um sich für die Katastrophe, die ihnen vorschwebt [die Errichtung eines jüdischen Staats in Palästina] die Unterstützung durch die Welt zu sichern.” Im September 1945 erklärte die ägyptische Zeitung Akbhar al-Yawm: “Die Nazi-Tyrannei existierte, doch fügte sie den Juden kein bißchen mehr Schaden zu, als den Deutschen.”[33] Meir Litvak und Esther Webman zeigen in ihrem Standardwerk über die Holocaustleugnung in der arabischen Welt, dass die Leugnung des Holocaust seit diesem Zeitpunkt ein akzeptierter Bestandteil des öffentlichen Diskurses in Ägypten geblieben ist.

Gilbert Achcar ist mit dem Werk von Litvak und Webman vertraut. Er ordnet diese Realität gleichwohl seinem politischen Glaubensbekenntnis unter. So bezeichnet er die Leugnung des Holocaust als die verzweifelte und deshalb verständliche Reaktion einer unterdrückten Gruppe auf die Übergriffe des allmächtigen Israels. “Sind alle Formen der Holocaust-Leugnung gleich zu bewerten?”, fragt er rhetorisch. “Sollte nicht unterschieden werden, ob eine solche Leugnung von Unterdrückern ausgesprochen wird oder von Unterdrückten? Unterscheidet man nicht auch den Rassismus herrschender Weißer von dem beherrschter Schwarzer?”[34]

Dieses Argument fasst alle die Fehler seines “antiimperialistischen” Ansatzes zusammen. Achcar unterschlägt die Möglichkeit, dass die Krise in der arabischen Welt vielleicht doch nicht durch die Existenz und Aktivität eines externen “Imperialismus” verursacht wurde, sondern durch interne Umstände – etwa der Allgegenwart irrationaler Vorstellungen und der ungezügelten Verbreitung von Antisemitismus.

Zweitens etabliert der Autor einen doppelten Standard, demzufolge Worte und Taten, die üblicherweise auf Empörung stoßen, als akzeptabel erscheinen, wenn sie von “Unterdrücken” ausgesprochen oder verübt werden. Damit erteilt Achcar allen Holocaustleugnern, die nach seiner Interpretation in die Kategorie der “Unterdrückten” fallen, die moralische Absolution. Er praktiziert hier eben jene Willkür, die er noch im ersten Teil seines Buches als einen klassischen Fehler der Linken anprangerte: “Den kritischen Blick aufzugeben, wenn es um die [angeblichen!, Anm. CM/MK] Opfer des Imperialismus geht.”[35]

Er stempelt drittens die Araber als Dummköpfe ab, die nicht wüssten, was sie tun. Wenn Araber den Holocaust leugnen, erklärte er in einem Interview, “dann hat das nichts mit irgendwelchen Überzeugungen zu tun. Es ist halt die Form, in der die Leute ihrem Zorn und ihrer Frustration freien Raum lassen, das einzige Mittel, dass ihnen, wie sie glauben, zur Verfügung steht.”[36]

Achcar erlaubt sich hier einen Umgang mit Arabern, den er sich gegenüber Franzosen oder Briten niemals erlauben würde: Er weigert sich, sie als Menschen zu behandeln, die für ihre eigenen Worte und Taten verantwortlich sind.

Hier geht es aber um mehr, als um eine Parteinahme für islamistische Genossen, die Achcars Israel-Kritik teilen. Hier geht es um eine zynische Haltung zum Holocaust selbst.

Die arabische Holocaustleugnung, schreibt Achcar “ist … Ausdruck einer Haltung, die ich als ,Antizionismus der Dummen‘ bezeichne.”[37] Diese Äußerung basiert auf einem August Bebel zugeschriebenen Diktum, der 1893 den Antisemitismus als “Sozialismus der Dummen” bezeichnet haben soll – ein folgenschwerer Fehler, der fünfzig Jahre vor dem Holocaust vielleicht noch entschuldigt werden kann. Siebzig Jahre nach dem Holocaust scheint uns allerdings auch eine implizite Berufung auf dieses Bebel-Wort unakzeptabel zu sein, weiß man doch inzwischen, dass sich Antisemitismus nicht nur im bösen Wort, sondern im brutalen Mord äußert.

