Butler rennt

Von Matthias Küntzel

Hamburg, den 13. September 2012

„Lola rennt“, heißt der Spielfilm von Tom Tykwer mit Franka Potente in der Hauptrolle. Der Film zeigt dreimal dieselbe Zeitspanne von zwanzig Minuten, in denen Lola rennt, jedes Mal mit kleinen Detailunterschieden, die die Handlung zu einem jeweils anderen Ausgang führen.

An diesen Film musste ich denken, als ich Judith Butlers dritten Rechtfertigungsversuch, diesmal in der Taz, sah. Dreimal mussten wir erleben, wie die Moralphilosophin vor dem eigenen Spiegelbild wegzurennen sucht: Am 30. August 2012 in der ZEIT, am 1. September in der Frankfurter Rundschau und am 11. September, dem Tag, an dem ihr der Adorno-Preis überreicht wurde, in der Taz.

Ihr Spiegelbild – das ist die Videoaufzeichnung eines Teach-Ins an der Universität Berkeley, in der Judith Butler zwei Fragen aus dem Publikum erwiderte und zu Hamas und Hisbollah Stellung nahm. Ich habe den Ausschnitt dieser Aufzeichnung, um deren Interpretation ihre drei Artikel kreisen, transkribiert und übersetzt.

Der Ablauf …

Studentin 1: „Ich möchte diese Frage an Prof. Judith Butler richten. Ich würde mich freuen, wenn Sie sich zur Bedeutung der Hisbollah und Hamas äußern könnten. Ich denke an den Beginn dieses Jahres, speziell als Hamas vom palästinensischen Volk demokratisch gewählt wurde und ebenso die Hisbollah – das libanesische Volk unterstützt sie heute in ihrem bewaffneten Widerstand. Aber dennoch gibt es innerhalb der Linken oder bei unseren Antikriegs-Aktivisten oder Intellektuellen immer diese Art von Verurteilung und Zögerlichkeit, diese beiden Gruppen wegen der gewaltsamen Komponente ihrer Widerstandsbewegung zu unterstützen. Richtet unsere Unfähigkeit oder unser Zögern hinsichtlich der Unterstützung dieser Gruppen nicht mehr Schaden als Nutzen in der Solidarität mit diesen beiden Gruppen an?“

[Beifall.]

Studentin 2: “Dies ist meine Frage: In den Medien werden Hamas und Hisbollah oftmals als Kräfte der Selbstverteidigung dargestellt, jedoch auch als Kräfte, die Israel von der Landkarte radieren wollen, wie es die Medien oft darstellen. Hisbollah und Hamas und der iranische Präsident wollen Israel von der Landkarte radieren. Ist dies nun eine tatsächliche Bedrohung oder ist dies eine Täuschung durch die Medien?”

In ihrer Antwort geht Butler zunächst auf eine zuvor gestellte Frage nach der „Israel-Lobby“ und dann auf die zitierten Fragen ein:

Butler: „Ja, ich glaube, es ist extrem wichtig, Hamas und Hisbollah als soziale, progressive Bewegungen zu verstehen, die zur Linken gehören, die Teil der globalen Linken sind. Das hält uns nicht davon ab, gegenüber gewissen Dimensionen beider Bewegungen kritisch zu sein. Dies hält diejenigen von uns, die an gewaltloser Politik interessiert sind, nicht davon ab, die Frage aufzuwerfen, ob es neben der Gewalt noch andere Optionen gibt. … Dies ist eine kritische wichtige Auseinandersetzung. Ich bin überzeugt, dass dies in die Konversation innerhalb der Linken eingeführt werden sollte.“

und dessen Wiedergabe

Soviel zu dem, was tatsächlich stattgefunden hat. Wie aber stellt Judith Butler diese Episode im Nachhinein dar? Ich zitiere im Folgenden aus ihrem Beitrag in der Taz:

Jemand aus dem Publikum hatte mich gefragt, ob Hamas und Hisbollah Teil der globalen Linken wären. Darauf antwortete ich, dass Antiimperialismus ein Charakteristikum beider Gruppen sei. In diesem Sinne könne ihre Position als links bezeichnet werden.

Jede dieser Aussagen ist falsch. Erstens fragte sie niemand, ob Hamas und Hisbollah Teil der globalen Linken wären. Zweitens kommt der Begriff „Antiimperialismus“ in ihrer Antwort nicht vor.

Butler fährt fort: Ich bin überzeugt, dass Kritik an meiner Äußerung von der Annahme herrührt, ich hätte gesagt, Antiimperialismus sei als Voraussetzung ausreichend, um der globalen Linken anzugehören.“ Antiimperialismus aber sei „weit davon entfernt, um auch nur irgendeiner Version von Linkssein zu genügen.

Butler spekuliert in einem imaginären Raum. Sie behauptet, ihre Kritiker hätten eine Aussage falsch verstanden, die sie in Berkeley nie getätigt hat, während sie mit ihrer tatsächlichen Aussage so umgeht, als habe es diese nie gegeben. Sie übermalt die Videoaufzeichnung mit fiktiven Worten und macht den faktisch gefallenen Wortwechsel unsichtbar.

Butler weiter: Ich dachte in diesem Moment gemeinsam mit meinem anonymen Gesprächspartner darüber nach, ob dieser Organisationen als welche betrachtet werden können, die einen Bezug aufweisen zu unserem verbliebenen (und wahrscheinlich verkümmerten) Vokabular, mit denen sogenannte linke Bewegungen beschrieben werden.

