Der Schwächling und der Held

Notizen zu „Paradise Now“

Von Matthias Küntzel

Oktober 2005

„Für die Besucher des Kinos in Ramallah ist „Paradise Now“ ... nicht nur ein guter, sondern auch ein wichtiger Film“, schreibt Henryk M. Broder. „ Kein Film, der Terroristen als Märtyrer verherrlicht, sondern sie als junge Männer zeigt, die sich und anderen letztlich ein Rätsel bleiben.“1

Tatsächlich? Ich habe große Zweifel.

Selbstverständlich macht der Film gewisse Zugeständnisse an das europäische Publikum. Da ist zum einen die Szene, in der Said den ersten Bus verschont, weil er darin ein kleines jüdisches Mädchen sieht. Dieser suggestive Trick macht es leichter, Saids Entschlossenheit am Ende des Films, als er sich in einem überwiegend mit Soldaten besetzten Bus in die Luft sprengt, Beifall zu zollen, ohne von moralischen Skrupeln angekränkelt zu sein.

Dann gibt es jene Suha, die als Identifikationsangebot für Europäer jedoch nur sehr bedingt in Frage kommt. Wer wollte schon im romantisierten Elend von Nablus die Außenseiterin aus dem Viertel der besseren Leute sein?

Khaled ist für die Neutralisierung europäischer Bedenkenträger die entscheidende Figur. Ihm wird als einzigem Akteur gestattet, glaubwürdig menschliche Gefühle zum Ausdruck zu bringen – besonders in der Schlussszene, in der er um Said bitter weint. Zudem scheint Khaled in seinem letzten Dialog mit Said dem Film die maßgebliche Botschaft zu verleihen: „Ich gebe Suha recht. Auf diese Art werden wir nicht siegen. ... Der Widerstand ändert die Dinge, nicht unser Tod. ... Ich erlaube nicht, dass du stirbst.“

Beim zweiten Nachdenken erschließt sich jedoch, dass diese Filmdeutung nicht stimmen kann. Denn eben jener Khaled wird vom Anfang bis zum Ende als das negatives Gegenüber des eigentlichen Helden, Said, inszeniert. Diese dichotome Struktur dürfte in der arabischen Welt, in der Männerehre und Männermut einen höheren Stellenwert als in Europa genießen, noch stärker zum Tragen kommen als hier.

Mich brachte ein Detail aus der Großaufnahme des weinenden Khaled auf die dichotome Spur: Es ist wahrhaft hässlich zu sehen, wie ihm die Rotze nur so runterläuft. Er wird in seinem Autositz nicht als tragischer Held gezeichnet, sondern als Jammerlappen vorgeführt. Er flennt wie ein Kleinkind und jeder ahnt, dass seine Zukunft in Nablus alles andere als rosig ist.

Wer von diesem Punkt ausgehend den Film noch einmal Revue passieren lässt, wird feststellen, dass Khaleds schmählicher Abgang schon in jedem seiner vorangegangenen Auftritte angelegt gewesen ist. Stichwort Jammerlappen:

Khaled ist es, der nach dem Scheitern der ersten Grenzüberquerung in größter Hast zurück zum PKW des Organisators Jamal läuft.

Khaled ist es, der sich – eine menschliche Regung! – über den Schmerz beschwert, den ihm das Abreißen des Pflasters bereitet, mit dem man den Sprengstoff an seinem Körper befestigt hat. Er fordert von der Organisation, beim nächsten Mal ein anderes Pflaster zu nehmen und wird mit dem Verweis, dass Selbstmordattentäter derartige Pflaster in der Regel nicht mehr zu entfernen brauchen, durchaus berechtigt lächerlich gemacht.

Khaled ist der Mensch mit dem weichen Herzen: Er widerspricht in einer Nebenszene des Filmes der Auffassung, dass auch die Familie und die Nachbarn von Kollaborateuren getötet werden sollten.

Khaled ist ein Mensch voller Ungeduld: Er ist schon genervt, wenn bei der Aufzeichnung des Märtyrer-Videos die Technik nicht richtig funktioniert.

Khaled, der kaum seine Waffe richtig halten kann, offenbart sein von zivilen Interessen angekränkeltes Herz, als ihm inmitten der heroischen Videoaufzeichnung die Wasserversorgung für seine Mutter in den Sinn gerät. Immer wieder folgt er seinen verrückt-emotionalen Eingebungen und scheint somit für das „Große“ einfach nicht geschaffen zu sein.