Schon allein der Umstand, dass Achcar die Shoah 1933 beginnen lässt,[38] zeigt, dass er von diesem Begriff ebenso wenig eine Vorstellung hat wie von dem Antisemitismus, der der Vernichtung der sechs Millionen zugrundelag: Anders ist seine zynische Unterstellung, dass zionistische Juden über den Antisemitismus begeistert seien, nicht zu erklären.

Achcar behauptet, dass die “proisraelische Propaganda” die “enorme” Zunahme des arabischen Antisemitismus “mit großer Genugtuung zur Kenntnis” nehme, weshalb ein arabischer Holocaustleugner, wie der Jordanier Dr. Ibrahim Alloush “natürlich auch von MEMRI sehr geschätzt” werde.”[39] Achcar variiert mit derartigen Phantasien die geschichtsrevisionistische Unterstellung, wonach die Zionisten schon in den Dreißigerjahren über die Judenpolitik der Nazis hocherfreut gewesen seien – ein Vorwurf aus dem Arsenal der Holocaustleugner und Antisemiten.[40]

Zwar behauptet Achcar in einem Interview mit der israelischen Tageszeitung Yedioth Ahronoth: “Ich verfüge über die notwendige Sensibilität, um dieses Thema [den Holocaust] zu bearbeiten.”[41] Tatsächlich aber ist er der erste Akademiker, der in der englischen Ausgabe seines Buches die Überlebenden des Holocaust, die sich nach 1945 in Palästina niederließen, mit radioaktivem Atommüll verglich, der von den Industrienationen in Dritte-Welt-Länder geschickt wird: “Gewisse Staaten (setzen) alles daran, das Problem der Holocaust-Überlebenden auf Kosten der Palästinenser zu lösen – so wie heute einige Staaten ihren radioaktiven Müll loswerden wollen, indem sie ihn in arme Länder exportieren.”[42]

Der schäbige Umgang mit den Opfern und Überlebenden des Holocaust setzt sich fort, wenn er selbst noch seine halbherzige Kritik an der Holocaustleugnung in den Dienst seines Antizionismus stellt: “Die Leugnung des Holocaust in der arabischen Welt ist falsch, irreführend und schädlich für die Sache der Araber und Palästinenser.”[43] Mit den Opfern oder den Überlebenden hat die Leugnung dieses Verbrechens also gar nichts zu tun?

Gefälschte Zitate

Es ist wahrhaftig nicht leicht, die Realität des arabischen Antisemitismus so zu verbiegen, dass er in eine “progressive” antizionistische Kampffront passt. Wenn die Methoden der Wissenschaft hierbei versagen, greift Achcar auf andere Mittel zurück. Sein Umgang mit Quellen ist auf grobe Weise parteilich: Was zur Bestätigung seiner Vorurteile zweckdienlich ist, wird herausgepickt und betont, alles andere wird verschwiegen.[44] Unsere lediglich stichprobenartige Überprüfung der bei ihm verwendeten Zitate hat mehrere sinnentstellende Veränderungen ans Tageslicht gebracht. Einige Beispiele. Achcar schreibt:

“Die Araber in Palästina und außerhalb lehnten ihn [den Teilungsplan der Peel-Kommission von 1937 – dem ersten Vorschlag einer Zweistaatenlösung für Palästina] fast einhellig ab. Selbst Raghib al-Nashashibi … sprach sich dagegen aus.”[45]

Als Quelle wird das 1977 erschienenes Standardwerk von Yehoshua Porath, Arab National Movement, 1929-1939 zitiert. Dort aber heißt es:

“Hartnäckig machten sich Gerüchte breit, dass die Teilung [Palästinas] empfohlen werden würde. Zu diesem Zeitpunkt hielt die National Defence Party [der Nashashibis] ihre Zustimmung zum Prinzip der Teilung nicht verborgen. Sie organisierte sogar Versammlungen und nutzte andere Mittel der Propaganda, um die öffentliche Meinung für dieses Prinzip zu gewinnen. Diese positive Haltung setzte sich auch unmittelbar nach der Veröffentlichung des Berichts der Peel-Kommission fort. Zwei Führer dieser Partei, Raghib al-Nashashibi und Ya’qub Farraj, erklärten dem HC [High Commissioner] unter vier Augen, dass sie das Prinzip der Teilung unterstützten.”