Auch dies hat mit der Realität wenig zu tun. Eine von Butlers „anonymen Gesprächspartnern“ wollte wissen, ob Hamas und Hisbollah Israel auslöschen wollen oder nicht. Butler verweigerte ihr die Antwort. Die andere wollte wissen, ob die Linke diese Gruppen entschiedener als bisher unterstützen solle, ohne sich auf deren Charakterisierung weiter einzulassen. Es war Butler allein, die auf die Idee kam, Hamas und Hisbollah als „progressiv“ einzustufen und die es zugleich „extrem wichtig“ fand, dass auch andere begreifen, dass diese Organisationen „zur Linken gehören, … Teil der globalen Linken sind.“

Butler weiter: Rückblickend gesehen, hätte ich den Begriff, der mir aus dem Publikum heraus vorgeschlagen wurde, zurückweisen müssen. Es gibt keine ,globale Linke‘, das hätte ich einfach sagen sollen.

Schiere Phantasie! Nicht das Publikum, einzig sie selbst hat den Begriff „globale Linke“ verwandt.

Butler fährt fort: An diesem Abend, an dem Bomben auf Südlibanon fielen, machte ich mich in meiner Rede für Gewaltfreiheit stark (diesen Teil sieht man im Yahoo-Clip bequemerweise nicht). Just als ich die staatliche, von Israel ausgehende Gewalt kritisierte, wies ich darauf hin, dass auch die Bewegungen, welche die Selbstbestimmung der Palästinenser unterstützen, gut beraten wären, ebenfalls auf gewaltfreien Widerstand und gewaltfreie Mobilisierung zu setzen.

Die 18-minütige, von einem Manuskript abgelesene Rede, von der Butler hier spricht, ist in einem anderen Youtube-Clip dokumentiert. Diese Videoaufzeichnung ihrer Rede macht klar, dass Butler auch in diesem Punkt die Realität maskiert. Das Wort „gewaltfrei“ kam in ihrer Ansprache, die in grotesker Einseitigkeit einzig und allein Israel aufs Korn nahm, nicht vor. Hisbollah und andere pro-palästinensische Bewegungen wurden mit keiner Silbe kritisiert, sondern ganz im Gegenteil gegen „zynische“ Vorwürfe in Schutz genommen.

Meine Anmerkung gehört zu mir

Butlers erklärte: Ich denke nicht, dass meine Anmerkung [„Ich glaube, es ist extrem wichtig, Hamas und Hisbollah als soziale, progressive Bewegungen zu verstehen, die zur Linken gehören, die Teil der globalen Linken sind“] verstanden werden kann, wenn man sie isoliert. Nichtsdestoweniger gehört sie nun zu mir und zu meinem Namen.

Welch selbstgerechter Unsinn! Butler konstruiert hier einen Determinismus, den es nicht gibt. Denn es liegt einzig an Butler selbst, zu entscheiden, was zu ihr und ihrem Namen gehören soll, und was nicht. „Hamas und Hisbollah als soziale, progressive Bewegungen“ – das überschattet Butlers Namen nur deshalb, weil sie sich auch in ihren jüngsten drei Artikeln weigert, ihre Einschätzung von 2006 zu revidieren. Man kann aber einen Fehler nicht revidieren, solange man ihn als Faktum nicht einmal anerkennt.

Doch zu dieser Wahrhaftigkeit ringt sich die Philosophin, die ansonsten den Eindruck erweckt, sie würden den „überaus jüdischen Wert ,die Welt zu reparieren‘ (Tikkun)“ verkörpern, nicht durch.

„Wahrheit ist die Übereinstimmung von Sprache und Wirklichkeit“, hat Max Horkheimer, der Weggefährte Theodor W. Adornos, postuliert. Ist es erheblich, dass Judith Butler da, wo es um ihr eigenes Verhalten, ihre eigene Rolle in einem bestimmten Kontext geht, die Unwahrheit sagt?

Ich glaube schon. Denn es ist ein Unterschied, ob jemand in dem Bewusstsein flunkert, dass ihm ohnehin niemand auf die Schliche zu kommen vermag oder ob jemand auch dann die Unwahrheit sagt, wenn der Tatbestand des Flunkerns klar und deutlich zutage liegt.

Bei Butler ist das Zweite der Fall. Sie glaubt, sich in ihrem akademischen Milieu darauf verlassen zu können, dass jeder, der nicht als dumm gelten will, sie hofiert. Sie ist davon überzeugt, dass niemand heute den befreienden Ausruf „Der Kaiser ist nackt!“ riskiert. Und sie hat Recht! Hans Christan Andersens Märchen von „Des Kaisers neue Kleider“ liefert die Vorlage, der die Geisteswissenschaft in Deutschland sich heute anzugleichen bemüht.

Während aber Judith Butler dreimal losläuft, um ihrem eigenen Spiegelbild zu entkommen und ihrem Publikum im letzten Moment vor der Verleihung des Adorno-Preises eine nochmals und nochmals übermalte Version zu präsentieren, ging es der Lola in Tykwers Spielfilm tatsächlich um „Tikkun“ – Lola rennt nicht, um sich selbst, sondern um das Leben ihres Freundes zu retten.

Der Filmmitschnitt von der Diskussion in Berkeley findet sich unter dem Titel „Berkeley Teach-In Against War – Part VI – Questions“ bei Youtube oder hier .

Butlers Vortrag Judith Butlers ist hier dokumentiert.