Natürlich hätte der Regisseur gerade ihn, den kleinen Chaoten mit dem großen Herz, zum Sympathieträger des Filmes aufbauen können. Doch das Gegenteil geschieht: :

Khaled wird in der entscheidenden Phase des Films, als sich Said dem Verhör durch Organisationschef Abu Karam unterzieht, als unschlüssige Primadonna gezeichnet. Sein Gesicht ist durch eine Nasenverletzung entstellt, er reagiert mimosenhaft auch auf diesen Schmerz. Seine mentale Verfassung ist durch Unentschlossenheit charakterisiert: Er weigert sich, ohne Said die Frage nach der Fortsetzung der Suicide-Mission zu beantworten;

Der Regisseur hat Khaled als einen Schwächling und einen Versager ins Spiel gebracht, damit der wahren Märtyrer sich um so markanter von ihm abheben kann. Dies zeigt sich in der Schlussszene des Films: Hier werden alle Akteure – Jamal, Abu Karem, Suha, Saids Mutter und Said selbst – ein letztes Mal gezeigt: mit einem traurigen, strengen und gleichzeitig entschlossenen Gesicht. Aus dieser Gruppe von Menschen fällt nur Khaled heraus: Als Abtrünniger ist nur mit verheulter Schniefnase zu sehen.

Said hingegen wächst im Verlauf des Filmes über sich hinaus. Wenn auch sein Irrweg durch Nablus mit dem Bombergürtel am Leib, den er nicht entfernen kann, Elemente des Slapsticks enthält, bleiben seine Entscheidungen doch rational: Er versucht erst den Terrorchef und dann Khaled zu finden. Schließlich will er (vermutlich in Anbetracht der „demütigenden“ Tatsache, dass ein jüdischen Mädchen ihn vom Massenmord hatte abhalten können) am Grabe seines Vaters Selbstmord verüben. Weder Khaled noch Sura sind in der Lage, ihn aufzufangen und zu stabilisieren. Sein Selbstvertrauen gewinnt Said erst durch die Organisation zurück – eine Organisation, die in vielen Details an die Hamas erinnert. Die Funktionäre dieser Gruppe werden, soweit es Said betrifft, nicht negativ gezeichnet, sondern positiv. „Jamal ist immer willkommen“, sagt Saids Mutter über denjenigen, der Said für das Selbstmordattentat rekrutierte. So hat sich Jamal stets treu und ergeben um Saids Familie gekümmert, deren Oberhaupt als Kollaborateur vor vielen Jahren getötet worden war. Jamal wird uns zudem als ein Lehrer präsentiert. Wenn er im Film erklärt: „Ausbildung bedeutet Zukunft“, so könnte dies eine Parole aus dem laufenden Hamas-Wahlkampf sein. Said aber, der dieser Organisation angehört und sich mit seinem Mantra „Wenn Gott es will“ als ein Gläubiger erweist, entwickelt sich nach dem letzten Gespräch mit dem Chef seiner Organisation zur heldenhaften Verkörperung des islamistischen Shahid. Zuvor wird er wiederholt auf die Probe gestellt.

Seinen ersten Sieg erringt Said gegen den Fotografen, der ihn lächelnd aufnehmen will, obwohl sich das Lachen für einen wahren Kämpfer gegen Israel nicht ziemt. Saids Entscheidung folgt jenem „Lach-Verbot“, das die Charta der Hamas in Artikel 19 wie folgt formuliert: „All dies sind ernsthafte Fragen und keine spaßigen. Denn die umma im Djihad kennt keinen Spaß.“2 Der lebensfrohe Khaled, dessen Freude an Musik und Tanz aus islamistischer Perspektive einem Sakrileg gleichkommt, kann demgegenüber kein wirklicher Kader sein. Dies zeigt schon die kleine Szene, die seinem Tanzauftritt vorangeht: Khaled weist den kleinen Teejungen mit eben jener Handbewegung ab, mit der zu Beginn des Filmes der israelische Soldat die Grenzübergänger abwies. In dieser frühen Szene sind somit die wichtigsten Essentials der Kritik an Khaled aus islamistischer Sicht integriert: Er erscheint als ein individueller Spinner (Tanz) und Genussmensch (Musik), der sich vom Volk (Teejunge) entfernt hat und die Züge des Feindes (Handbewegung) kopiert.