Ziemlich schnell, fährt Porath fort,

“fand dann jedoch eine Richtungsänderung statt. Die National Defence Party schickte ein offizielles Memorandum an den HC, das die Teilung in sehr deutlicher Sprache verurteilte. Verschiedene Faktoren hatten hierzu beigetragen. An erster Stelle steht der massive Druck, der auf die Nashashibis ausgeübt wurde, damit sich diese mit der [den Teilungsplan ablehnenden] Haltung des HAC’s [High Arab Committee] identifizieren. Ihr Leben wurde bedroht und es wurden im Laufe des Sommers 1937 tatsächlich verschiedene moderate und den Nashashibis nahestehende Führer überfallen oder getötet. Sie waren zweitens überrascht, dass sich die Verbündeten oder Freunde Großbritanniens, Irak und Saudi-Arabien, gegen die Teilung aussprachen.”[46]

Die Verfälschung, die Achcar hier vorgenommen hat, ist keine Kleinigkeit, zumal er selbst zu den prinzipiellen Gegnern jener Teilung Palästinas in zwei Staaten gehört, um die es in diesem Absatz geht. Während er die palästinensische Gegnerschaft gegen jene Teilung als “fast einhellig” [und in der englischen Ausgabe als “virtually unanimous”] beschreibt, belegt seine Quelle, dass jene “Einheit” durch Terror und Mordanschläge herbeigezwungen werden musste, weil ursprünglich der von Achcar als Kronzeuge aufgeführte Raghib al-Nashashibi genau das Gegenteil von dem vertrat, was Achcar seiner Leserschaft präsentiert.

Beispiel 2: Achcar zitiert Tom Segev, um “die politische Ausbeutung des Falles Eichmann [dem Prozess gegen Adolf Eichmann von 1961] durch Israel” zu unterstreichen:

“Beeindruckend schildert Tom Segev, wie dieser Prozess auf unterschiedliche Weise genutzt wurde: ,Ben Gurion hatte zwei Ziele: Zum einen wollte er die Länder der Welt daran erinnern, dass der Holocaust sie verpflichtet, den einzigen jüdischen Staat auf Erden zu unterstützen. Zum zweiten wollte er dem israelischen Volk, und insbesondere der jüngeren Generation, eindrücklich vorführen, was sie aus dem Holocaust lernen sollten. Der Prozess, fuhr er fort, könne weitere Nazi-Verbrecher enttarnen und vielleicht auch ihre Verbindung zu arabischen Herrschern aufdecken.”[47]

Achcar erweckt hier den Eindruck, als habe die Darstellung der Verbindungen zwischen Arabern und Nazis für Ben Gurion zu den vordringlichen “Lehren aus dem Holocaust” und zu den wichtigsten Ziele des Eichmann-Prozesses gehört. Wer Tom Segev im Original liest, merkt aber, dass dies nicht stimmt. Achcar war kühn genug, das tatsächliche Ziel Ben Gurions – ohne Auslassungszeichen! – aus dem Zitat Segev zu entfernen.

Im Original beschreibt Segev Ben Gurions “Lehren aus dem Holocaust” nach dem Satz “…was sie aus dem Holocaust lernen sollten.” wie folgt:

“In einem Interview mit der New York Times … erklärte Ben-Gurion, dass die Welt von dem [Eichmann- ]Prozess lernen solle, wohin der Judenhass geführt habe – und dass man die Welt anschließend dazu bringen müsse, sich über sich selbst zu schämen. Er bezeichnete die Maschinerie der Vernichtung als ,eine Seifenfabrik‘. Er merkte darüber hinaus an, dass nicht nur Deutschland schuldig war – Großbritanniens Weigerung, den Juden die Einwanderung nach Palästina zu gestatten, hatte Hunderttausende von Todesfällen zur Konsequenz.”[48]

Erst anschließend folgt die Segevs Satz: “Der Prozess, fuhr er fort…”. Natürlich wusste Achcar, welche Sätze er hier streicht und welchen Eindruck er erweckt, wenn er “die Lehren aus dem Holocaust” mit “verschiedenen arabischen Herrschern” zusammenfügt. Ohne den Vorwurf, dass Israel den Holocaust missbrauche, ließe sich sein Entlastungsargument, wonach die Araber mit der Leugnung des Holocaust auf dessen Missbrauch lediglich reagierten, nicht halten. Tom Segevs “beeindruckende Schilderung” erhärtet aber den Verdacht des “Holocaust-Missbrauchs” gerade nicht.

Zweitens versucht der Autor wieder und wieder zu belegen, dass sich sein Hassobjekt – der Staat Israel – über Antisemitismus freue. “Antisemitismus”, schreibt Achcar, spiele “die Rolle … der besten ,Triebkraft‘ des Zionismus”.[49] Doch auch diese These kollidiert fundamental mit Segevs Darstellung, die Ben Gurions tief empfundene Gegnerschaft zum Antisemitismus betont. Also wird sie verfälscht. Drittens passt Ben Gurions Hinweis auf die Kluft zwischen zionistischer und britischer Politik schlecht zu der These des Autors, der zufolge Israel “Europas einziger kolonialer Siedlerstaat” sei. Also wird auch dieser Gedanke einkassiert.

Verfälschung von Quellen zum Zwecke der Agitation: Zeichnet sich der Wissenschaftsbegriff der Londoner School of Oriental and African Studies, an der Achcar als Professor lehrt, eben hierdurch aus?

Auch an anderer Stelle werden Zitate von Segev missbraucht, um die angebliche Fixiertheit der israelischen Politik auf die Verbindung zwischen Nazis und Arabern – in diesem Fall auf die historische Rolle von Amin el-Husseini – zu belegen.

“Tom Segev zufolge vermittelt die Mauer in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem, die Husseinis Kontakten zu den Nazis gewidmet ist, den Eindruck, dass ,zwischen der Judenvernichtung durch die Deutschen und der arabischen Feindschaft gegenüber Israel Gemeinsamkeiten bestehen.‘”[50]

Während dieses Zitat aus einer Quelle von 1991 stammt, zitiert Achcar wenige Seiten später einen Artikel, den Tom Segev im September 2008 – 17 Jahre später – in der New York Times veröffentlichte. Segev schreibt hier über die Platzierung des Fotos von Hitler und el-Hussini im Yad Vashem Museum:

“In den vergangenen Jahren wurde das Foto kleiner gemacht und in seinen realen historischen Kontext gestellt (eine Abteilung des Museums, die sich mit den Kriegsfreiwilligen verschiedener Nationen, die der Hitlerschen Waffen-SS beitraten, befasst.)”[51]

Es bedarf inzwischen wohl kaum noch einer Erwähnung, dass Achcar den letztgenannten – ihm natürlich bekannten – Hinweis von Tom Segev in seinem Buch nicht erwähnt – wo doch das veraltete Zitat von 1991 in politischer Hinsicht so viel zweckmäßiger ist…

Achcars Erfolg

Gleichwohl wird Achcars Buch in mehreren Sprachen verlegt und vielfach gefeiert. So lassen sich die Professoren Avi Shlaim (University of Oxford), Michael R. Marrus (University of Toronto), Rashid Khalidi (Columbia University), Francis R. Nicosia (University of Vermont), Alexander Flores (Universität Bremen), Moshe Zuckermann (Universität Tel Aviv) sowie der Autor und Historiker Peter Novick auf dem Rücken des Buches mit begeisterten Empfehlungen vernehmen.