Seinen zweiten und vielleicht wichtigsten Pluspunkt handelt sich Said mit seinem Widerstand gegen die Künste der weiblichen Verführung ein. Sein Sieg über die Sinnlichkeit erscheint um so imposanter, als der Film erkennen lässt, dass seine Distanz gegenüber der schönen Suha gegen eigene Zweifel erkämpft werden muss. Said besteht auch seine zweite Prüfung gegen die Weiblichkeit, als er der Versuchung widersteht, sich seiner Mutter zu zeigen. Stattdessen verlässt er sie stillschweigend und für immer. Welch’ ein Unterschied auch in dieser Hinsicht zu Khalid, der sich bereits durch sein erstes Gespräch mit Suha überreden und vom „großen Ziel“ abbringen lässt!

Sein drittes islamistisches Diplom erringt Said, als es in der nächtlichen Auseinandersetzung mit Suha um das Thema Kino geht. Im Gegensatz zu Suha, deren Person auch die Gefahr der Verführung durch westliche Kulturerzeugnisse, wie z.B. Filme, verkörpert, blickt Said nur auf einen einzigen Kino-Besuch zurück: Er besuchte es mit dem einzigen Ziel, das Kino in Flammen aufgehen zu lassen, was ihm und seinen Freunden auch gelang. Die regelmäßige Zerstörung von Kinos und anderen „Tempeln der Sünde“ gehört aber zur islamistischen Praxis, seit es Islamisten gibt.

Auch im Charakter ihrer Kommandoerklärungen wird der Kontrast zwischen Khaled und Said evident. Da gibt es einerseits die Szene, in der die Terrororganisation die testamentarischen Videos der beiden „Märtyrer“ inszeniert. Hier kommt in erster Linie Khaled zum Zuge. Er liest seine Erklärung ohne innere Bewegung vom Blatt ab und muss „zur Strafe“ erleben, wie man die von seiner Mutter vorbereiteten Brote vor seinen Augen verspeist. Said begründete demgegenüber seine Tatmotive erst in jener Szene, in der er gegen Ende des Films den Terrorchef Abu Karem von seiner Lauterkeit zu überzeugen sucht. Hier wird dem Kinopublikum mit suggestiver Eindringlichkeit das Selbstmordattentat als Notwendigkeit verkauft. Viele Filmkritiker haben sich darüber amüsiert, wie Regisseur Abu-Assad die Kommandoerklärung von Khalid in der zuerst genannten Szene persifliert. Als später aber Said seine Beweggründe in eine echte Filmkamera spricht, gibt es keine Panne, keine Verfremdung und kein bisschen Humor.

In der Schlussszene wird Said endgültig als der Sieger portraitiert. Er bringt es fertig, das emotionale Band zu zerreißen, dass ihn fast ein Leben lang mit Khaled verband und besteht so auch die schwerste der ihm vorgelegten Prüfungen. Said täuscht Khaled inmitten von Tel Aviv. Mit der Lüge, dass auch er die Selbstmord-Mission abbrechen wolle, schüttelt er den Zweifler, den Störenfried, die humane Instanz ab. Khaled durchschaut diesen Trick zu spät. Sein Lächeln, mit dem er in den Wagen steigt, schlägt im Bruchteil einer Sekunde in Raserei um. Wir sehen Said als denjenigen, der zuletzt lacht. Mit dieser Szene dürfte die unbewusste oder bewusste Bewunderung für die Hauptfigur ihren Höhepunkt erreicht haben. Said lacht über Khaled, weil er jetzt endlich sich selbst und die Insassen des Busses töten kann.

Anders, als von Henryk M. Broder angenommen, ist dieser Film in seiner Gegenüberstellung von Khalid und Said nicht ambivalent, sondern er ergreift Partei. Während Khaleds Weg im Unglück endet, überwindet Said alle Schwierigkeiten und erledigt die ihm aufgetragene Mission. Hany Abu-Assad führt keine jungen Männer vor, „die sich und anderen ein Rätsel bleiben.“ Stattdessen will er zeigen, dass nur „die Besten“ für das Priesteramt – den suizidalen Massenmord zur „Befreiung“ aller – geeignet sind.
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1 Henryk M. Broder, Das Paradies in der Hölle, in: Der Spiegel 39/2005.

2 Matthias Küntzel, Djihad und Judenhass, Freiburg 2002, S. 110.