Darüber hinaus wurde der erklärte Gegner Israels im Mai 2010 vom Berliner Zentrum Moderner Orient (ZMO) zu einer von der Bundesregierung geförderten Lesung eingeladen und seine Veröffentlichung als “bahnbrechendes Buch” gefeiert. Es handle sich um “eine sachliche und solide Untersuchung von großer Bedeutung”, betonte Ulrike Freitag, die Direktorin des ZMO.[52]

Im November 2010 lud man Achcar zur angesehenen Lessons and Legacies Concerence On The Holocaust nach Florida ein. Das Thema seines Vortrags: ”An Assessment of Holocaust Denial in the Arab world since the 1980s”. Im Mai 2011 nahm er schließlich auf Einladung des Center of Advanced Holocaust Studies des United States Holocaust Memorial Museums in Washington D.C. sowie der Berliner “Topographie des Terrors” an einer Konferenz über den Eichmann -Prozess in Berlin teil. Hier referierte Achcar über die “Wahrnehmung des Eichmann-Prozesses in arabischen Staaten”.

Wie ist der Erfolg dieses Buches und seines Autors zu erklären? Abgesehen von der Leichtgläubigkeit eines akademischen Milieus, das immer häufiger historische Wahrheiten durch “Narrative” und die Ermittlung von Fakten durch postmodernen Relativismus ersetzt53, befriedigt dieses Buch offenkundig einen Bedarf: Es erleichtert es einer bestimmten Gruppe von Akademikern, ihren intellektuellen Selbstbetrug zu rationalisieren.

Denn wenn sich die linken Antizionisten, die Gilbert Achcar repräsentiert und für die er schreibt, mit Bewegungen wie Hamas und Hizbollah solidarisch erklären, obwohl diese den Holocaust leugnen und ihre Politik mit einem nazi-ähnlichen Antisemitismus begründen, dann zieht diese Allianz nicht nur Kritik von außen auf sich, sondern setzt auch im Inneren jener Allianz Zweifel und Spannungen frei.

Achcars Buch verfolgt die Absicht, seine politischen Freunde in die Lage zu versetzen, diese Spannungen zu überwinden und eine reibungslose Fortsetzung der antiisraelischen Allianz bestehend aus “Antifaschisten” und “Antirassisten” auf der einen Seite und antisemitischen Islamisten und Holocaustleugnern auf der anderen Seite zu gewährleisten.

Er kann dieses Ziel, sofern er sich ernsthaft mit der Wirklichkeit befasst, jedoch schwerlich nur erreichen. Also führt er die Widersprüche innerhalb der Allianz auf externe Ursachen zurück. Achcars wichtigste externe Pseudo-Erklärung haben wir bereits identifiziert: israelische Propaganda. Doch greift er zusätzlich auf einen zweiten Punkt mit ebenso weitreichenden Implikationen zurück: die Islamophobie.

Zwar betrachtet der Autor die “beispiellose Form der Ausbreitung des Religiösen”, wie sie in der Unterstützung von Bewegungen wie Hamas zum Ausdruck kommt, als einen “Rückschritt”. Aus antizionistischen Gründen schwächt er diese Kritik jedoch wieder ab, um das angeblich evolutionäre Potential jener regressiven Kräfte zu loben: “Dank der unerlässlichen Dosis Pragmatismus, ohne die Organisationen wie die Hamas oder die Hisbollah nicht so groß geworden wären … sind sie in der Lage, ihren islamisierten Antisemitismus hinter sich zu lassen oder ihn zumindest nicht mehr laut zu äußern.”[54]

Wer an dieser Zukunftshoffnung zweifle, sei schon, so deutet Achcar es zumindest an, der “enorm” zugenommenen “Islamfeindlichkeit” zum Opfer gefallen. Der Hass auf Muslime sei der “eigentliche europäische Rassismus unserer Tage”, der den Antisemitismus lange abgelöst habe. Diese Islamfeindlichkeit habe, so Achcar weiter, “in der Ablehnung all dessen, was inzwischen als ,Islamismus‘ oder sogar ,Islamofaschismus‘ bezeichnet wird, eine Möglichkeit der ,Sublimierung‘ im großen Stil gefunden.”[55]

Mit anderen Worten: Wer jene “Regression” der islamistischen Bewegung allzu deutlich und öffentlich kritisiert, will damit nicht jenes Problem thematisieren, sondern rassistische Gefühle lediglich “sublimieren”. Wenn man dieses Argument für bare Münze nehmen würde, wäre es schwer einzusehen, warum nicht auch Achcars eigene scharfe Kritik am Panislamismus im ersten Teil seines Buches unter die Anklage der “Islamophobie” fällt.

Auf der anderen Seite will Achcar jede ernsthafte Befassung mit den zahlreichen neuen Studien blockieren, die den Charakter des islamistisch motivierten Antisemitismus und seine Wechselbeziehung mit dem Nationalsozialismus näher beleuchten. Auch den wohlgesonnenen Kritikern seines Buches fiel auf, wie aggressiv und pauschal er jene Neuerscheinungen als eine Fülle von gehässigen antiarabischen und antimuslimischen Texten” abkanzelt, die “im Kontext einer neuer Islamfeindlichkeit” verfasst worden seien.[56]

Achcar verunglimpft die Kritiker des arabischen Antisemitismus also nicht nur als zionistische Agenten. Er wirft ihnen zugleich vor, islamophobe Rassisten zu sein. Gerade vor dem Hintergrund jener antimuslimischen Bewegung sei es kleinlich und sektiererisch, das Bündnis mit den Islamisten zu beenden. Wer die Implikationen der oben erwähnten kritischen Studien ernsthaft zu studieren und zu durchdenken begänne würde bereits , so Achcars Fingerzeig, der rassistischen Islamophobie auf den Leim gehen.

Wenn auch das Schlagwort von der Islamophobie rhetorisch einigen Gewinn abwirft, zahlt Achcar hierfür gleichwohl einen Preis, positioniert er sich doch durch Verwendung dieses Begriffes auf der Seite der islamistischen Regression.

Und dies zu einer Zeit, in der Aufstände die arabisch-islamische Welt zwischen Tunis und Teheran erschüttern! Bei diesen Aufständen geht es nicht um ein Schreckgespenst namens Israel oder um einen herbeiphantasierten westlichen Kolonialismus, sondern um die wirklichen Probleme der Länder dieser Region, z.B. den Mangel an Freiheit und Demokratie, die Selbstermächtigung der Staatsapparate, die Arbeitslosigkeit, die sexuelle Unterdrückung und die Diskriminierung der Frau. Wenn es hier zu substanziellen und dauerhaften Veränderungen kommen soll, werden die Bewegungen der arabischen Rebellion einen kritischen Blick auf Aspekte ihrer eigenen Gesellschaften werfen müssen, einschließlich des zügellosen Antisemitismus und der Vorliebe für Verschwörungstheorien. Dieser Prozess müsste die Kritik von Aspekten der islamischen Tradition mit einbeziehen.

Es gibt Grund für die Hoffnung, dass das arabische revolutionäre Experiment das Selbstbewusstsein und den Sinn für Selbstverantwortung der Individuen bestärken wird, sodass die Nachfrage nach jüdischen Sündenböcken sinkt. Andrerseits wittern auch die antisemitischen Akteure wie das iranische Regime, die Hisbollah, die Hamas und die ägyptische Muslimbruderschaft ihre Chance. Es ist in einer solchen Zeit – einer Zeit des Wandels und des Neuanfangs – wichtiger denn je, die Frage nach den Wurzeln und den potentiellen Konsequenzen des arabischen Antisemitismus und der Holocaustleugnung wissenschaftlich zu beantworten. Achcars Buch bietet für diese Aufgabe keine Hilfestellung. Es ist Teil des Problems.

Die englische Version dieses Aufsatzes wurde erstmals am 24. September 2011 auf dem britischen Internet-Portal www.EngageOnline.org.uk/ veröffentlicht. Kurz darauf publizierte die Zeitschrift “Journal for the Study of Antisemitism” diesen Text (JSA, Vol. 3, Issue #2 2011, pp 805-820) und zeichnete ihn als “beste Buchbesprechung des Jahres 2011” aus (JSA, Vol. 3, # 2 2011, p. 223).

Am 3.Oktober 2011 stellte ich die deutsche Übersetzung der Rezension (mit Bezug auf die englische Buchausgabe) ins Netz (http://www.matthiaskuentzel.de/contents/in-der-zwangsjacke-des-antizionismus). Am 19. August 2012 veröffentliche ich obenstehende Version dieser Rezension, die aus der deutschsprachigen Ausgabe des Buches zitiert.
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[1]Jeffrey Herf, Not in Moderation, in: The New Republic, 1. November 2010. Siehe: http://tnr.com/print/book/review/not-in-moderation

[2] Stephen Howe, The Arabs and the Holocaust, in: The Independent, 14. May 2010.

[3] Gilbert Achcar, Die Araber und der Holocaust. Der arabisch-israelische Krieg der Geschichtsschreibungen, Hamburg (Edition Nautilus) 2012, S. 117. In seiner oben erwähnten Buchbesprechung bemerkt der amerikanische Historiker Jeffrey Herf, dass “Küntzels Analyse von al-Banna, Husseini, der Muslimbruderschaft, Sayyid Qutb und dem Islamismus im Großen und Ganzen entlang derselben großen Linien verläuft wie Achcars Darstellung der panislamistischen Reaktionäre seit Rashid Rida.”

[4] Gilbert Achcar, a.a.O., S. 117.

[5] Achcar, a.a.O.,S. 124.

[6] Achcar, a.a.O., S. 150f.

[7] Achcar, a.a.O., S. 151f.

[8] Achcar, a.a.O., S. 316, Fußnote 221.

[9] Achcar, a.a.O., S. 157.

[10] Achcar, a.a.O., S. 81.

[11] Achcar, a.a.O., S. 133

[12] Achcar, a.a.O., S. 235.

[13] Achcar, a.a.O, S. 236f.

[14] Karl Marx, Briefe aus den “Deutsch-Französischen Jahrbüchern”, Marx-Engels-Werke Bd. 1, S. 342.

[15] Achcar, a.a.O., S. 32.

[16] “All das trifft leider Wort für Wort zu”, schreibt Achcar über diese Auflistung an Verbrechen, die er aus einer anderen Quelle zitiert. Vgl. Achcar, a.a.O., S. 234f.

[17] Achcar, a.a.O. S. 138.

[18] Achcar, a.a.O., S. 154 und 270f.

[19] Achcar, a.a.O., S. 174.

[20] Achcar, a.a.O., S. 174 und 202.

[21] Achcar, a.a.O., S. 242.

[22] Achcar, a.a.O., S. 261.

[23] Sigmund Freud, Studienausgabe Bd. IX, Fragen der Gesellschaft. Ursprünge der Religion, Frankfurt a. M. (Fischer ), S. 213,

[24] Achcar, a.a.O., S. 197f.

[25] Adolf Hitler, Mein Kampf Teil I, München (Verlag Franz Eher Nachfolger), 1934, S. 356.

[26] Zit. nach Achcar, a.a.O., S. 195.

[27] Achcar, a.a.O., S. 196.

[28] Achcar, a.a.O., S. 204f.

[29] Gilbert Achcar, The Arabs and the Holocaust. The Arab-Israeli War on Narratives, New York (Henry Holt and Company) 2009, S. 181. Die englische Ausage “I will let others savor the perverse satisfaction of cataloguing them” wurde in der deutschen Fassung mit: “Die perverse Genugtuung darüber überlasse ich gerne anderen.” verkürzt übersetzt. Siehe die deutsche Version des Buches, S. 173.

[30] Interview: Gilbert Achcar, Arab attitudes to the Holocaust in: SocialistWorker.org, 20. Mai 2010, sowie Achcar, a.a.O., S. 257. In seiner Erwiderung auf diese Buchbesprechung behauptet Achcar, in diesem Punkt falsch verstanden worden zu sein. Seine Originalaussage lautet wie folgt: “In the Arab world, the denial … comes from rage and frustration over the escalation of Israeli violence, along with the increased use of the Holocaust. It began with the invasion of Lebanon in 1982. Menachem Begin abused the memory of the Holocaust, including in Israel’s domestic political discourse. This led people in the Arab world to react in the stupidest way and say: If Israel is trying to justify its actions by reference to the Holocaust, then the Holocaust is an exaggeration or a propaganda invention.” Achcar behauptet nachträglich: “It is clear from the context that what I mentioned … as beginning in 1982 is Israel’s ,increased use of the Holocaust’.” Seine Antwort auf unseren Aufsatz findet sich hier: http://engageonline.wordpress.com/2011/09/25/gilbert-achcar-responds-to-matthias-kuntzel-and-colin-meade/ Unser Erwiderung findet sich auf derselben Homepage.

[31] Peter Novick, Nach dem Holocaust, München (Deutscher Taschenbuch Verlag) 2003, S. 215.

[32] Jeffrey Herf, Nazi Propaganda for the Arab World, New Haven (Yale University Press) 2009, S. 177.

[33] Meir Litvak and Esther Webman, From Empathy to Denial. Arab Responses to the Holocaust, London (Hurst & Company), S. 52.

[34] Achcar, a.a.O., S. 262.

[35] Achcar, a.a.O., S. 122.

[36] Israel’s Propaganda War: Blame the Grand Mufti. Gilbert Achcar Interviewed by George Miller, on: http://mrzine.monthlyreview.org/2010/achcar120510p.html .

[37] Gilbert Achcar, Arabs have a complex relationship with the Holocaust, in: The Guardian, 10. Mai 2010.

[38] Achcar, a.a.O., S. 10: “Den Begriff der Shoah habe ich auf den folgenden Seiten breit ausgelegt, indem ich … die gesamte Verfolgungsgeschichte, die mit der Machtergreifung Hitlers im Jahr 1933 begann (zugrunde lege).”

[39] Achcar, a.a.O., S. 235 und S. 253.

[40] Siehe Meir Litvak und Esther Webman, a.a.O., S. 243ff.

[41] Das Interview mit Eldad Beck wurde am 27. April 2010 in Yedioth Ahronoth publiziert. Die englische Übersetzung dieses Interviews findet sich auf: http://www.zcommunications.org/the-league-against-denial-by-gilbert-achcar

[42] Achcar, The Arabs and the Holocaust, a.a.O., S. 21. Diese Passage seines Buches wurde öffentlich kritisiert; vielleicht wurde auch deshalb in der deutschen Ausgabe der zweite Teil dieses Satzes eleminiert, siehe: Achcar, Die Araber und der Holocaust, a.a.O., S. 27.

[43] Arab Attitudes to the Holocaust, Interview with Gilbert Achcar auf http://socialistworker.org/print/2010/05/20/arab-attitudes-to-the-holocaust

[44] Siehe hierzu auch: Zum Beispiel Gilbert Achcar. Ein weiterer Beitrag aus der Reihe ,Schimpf und Schande‘, auf: http://www.matthiaskuentzel.de/contents/zum-beispiel-gilbert-achcar .

[45] Achcar, a.a.O., S. 137.

[46] Y. Porath, The Palestinian Arab National Movement. From Riots to Rebellion, Volume Two 1929-1939, London (Frank Cass) 1977, S. 229.

[47] Achcar, a.a.O., S. 199f.

[48] Tom Segev, The Seventh Million, New York (Henry Holt) 1991, S. 327.

[49] Achcar, S. 134.

[50] Achcar, S. 158.

[51] Tom Segev, Courting Hitler, New York Times, September 28, 2008.

[52] Samir Grees, Krieg der Narrative, auf: www.Qantara.de, July 5, 2010.

[53] “Ich beziehe mich hier auf die Vorstellung vom “Narrativ” als einer Rezitation von Geschichte, wie sie vom Postmodernismus entwickelt worden ist”, antwortete Achcar auf die Frage nach dem englischen Untertitel seines Buches, on: http://www.iire.org/en/home-mainmenu-1/15-fellows/185-gilbert-achcar-why-holocaust-denial-is-on-the-rise-in-the-arab-world.html .

[54] Achcar, a.a.O., S. 232 und S. 241.

[55] Achcar, a.a.O., S. 268.

[56] Achcar, a.a.O., S. 161.